Mies drauf

Deutschland ist angeblich das Land, in dem die Gallensäfte fließen. Eine zeitlose Betrachtung.

Von Jörg Albrecht

Als Alan Freeman, damals frisch gebackener Korrespondent der kanadischen Zeitung The Globe and Mail, sich mit deutschen Sitten und Gebräuchen vertraut machte, bekam er gleich den ersten Dämpfer. Eiswaffeln für seine Kinder wollte er kaufen, in Lübbenau, an einem Sonntag um halb fünf. Er war endlich an der Reihe, da schloss die Verkäuferin ohne ein Wort des Bedauerns den Laden. Noch schlimmer ging es seiner Frau im Supermarkt: Weil sie kein Wechselgeld parat hatte, lehnte sich die Kassiererin vor und kramte unaufgefordert in Frau Freemans Portemonnaie herum. Am Käsestand bekam sie gar eins auf die Finger, weil sie es gewagt hatte, die Ware zu betatschen. Alan Freeman zog seinen Schluss: ,,Der Kunde ist in Deutschland Sklave", ließ er seine Leser wissen.

Richtig neu ist der Befund nicht. Über die muffeligen Deutschen zu meckern gehört zur guten Tradition des Korrespondentenwesens: ,,Überall Warteschlangen an den Kassen, übellaunige Verkäufer" (Los Angeles Times); ,,Die deutsche Krankheit" (Newsweek); ,,Wer kauft noch bei den hässlichen Deutschen?" (International Herald Tribune). Der Bonner Bürochef der Washington Post, Marc Fisher, schrieb ein ganzes Buch über das Thema und zitierte einen Gewährsmann: ,,Von dem Augenblick an, in dem das Flugzeug den Boden berührt, empfinde ich Bedrückung. Die gerunzelten Stirnen, die Vorschriften, die Unfreundlichkeit - das zusammen nimmt dir deinen Lebensmut."

Sind wir wirklich so schlimm? Man muss mehr als ein ganzes Jahrhundert zurückgehen, um aus dem Munde eines Ausländers ein freundliches Urteil zu finden. ,,Die Straßenbahnschaffner trugen hübsche Uniformen, und ihr Benehmen war nicht weniger fein als ihre Kleidung", beobachtete Mark Twain in Frankfurt, der obendrein beim Einkaufen nur die allerbesten Erfahrungen machte. Und auch Madame de Stael, die 1803 zu einer Deutschlandreise aufbrach, fand seinerzeit noch alles reizend und schön und geriet darüber ins Schwärmen.

Doch heute? Von der „Poesie der deutschen Seele" ist schon lange keine Rede mehr. Statt dessen von Flegelei, Unhöflichkeit und rüden Manieren, die das öffentliche Leben durchtränken wie Essig den Sauerbraten. Den Umgangston prägt beileibe nicht nur der berüchtigte Berliner Taxifahrer. Auch Politiker gehen stilbildend voran, wenn sie unliebsame Fragesteller rüffeln und maßregeln, als wollten sie sagen: Aus welchem Schweinestall sind eigentlich Sie gekrochen?

Für alles das muss es Gründe geben.

Gibt es.auch. Zunächst die Sprache. Jenes Starkdeutsch, das Martin Luther mit seiner Bibelübersetzung hinterlassen hat. Der Magister, ein Mann von „grobianischer Vitalität“ (Hans Mayer), agierte zeitlebens als Elefant im Porzellanladen. Obwohl er wusste dass nichts schwerer vergeben wird als eine Beleidigung, teilte er immerfort aus, getreu der Überzeugung, dass ein verzagter Arsch keinen mannhaften Ton hervorbringt. Klotz auf Keil, das Luthersche Idiom lädt geradewegs dazu ein. .

Eleganz und Finesse sind mit germanischen Ausdrucksmitteln schwerlich zu erlangen; allenfalls läuft der Betreffende Gefahr, auf dem falschen Parcours zu galoppieren. ,,Wenn der Deutsche graziös sein will", hat de Gaulle einst erkannt, ,,springt er aus dem Fenster." Nicht umsonst darf man sich, wenn es heißt, jetzt müsse mal deutsch miteinander geredet werden, darauf einstellen daß die Temperatur im Raum steigt und über ein kurzes des Reichsritters Götz von Berlichingen gedacht wird.

Möglicherweise liegt das an einer gewissen Begriffsstutzigkeit. Wer hierzulande still und fein daherkommt, auf den wird eben nicht gehört. Grobheit und Geräuschentfaltung sind integrale Bestandteile des deutschen Diskurses. Aber so what? Wirft man der Fliege etwa vor,, dass sie brummt, dem Eber, dass er grunzt, dem Hirsch, dass er röhrt? Das Derbe immerhin den Vorzug des Eindeutigen. Ein japanischer Tourist wird zwar kaum verstehen, dass er beispielweise auf die Frage, wo es hier zum Bahnhof geht, die unverblümte Auskunft „Keine Ahnung!" erhält. Aber wäre wirklich viel gewonnen, wenn der Deutsche sich seinerseits wortreich und unter zahllosen Ausflüchten entschuldigte? Seine Logik sieht das nun einmal nicht vor. Ein Ja ist ein Ja, ein Nein ein Nein - was soll daran verkehrt sein? Für den Fall, daß er sich irrt, wird er andererseits auch nicht auf der Stelle Seppuku begehen. Denn so prinzipientreu, wie man ihnen das nachsagt, sind die Deutschen bei näherem Hinsehen nicht.

Auch nicht so humorlos. Die Frage lautet wiederum, ob daraus gleich ein Vorzug erwächst.

Ein Beispiel aus dem Volksschatz: Dem Schwaben liegt sein Weib im Sterben, es röchelt seit vier Uhr in der Früh, und nun geht es bereits auf den Feierabend zu. ,,Alderle", flüstert sie mit letzter Kraft, ,,kennscht mer no e bissle von dem Zibebewei gebe, weischt, von dem sieße?" Darauf er: ,,Ha no! Nix. Jetzt wird geschtorwe." In Bayern, auf der Kirchweih, wenn die Stimmung richtig in Fahrt kommt, heißt es zu vorgerückter Stunde gern: ,,Sakrisch lustig, heut' muss noch einer hin werden!" Im Humor, siehe Wilhelm Busch, kommt die Tücke des Deutschen zum Vorschein. Je seltener sich das äußert, desto besser.

Oder nehmen wir die Sache mit den Vorschriften: Das haben wir schon immer so gemacht; das haben wir noch nie so gemacht; da könnte jetzt jeder kommen! Dahinter steckt das tiefe Misstrauen des Deutschen, geboren aus eigenem Charakter. Wer sagt ihm denn, was alles unter einer glatten Oberfläche lauem könnte: ,,Hast du einen Freund hienieden, trau ihm nicht zu dieser Stunde, freundlich wohl mit Aug und Munde sinnt er Krieg im tückschen Frieden" (Eichendorff). Wozu Liebenswürdigkeit? Ein galanter Verkäufer erweckt den Anschein, als ginge es ihm nur ums Geschäft. Ein gutgelaunter Handwerker nimmt es mit Sicherheit nicht so genau mit der Arbeit. Ein sturer Zollbeamter dagegen - der wird den Passstempel schon richtig prüfen.

Das hat ja auch sein Gutes. Lebten wir im Land des Lächelns, keiner würde sich mehr auskennen. Wo kämen wir denn da bin?

Die Frage ist gar nicht so theoretisch. Als die Deutsche Bundespost noch Deutsche Bundespost hieß, war die Zahl ihrer technischen Vorschriften Legende, die Auswahl an Spielereien hingegen minimal. Festnetztelephone wurden damals geliefert, angeschlossen und basta. Heute gibt es stattdessen Handys für alle Lebenslagen sowie eine Aktiengesellschaft namens Telekom. Wenn man etwas von ihr will, heißt es zuvorkommend: ,,Guten Tag, was kann ich für Sie tun?" Bloß im Endeffekt ist das reine Heuchelei. Man kann Stunden um Stunden in der Hotline verbringen und wird doch nur von einem inkompetenten Sachbearbeiter zum nächsten verbunden. Im Zweifel wird einem ein neuer Router angedreht; anschließend viel Spaß mit der Installation.

Jede Anstrengung, deutschen Ingenieuren Allgemeinverständnis nahezubringen, jeder Versuch, deutsche Beamte mit dem Dienstleistungsgedanken zu behelligen muss kläglich scheitern. Was nicht heißt, dass es nicht versucht wird. In Ehren ergraute Bahnschaffner müssen Fahrgästen der ersten Klasse zum beiderseitigen Missvergnügen Kaffee servieren. Bei Siemens, Krupp, Daimler oder Volkswagen kommen sie kaum noch hinterher mit der Kundenfreundlichkeit; in Wirklichkeit hat das Management längst kapituliert angesichts der lächelnden Konkurrenz aus dem fernen Osten.

Man ahnt schon, worauf das hinausläuft. Mit den deutschen Sekundärtugenden Fleiß, Effizienz und Ordnung ist kein Blumentopf mehr zu gewinnen. Dafür tun ersatzweise alle so, als seien sie voll Optimismus. Alles klar! Null Problem! Machen wir! Ein einziger rheinischer Spaß. Statt der täglichen Stoffeligkeit hat landauf, landab eine „gewisse fröhliche Primitivität" um sich gegriffen (Thomas Mann). Dahinter darf man wenig Gutes vermuten.

Denn der Fuchs verkehrt wohl seine Haut, heißt es, nicht aber sein Gemüt. Aus seinem Seelenzustand kommt der Deutsche nicht so leicht heraus. Die sogenannte Gemütlichkeit ist nicht seine wahre Natur, sie liegt nur wie ein Firnis darüber...Das Wort allein", schrieb Ernst Nobbe, Generalintendant des Deutschen Nationaltheaters zu Weimar 1933 im Völkischen Beobachter, ,,jagt unseren Feinden einen geheimen Schrecken ein." Zu Recht, wie sich herausgestellt hat. Den zweiten Teil seiner Ausführungen - ,,uns selbst aber gibt es durch ewige Zeiten hindurch die Ahnung des Wunderbaren" - möchte man nicht so stehen lassen.

Uns selbst gibt das deutsche Gemüt vielmehr durch alle Zeiten hindurch die Ahnung, daß wir einfach zu spät gekommen sind, als der Charme und die Grazie verteilt wurden. Dafür straft das Leben. Und um diese Ungerechtigkeit auszugleichen, lassen wir jeden, der ein bisschen anders daherkommt, haargenau spüren , was wir von ihm halten .

Sitzt im Zug von Kaufbeuren nach Immenstadt ein Fahrgast. Steigt ein neuer zu. ,,Sie!" - ,,Ja bitte?" - ,,Sie sind doch nit von Obergünzburg?" _ .,Nein." - .,Ond von Marktobersdorf sind Sie au nit?" - ,.Nein." - ,,Drum!"

Deutschland bleibt das Land wo die Gallensäfte fließen. Das macht uns alle auf die Dauer nervös. Wie gern genössen wir die angenehme Leichtigkeit des Seins! Allzeit locker hätte sich der Deutsche doch selbst am liebsten. Schließlich war er inzwischen viel im Ausland, hat mehr als ein halbes Jahrhundert lang keinen Krieg mehr geführt und demzufolge allen Grund, mit sich und der Welt gelassen umzugehen. Aber nix da, noch immer tickt die Kuckucksuhr: Außen Schwarzwaldfassade, drinnen die Unruhe, und ab und zu springt einer raus und erschreckt die Leute.

Andere halten das vielleicht für schlechte Manieren. Tatsächlich ist es Unsicherheit. Unsicherheit resultiert aus der Angst. Und Angst hat der Deutsche vor diesem und jenem, eigentlich aber vor Allem..,Was macht ein Volk",fragt der Franzose Bernard Nuss („Das Faust- Syndrom"), „für das die Risiken einer Handlung immer deutlicher hervortreten als der Nutzen, den man aus ihr ziehen kann?" Es si- chert sich gegen alles ab.Im wörtlichen wie im übertragenen Sinn. Komme keiner damit, fünfe gerade sein zu lassen. Der deutsche Autofahrer zum Beispiel fährt bekanntermaßen riskant. Aber im Kof- ferraum, hat Nuss beobachtet,führt er alles mit, was er eventuell brauchen könnte: Reservekanister und Werkzeugtasche für den Fall einer Panne; Warndreieck und Blinklicht, falls es brenzlig wird; Erste-Hilfe-Kasten, Thermosflasche mit Kaffee für den Stau und eine warme Decke, falls es schneien sollte; Kekse gegen den ärgsten Hunger. Selbst am hellichten Tag schaltet er das Abblendlicht ein, sobald nur ein paar Regentropfen fallen. Manchmal bringt er oben an der Heckscheibe ein zweites Paar Bremsleuchten an. Für den Deutschen geht es immer und überall um die nackte Existenz.

Die ist brüchig genug. Ein Grund mehr, dem Braten nicht zu trauen. Das ganze verstaubte Gerede vom ,,guten tollen Deutschen", vom „braven Bären", diesem „behaglichen, plumpen ordentlichen Kerl" (Friedrich Naumann) war nie etwas anderes als Gerede. Der gute Deutsche fürchtet sich tief in seinem Herzen. Davor, das die anderen dahinterkommen, dass er auch nur ein Schlawiner ist. Genauso wehleidig und durchtrieben und ungerecht und großspurig und anmaßend in seiner ganzen Schwäche wie all die anderen Kulturvölker. Zwar glaubt er, naturgemäß schlechten Gewissens, dass seine Anlagen tiefer und seine Bestimmungen höher seien. Doch weiß er es insgeheim besser. Daher der Selbstekel, der noch die treuesten seiner Verehrer erschüttert hat: .,Germania, mir graut vor Dir!" (Georg Herwegh) respektive „Was bin ich krank an meinem Vaterlande!" (August von Platen).

Zur guten Laune trägt das alles nicht besonders bei. .


Unfroh betrachten wir das Ergebnis der jüngeren Geschichte und stellen fest: Schon wieder nichts geworden mit dem Schlaraffenland. Hierin äußert sich die letzte Wurzel deutschen Missmuts - die er- staunliche Leichtgläubigkeit, mit der man trotz aller Ängste und Bedenken zu Werke geht. Jede andere Nation hätte in einer vergleichbaren Lage zumindest geargwöhnt, dass es nach der Wiedervereinigung mit den blühenden Landschaften so schnell nichts werden würde. Alles auf Haben verbuchen, nichts dafür zahlen, wo hat es das jemals gegeben? Aber Heidewitzka! Herr Kapitän! dachten alle, Weltmeister werden wir, und , und das mit links.

So ist das leider: Windige Versprechen schluckt der Deutsche gern. Wird daraus nichts, spielt er beleidigt. Damit, dass entsprechend auch die deutsche Einheit keine Welle schierer Lebensfreude auslösen würde, konnte man rechnen. Das Ausmaß an Miesepetrigkeit aber, das letztlich zutage trat, war verblüffend. Der Publizist Henryk Broder prophezeite im kollektiven Kater, daß die drohende „Verostung" Deutschlands die Deutschen noch rabiater machen werde, ihr Essen noch schlechter und die öffentlichen Verkehrsmittel noch verwahrloster, als es ohnehin der Fall. sei ,,Ausländer", orakelte er, seien damit „die letzten Garanten ziviler Umgangsformen"

Wenn die Deutschen einmal aufhören würden, sich gegenseitig auf den Wecker zu fallen, wäre schon viel gewonnen. Besonders entspannt ist die Stimmung zur Zeit wirklich nicht. Jeder rettet, was er kann. Das allgemeine Hauen und Stechen nach dem nächsten Finanzkrach mag man sich noch gar nicht ausmalen.

Könnte sich eines Tages alles ändern? Daß dieses Land wahre Tugenden entfaltet? ,,Anmut sparet nicht noch Mühe ..." (Bertolt Brecht). Oder gar am Ende, ,,daß wir uns alle liebhaben, damit unsere Zukunft schön werden kann" (Dr. Motte anlässlich der Berliner Love Parade 1997)?

Keine Angst. So weit muss es gar nicht kommen. Im Lande von Alfred, dem Ekel, ließe sich ganz gut leben.Wenn nämlich der Größenwahn verschwände, dass wir etwas Besonderes sind. Man soll mit einem Ackergaul keine Dressur reiten. Mit anderen Worten: Nicht auch noch versuchen, den Rekord an Warmherzigkeit und Güte zu brechen.

Wir sind nun mal, trotz Friedrich Hegel, Flegel. Solange niemand ernsthaft zu Schaden kommt. geht das in Ordnung.