Am Schreibtisch

Von Jörg Albrecht

Der freie Journalist mag fleißig sein, schnell, sogar brillant. Nur eines ist er nicht: frei.

Zwischen Autopsie und Autoradio steht im Wörterbuch der Autor. Mit viel Glück steht er außerdem irgendwo im Impressum und hat im Verlag sogar ein Zimmerchen, Stockwerk Sibirien. Der angestammte Platz eines Autors aber ist sein Schreibtisch. Da sitzt er und bohrt in der Nase. Bis das Telefon klingelt. Immer fängt es harmlos an. "Akademie für Technikfolgen, Doktor Schnell, guten Tag!" Ob man nicht, ja, er wisse schon, aber in diesem Fall, ausnahmsweise, einen klitzekleinen Beitrag? Wäre auch egal, was drinsteht: Gentechnik im Spannungsfeld zwischen Ethik und Aberglauben. Oder so. Um den 15. herum. Wie? Ja, natürlich, ein kleines Problem, allzu viel könne man nicht zahlen. Aber der Vertrag geht heute noch raus.

Vertrag kommt. Geld bleibt aus

Folgen sechs Monate Funkstille. Draußen, in der tobenden Welt der Wirtschaft fusionieren Verlage, werden Synergiekräfte gebündelt, da gerät schon mal das eine oder andere in Vergessenheit. Gentechnik im Spannungsfeld? Das Projekt ist längst gestorben. Doktor Schnell? Nie gehört den Namen. Zwischen Vertragsabschluss und Vertrauensseligkeit steht im Lexikon der Vertragsbruch. Es gibt Verlage, die drucken spezielle Werkverträge in Hellgrau, sechs Punkt kursiv unleserlich. Damit man sie nicht seinem Anwalt faxen kann. So viel zum deutschen Verlagswesen.

“Nageln Sie sich’s aufs Klo!”

Dann sind da ferner die Edelblätter und die Kundenzeitschriften. Zahlen gut, aber stellen bisweilen Ansprüche, Man weiß nie, genau, welche. Mit fünftausend Euro ist der Autor jedenfalls dabei. Und wenn es für Bill Gates persönlich wäre. Es vergehen in diesem Fall keine vierzehn Tage, da meldet sich unerwartet schon der Auftraggeber. Er wolle mal nicht lange drum herum reden. Der Text sei zwar hinreichend kritisch, aber der Schluss scheine ihm nicht optimal. Zum Mittelteil habe er mehrere Fragen. Und mit dem Einstieg gehe das überhaupt nicht. Man müsse das Thema positiver besetzen. Dichter rangehen. Schneller zur Geschichte kommen. Das wären so seine Vorschläge. Die Menschen kämen übrigens auch ziemlich blass rüber. Mehr Analyse, das wär's. Und nicht die Fakten vergessen.

Die Ziffer fünf vor Augen, gefolgt von drei fetten Nullen, holt der Autor tief Luft. "Nageln Sie sich die Geschichte doch aufs Klo!", will er rufen. Atmet wieder aus. Und sagt: "Okay, bis wann?"

Okay, bis wann?

Wie viel, bis wann, worüber? Das sind die drei großen W-Fragen, die der Autor im Schlaf stellen kann. "'tschuldige die Störung, aber könntest du vielleicht 'ne kurze Glosse schreiben?" Worüber? Über die neue WTO-Richtlinie zum Gatt-Abkommen betreffs Bt-Mais? Aber gern, und bis wann? In Fällen wie solchen kann man davon ausgehen, dass die Redaktion "vorgezogene Termine" hat, mit anderen Worten: Morgen früh um elf. Der Autor schluckt, packt die Lammkeule zurück in die Tiefkühltruhe, macht sich ans Werk, liefert die Glosse, wenn auch in fragwürdigem Zustand, eine halbe Stunde vorm vereinbarten Zeitpunkt ab, sackt am Schreibtisch zusammen und wartet. Sitzt da, raucht, trinkt Kaffee. Ruft die Störungsstelle der Telekom an. Irgendwelche Kabelausfälle? Nein, es will nur niemand mit dem Autor telefonieren. Speziell die Redaktion nicht.

Im schwarzen Loch

Die Redaktion ist in ein tiefes schwarzes Loch gefallen, welches "Konferenz" heißen kann oder "Gespräch auf der anderen Leitung" oder "Umbruch". Drei Aggregatzustände einer Redaktion kennt der Autor aus Erfahrung: Niemand hat das Manuskript gelesen. Einer hat das Manuskript gelesen. Alle haben das Manuskript gelesen. Fall eins ist der häufigste, Fall zwei der glücklichste, Fall drei der fürchterlichste. Denn im Fall drei halten alle zusammen den ganzen Schmarrn für undruckbar, bloß findet sich niemand, der dem Autor die traurige Botschaft schonend beibringen will. Während im Fall zwei der zuständige Redakteur das Ding ("hübsche Glosse übrigens") ohne Umschweife ins Blatt gehoben hat und sich allenfalls mäßig darüber wundern kann, dass dem Autor die Regel “No news is good news “nicht bekannt ist. Im Fall eins ist noch offen, ob im Anschluss Fall zwei oder Fall drei eintritt.

Nächste Woche, morgen, sofort

Zum festen Repertoire eines Autors gehört es, sich ab und an in einer Redaktion blicken zu lassen. Bemerkungen dergestalt, er sei ja ziemlich "braun gebrannt" oder wirke "irgendwie ausgeruht", ignoriert er und stimmt sein bekanntes Klagelied an: Allzeit bereit. Aber bitte beim nächsten Mal rechtzeitig! Ein unerbittliches Naturgesetz lautet: Je länger ein Druckerzeugnis geplant wird, desto kurzfristiger sind die Abgabetermine. Eine Tageszeitung will den Text nächste Woche, eine Wochenzeitung morgen, eine Monatszeitschrift sofort. Auch wenn das Programm schon zwei Jahre im Voraus feststeht.

Nur Jungredakteuren unterläuft zu Beginn ihrer Karriere der Fehler, kommende Ausgaben zu planen wie Admiral Nelson die Schlacht am Trafalgar. Also Anfang Januar beispielsweise ein Manuskript für Mitte Mai zu ordern. Denn dann geschieht zwangsläufig Folgendes: Der Autor vergräbt die Geschichte in der hintersten Schublade seines Gedächtnisses und wendet sich auf der Stelle Dringenderem zu. Es vergeht der Februar, der März, der April; Anfang Mai ist der Autor wie stets mit drei zusätzlichen Aufträgen im Verzug, und der erste, den er abzubiegen versucht, ist logischerweise der, der am längsten zurückliegt. Kann nicht wirklich wichtig gewesen sein. Vielleicht ist das Blatt ja inzwischen auch eingegangen oder hat einen neuen Chefredakteur/Herausgeber/Besitzer.

“Dann dichten Sie mal schön!”

Dabei lehrt die Erfahrung nur eines: Je öliger die Dithyramben, desto gnadenloser fällt nachher das Missverhältnis zwischen Aufwand und Ertrag aus. Nur ein bisschen Text sei umzustricken, die Geschichte der bemannten Weltraumfahrt, quasi mit links, keine große Sache, für einen Autor wie IHN (der inzwischen so weich in der Birne ist, dass er nicht einmal mehr auf die nahe liegende Frage kommt, warum das in diesem Fall nicht irgendein anderer Trottel erledigt). Und richtig, am Ende hat er zwölf ausgewachsene Folgen am Hals, ist betreffs des Themas vollkommen ahnungslos, dafür in Erwartung eines Honorars, welches den Verdacht der Finanzbehörde schürt, es handele sich um Liebhaberei statt um steuerrechtlich relevante Berufstätigkeit. Passend auch die Formulierung: "Dann dichten Sie mal schön!", die gern als launiger Abschluss solcher Quisquilien verwandt wird.

Moderner Journalismus geht natürlich anders. Fit for Tomorrow verlangt der Markt, keine Wanderungen durch die Mark Brandenburg . Ein Morgenblatt für gebildete Leser würde einen Copytest nicht bestehen. In Umfragen sagt der Leser, was er glaubt, was er lesen will. Das sagt anschließend der Chefredakteur dem Redakteur, und der sagt es dem Autor. Man nennt es Briefing. Brief heißt auf Englisch so viel wie kurz angebunden, schroff, ein Briefing ist typischerweise eine militärische Anordnung. Der Autor fährt am besten, wenn er das Briefing seiner Redaktion im ursprünglichen Sinne als ein Breve auffasst, also als ein Schreiben des Papstes in einfacherer Form, damit es auch der Laie versteht.

Man nennt es Briefing

Ausgerüstet mit dem Briefing, die Natur der vorpommerschen Boddenlandschaft zu schildern, kann der Autor beispielsweise feststellen, dass sich dort ein Truppenübungsplatz, eine Rinderkolchose, eine Staatsförsterei sowie Zehntausende von Campingurlaubern breit gemacht haben. Sein Stück ist aber schon fest eingeplant, und zwar unter der Rubrik "Unberührtes Deutschland". Okay, bis wann und wie viel?, fragt der Autor. Es ist nun mal so: Der Mensch lebt nicht vom Ausfallhonorar allein.

Eines der ärmsten Schweine unter den Autoren war bis ins hohe Alter Fontane. Schrieb Zeitungsprosa auf Bestellung, zehn Jahre lang allein kupferte er in Berlin ausländische Blätter für die Neue Preußische Zeitung ab. Seinen Nachruf hat er zu Lebzeiten verfasst: "Bei Kälte, Schnee und Julihitze, er war der Mann stets an der Spritze. Er schrieb und schrieb sich auf den Hund, nun ist er dod - endlich gesund."

Prometheus lässt grüßen

Der Autor hat es nicht anders gewollt. Hätte er es anders gewollt, wäre er Elektriker geworden. Oder Apotheker. Oder Eisenbahnschaffner. Stattdessen sitzt er da, geschmiedet an seinen Schreibtisch wie einst Prometheus an den Fels des Kaukasus, und wartet auf den nächsten Anruf, der mit zauberischer Sicherheit kommt wie der Gesang der Sirenen (Homer, Odyssee, 12, 38 ff.): "Wir hätten da ein wunderschönes Thema für Sie ..."

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