Erben heißt sterben

 Kapitel I

Es war ein Herbstmorgen. Gerlach radelte in die Stadt. Die  Ernte war vorüber, auf dem Acker verrotteten die  Rübenblätter. Ein Pulk Saatkrähen hatte sich niedergelassen. Die Vögel pickten zwischen Zuckerrübenschnitzeln herum. Ab  und zu gerieten zwei in Streit um etwas, das Gerlach aus der  Entfernung nicht erkennen konnte. Wetten würde ich keine  abschließen, dachte er, daß die sich nicht die Augen  aushacken.

Ein Mann kam entgegengekeucht, mit blauem Trainingsanzug und  hochrotem Kopf. Jogger quälten sich hier gerne ab, auch wenn  sie unweigerlich auf ihre natürlichen Feinde, die  Hundehalter stießen. Als Gerlach auf die Waldgaststätte  "Friedrichs Ruh“ zusteuerte, überholte er eine Frau im  Morgenmantel und einen altdeutschen, schwarzen Schäferhund.  Manche Köter waren friedlich, andere unberechenbar -- dieser  haßte alles, was sich bewegte, und setzte sich bellend und  wadenschnappend in Galopp. Gerlach trat im Fahren mit dem  Fuß nach hinten und schrie der Besitzerin zu:


"Halten Sie  gefälligst Ihren Hund!“


”Der tut nichts", rief sie, wie alle Besitzer von bissigen  Schäferhunden, zurück.
Trotzdem pfiff sie. Der Hund ließ ab  und fiel zurück. Der Weg in die Stadt ging vorbei an Wäldchen und  verschlammten Karpfenteichen. Nach ein paar Kilometern kam  eine Schreberkolonie: der Anblick von Komposthaufen und  Bohnenspalieren, die jetzt im Spätherbst ordentlich unter  den krummen Apfelbaum gestellt wurden, hatte etwas  Beruhigendes. In den Kleingärten schien die Welt stehen geblieben zu sein. Die letzten hundert Meter führten unter Linden durch.  Abgefallene Blätter machten den Weg glitschig. Vorsichtig  fuhr Gerlach in die Einfahrt zur Druckerei. Der Pförtner  thronte in seiner Glasloge und betätigte den Schlagbaum wie  von einer Kommandobrücke. Vor ihm lagen, ordentlich neben  dem Telefon aufgereiht, Bildzeitung und Meldeblock. Er war  außerdem gehalten, einen scharfen Blick auf die Stempeluhr  zu werfen. "Morjen", sagte Gerlach. Der Pförtner nickte würdevoll im  Stil des Hauses, das vor Generationen gegründet worden war  und jetzt im einhundertachtunddreißigsten Jahrgang eine  Zeitschrift herausgab, die ursprünglich das geistige Leben  der Gegenwart erfassen sollte, womit es sich heute aus den  verschiedensten Gründen schwertat. Seit langem dümpelte das  Blatt mehr schlecht als recht durch die Presselandschaft.  Wie ein greiser Baum stand es da, aufrecht gehalten von  einem Gerüst aus Traditionen und gelegentlich späte Blüten  treibend, die dann von allen Seiten ratlos betrachtet  wurden. Gerlach kam grundsätzlich zu spät -- als freier Mitarbeiter  konnte er sich das leisten. Heute war es eine halbe Stunde.  Die Gründerväter blickten aus ihren Goldrahmen über ihn  hinweg wie über jeden, der nicht durch den Besitz einer  Stechkarte als vollwertiges Betriebsmitglied und Mensch  ausgewiesen war. So stieg Gerlach die Treppe zu seinem Büro  im ersten Stock empor ohne die Spur eines schlechten  Gewissen und im Bewußtsein, daß die Woche begann wie jede  andere. Sein Zimmer teilte er sich mit einer Kollegin, die sich im  Laufe von Jahren emporgearbeitet hatte und darauf stolz war.  Hanna und er kamen zurecht. Nur ihr Telefoniergebaren war  schwer zu ertragen -- wenn Autoren anriefen, konnte man leicht  den Eindruck bekommen, die Königin von Saba gewähre Audienz. Heute war wieder so ein Tag. Sie hing bereits am Hörer.  Seufzend sank Gerlach in seinen Sessel und studierte über  den Schreibtisch hinweg das Befinden der Grünlilie, die das  Büro verschönerte. Die Topfflanze sah so aus, als hätte sie  sich gelangweilt. Gerlachs Wochenende war bewegt verlaufen. Er hatte Ruhe  verdient. Also entschloß er sich zum Frontalangriff. Am Schreibtisch gegenüber spitzte Hanna ihren Mund zu einer  neuen Exaltiertheit. "Kannst du bitte mal für fünf Minuten  mit dem Geschnatter aufhören?“ fragte Gerlach so uncharmant  wie möglich in das Telefongespräch hinein, "und wenn du  schon dabei bist, kannst du dich um die Kaffeemaschine  kümmern.“ Hanna war für einen Moment sprachlos. Für den  Anfang nicht schlecht. Dann schnappte sie ein. Der arme  Mensch am Ende der Leitung hörte es noch auf der anderen  Seite des Atlantiks. "Faxen Sie's mal her", fauchte Hanna  ihn an, und schmiß grußlos den Hörer auf die Gabel. "Du hast wohl nicht alle Tassen im Schrank, oder? Eine  Unverschämtheit." Gerlach holte sein zerknirschtes Gesicht hervor: "Ich habe  schlecht geschlafen.""Das ist keine Entschuldigung. Was denkst du, wer du bist?" "Ich frage mich das auch manchmal. Immer häufiger sogar." So etwas nahm ihr die Luft aus den Segeln. Mit einem Rest  von Empörung stieß sie ihr Telefon von sich und verließ  türschlagend den Raum. Die Grünlilie winkte mit ihren  Ablegern im Luftzug hinterher. Gerlach griff in seine Aktentasche und zog die Lokalzeitung  hervor. Sie würde seine Laune nicht bessern, so viel stand  fest. Der redaktionelle Teil erinnerte ihn immer an  Braunkohl mit Bregen, das berühmteste Gericht der Gegend,  traditionell am Buß- und Bettag zu verzehren. In letzter  Zeit ertappte er sich dabei, daß er die Todesanzeigen  studierte. "Mein Gott, du wirst alt", dachte er, und schlug  die vorletzte Seite auf. Es sprang ihm förmlich entgegen,  eine halbe Seite hoch, sodaß er die Zeitung unwillkürlich  auf Armlänge von sich streckte: "Grete Eschenbacher, Herausgeberin und Geschäftsführerin  unserer Heimatzeitung, ist unerwartet von uns gegangen. Ihr  Tod läßt uns betroffen zurück. Als Bewahrerin der  Zielsetzung unserer Zeitung, unabhängiger Mittler zwischen  dem Tagesgeschehen und dem Leser zu sein, hat sie mit großem  Ernst das verlegerische Werk ihres Mannes fortgesetzt und  damit einen wesentlichen Beitrag zur Pflege der kritischen  Auseinandersetzung geleistet." Gerlach ließ das Blatt sinken. Eine Weile herrschte Ruhe im  Raum. Dann klingelte nebenan das Telefon , und er hörte, wie  Schulz, der Bildredakteur auf einen Fotografen einzureden  begann. Das Gemurmel drang undeutlich durch die Tür.  Gerlachs Telefon blieb still. Das tat es die meiste Zeit -- er  war zuständig für den Veranstaltungskalender, und der war so  wenig repräsentativ für das, was sich im Lande tat, daß sich  niemand dafür interessierte. Eschenbacher, durchforschte Gerlach sein Gehirn,  Eschenbacher ..., da war eine schwache Erinnerung. Also  griff er erneut zur Zeitung. Vorn fand er, was er suchte:  Ein schwarz umrandeter Kasten mit einem großen Foto, von dem  eine Frau in die Kamera lächelte, die jedermanns Tante hätte  sein können - ondulierte Haare, Perlenkette, gemustertes  Kostüm. Gerlach vertiefte sich in den Text: "Ein Schicksalsschlag traf uns alle unvermittelt,  unvorbereitet. Nun heißt es Abschied nehmen und danken für  eine gute, auch gegenteilige Standpunkte respektierende  Zusammenarbeit. Probleme hat es bei uns nie gegeben. Der  Ermessenspielraum freier Entscheidungen, gerade im  redaktionellen Bereich, gewährleistete jederzeit die  Vielfalt des Inhaltes der Zeitung in Nachrichten und  Meinungen." Das hieß wohl, dachte Gerlach, daß sich die Dame nicht  besonders um das Geschäft gekümmert hatte. Die Redaktion  hatte ungehindert vor sich hinwursteln können und war nun  sehr erschrocken. "Grete Eschenbacher hätte gern noch  manches Jahr diese Zeitung herausgegeben", hieß es weiter.  Das glaube ich gern, dachte Gerlach. Das Blatt war eine  Monopolzeitung, und Monopolzeitungen waren so gut wie die  Erlaubnis, Geld zu drucken. Jeder Anzeigenkunde im Verbreitungsgebiet mußte, ob er wollte oder nicht,  inserieren. "Das Schicksal hat es anders gefügt", hatte der  unbekannte Redakteur weitergedichtet, den seinerseits das  Schicksal getroffen hatte, diesen äußerst heiklen Nachruf zu  verfassen, "Ein Mensch, dem Leben mit Fröhlichkeit zugetan,  erst 57 Jahre alt, hat seinen Erdenweg beendet. Sie war eine  ungewöhnliche Frau: impulsiv und voller Tatkraft,  ausgestattet mit einem erstaunlichen Maß an  Menschenkenntnis, voller Hilfsbereitschaft, wo Hilfe nottat.  Wir haben mit unserer Verlegerin viel verloren." Gerlach klappte die Zeitung zu, kniffte sie der Länge nach  und warf sie in den großen Papierkorb. Es war Zeit für die  Konferenz.  

<Kapitel I>

Es war ein Herbstmorgen. Gerlach radelte in die Stadt. Die Ernte war vorüber, auf dem Acker verrotteten die Rübenblätter. Ein Pulk Saatkrähen hatte sich niedergelassen. Die Vögel pickten zwischen Zuckerrübenschnitzeln herum. Ab und zu gerieten zwei in Streit um etwas, das Gerlach aus der Entfernung nicht erkennen konnte. Wetten würde ich keine abschließen, dachte er, daß die sich nicht die Augen aushacken.<para160>

Ein Mann kam entgegengekeucht, mit blauem Trainingsanzug und hochrotem Kopf. Jogger quälten sich hier gerne ab, auch wenn sie unweigerlich auf ihre natürlichen Feinde, die Hundehalter stießen. Als Gerlach auf die Waldgaststätte „Friedrichs Ruh“ zusteuerte, überholte er eine Frau im Morgenmantel und einen altdeutschen, schwarzen Schäferhund. Manche Köter waren friedlich, andere unberechenbar -- dieser haßte alles, was sich bewegte, und setzte sich bellend und wadenschnappend in Galopp. Gerlach trat im Fahren mit dem Fuß nach hinten und schrie der Besitzerin zu: „Halten Sie gefälligst Ihren Hund!“<para160>

„Der tut nichts“, rief sie, wie alle Besitzer von bissigen Schäferhunden, zurück. Trotzdem pfiff sie. Der Hund ließ ab und fiel zurück.<para160>

Der Weg in die Stadt ging vorbei an Wäldchen und verschlammten Karpfenteichen. Nach ein paar Kilometern kam eine Schreberkolonie: der Anblick von Komposthaufen und Bohnenspalieren, die jetzt im Spätherbst ordentlich unter den krummen Apfelbaum gestellt wurden, hatte etwas Beruhigendes. In den Kleingärten schien die Welt stehen geblieben zu sein.

Die letzten hundert Meter führten unter Linden durch. Abgefallene Blätter machten den Weg glitschig. Vorsichtig fuhr Gerlach in die Einfahrt zur Druckerei. Der Pförtner thronte in seiner Glasloge und betätigte den Schlagbaum wie von einer Kommandobrücke. Vor ihm lagen, ordentlich neben dem Telefon aufgereiht, Bildzeitung und Meldeblock. Er war außerdem gehalten, einen scharfen Blick auf die Stempeluhr zu werfen.

„Morjen“, sagte Gerlach. Der Pförtner nickte würdevoll im Stil des Hauses, das vor Generationen gegründet worden war und jetzt im einhundertachtunddreißigsten Jahrgang eine Zeitschrift herausgab, die ursprünglich das geistige Leben der Gegenwart erfassen sollte, womit es sich heute aus den verschiedensten Gründen schwertat. Seit langem dümpelte das Blatt mehr schlecht als recht durch die Presselandschaft. Wie ein greiser Baum stand es da, aufrecht gehalten von einem Gerüst aus Traditionen und gelegentlich späte Blüten treibend, die dann von allen Seiten ratlos betrachtet wurden.

Gerlach kam grundsätzlich zu spät -- als freier Mitarbeiter konnte er sich das leisten. Heute war es eine halbe Stunde. Die Gründerväter blickten aus ihren Goldrahmen über ihn hinweg wie über jeden, der nicht durch den Besitz einer Stechkarte als vollwertiges Betriebsmitglied und Mensch ausgewiesen war. So stieg Gerlach die Treppe zu seinem Büro im ersten Stock empor ohne die Spur eines schlechten Gewissen und im Bewußtsein, daß die Woche begann wie jede andere.<para160>

Sein Zimmer teilte er sich mit einer Kollegin, die sich im Laufe von Jahren emporgearbeitet hatte und darauf stolz war. Hanna und er kamen zurecht. Nur ihr Telefoniergebaren war schwer zu ertragen -- wenn Autoren anriefen, konnte man leicht den Eindruck bekommen, die Königin von Saba gewähre Audienz.<para160>

Heute war wieder so ein Tag. Sie hing bereits am Hörer. Seufzend sank Gerlach in seinen Sessel und studierte über den Schreibtisch hinweg das Befinden der Grünlilie, die das Büro verschönerte. Die Topfflanze sah so aus, als hätte sie sich gelangweilt.<para160>

Gerlachs Wochenende war bewegt verlaufen. Er hatte Ruhe verdient. Also entschloß er sich zum Frontalangriff.<para160>

Am Schreibtisch gegenüber spitzte Hanna ihren Mund zu einer neuen Exaltiertheit. „Kannst du bitte mal für fünf Minuten mit dem Geschnatter aufhören?“ fragte Gerlach so uncharmant wie möglich in das Telefongespräch hinein, „und wenn du schon dabei bist, kannst du dich um die Kaffeemaschine kümmern.“ Hanna war für einen Moment sprachlos. Für den Anfang nicht schlecht. Dann schnappte sie ein. Der arme Mensch am Ende der Leitung hörte es noch auf der anderen Seite des Atlantiks. „Faxen Sie's mal her“, fauchte Hanna ihn an, und schmiß grußlos den Hörer auf die Gabel.<para160>

„Du hast wohl nicht alle Tassen im Schrank, oder? Eine Unverschämtheit.“

Gerlach holte sein zerknirschtes Gesicht hervor: „Ich habe schlecht geschlafen.“„Das ist keine Entschuldigung. Was denkst du, wer du bist?“

„Ich frage mich das auch manchmal. Immer häufiger sogar.“

So etwas nahm ihr die Luft aus den Segeln. Mit einem Rest von Empörung stieß sie ihr Telefon von sich und verließ türschlagend den Raum. Die Grünlilie winkte mit ihren Ablegern im Luftzug hinterher.<para160>

Gerlach griff in seine Aktentasche und zog die Lokalzeitung hervor. Sie würde seine Laune nicht bessern, so viel stand fest. Der redaktionelle Teil erinnerte ihn immer an Braunkohl mit Bregen, das berühmteste Gericht der Gegend, traditionell am Buß- und Bettag zu verzehren. In letzter Zeit ertappte er sich dabei, daß er die Todesanzeigen studierte. „Mein Gott, du wirst alt“, dachte er, und schlug die vorletzte Seite auf. Es sprang ihm förmlich entgegen, eine halbe Seite hoch, sodaß er die Zeitung unwillkürlich auf Armlänge von sich streckte:

„Grete Eschenbacher, Herausgeberin und Geschäftsführerin unserer Heimatzeitung, ist unerwartet von uns gegangen. Ihr Tod läßt uns betroffen zurück. Als Bewahrerin der Zielsetzung unserer Zeitung, unabhängiger Mittler zwischen dem Tagesgeschehen und dem Leser zu sein, hat sie mit großem Ernst das verlegerische Werk ihres Mannes fortgesetzt und damit einen wesentlichen Beitrag zur Pflege der kritischen Auseinandersetzung geleistet.“

Gerlach ließ das Blatt sinken. Eine Weile herrschte Ruhe im Raum. Dann klingelte nebenan das Telefon , und er hörte, wie Schulz, der Bildredakteur auf einen Fotografen einzureden begann. Das Gemurmel drang undeutlich durch die Tür. Gerlachs Telefon blieb still. Das tat es die meiste Zeit -- er war zuständig für den Veranstaltungskalender, und der war so wenig repräsentativ für das, was sich im Lande tat, daß sich niemand dafür interessierte.<para160>

Eschenbacher, durchforschte Gerlach sein Gehirn, Eschenbacher ..., da war eine schwache Erinnerung. Also griff er erneut zur Zeitung. Vorn fand er, was er suchte: Ein schwarz umrandeter Kasten mit einem großen Foto, von dem eine Frau in die Kamera lächelte, die jedermanns Tante hätte sein können - ondulierte Haare, Perlenkette, gemustertes Kostüm. Gerlach vertiefte sich in den Text:

„Ein Schicksalsschlag traf uns alle unvermittelt, unvorbereitet. Nun heißt es Abschied nehmen und danken für eine gute, auch gegenteilige Standpunkte respektierende Zusammenarbeit. Probleme hat es bei uns nie gegeben. Der Ermessenspielraum freier Entscheidungen, gerade im redaktionellen Bereich, gewährleistete jederzeit die Vielfalt des Inhaltes der Zeitung in Nachrichten und Meinungen.“

Das hieß wohl, dachte Gerlach, daß sich die Dame nicht besonders um das Geschäft gekümmert hatte. Die Redaktion hatte ungehindert vor sich hinwursteln können und war nun sehr erschrocken. „Grete Eschenbacher hätte gern noch manches Jahr diese Zeitung herausgegeben“, hieß es weiter. Das glaube ich gern, dachte Gerlach. Das Blatt war eine Monopolzeitung, und Monopolzeitungen waren so gut wie die Erlaubnis, Geld zu drucken. Jeder Anzeigenkunde im Verbreitungsgebiet mußte, ob er wollte oder nicht, inserieren. „Das Schicksal hat es anders gefügt“, hatte der unbekannte Redakteur weitergedichtet, den seinerseits das Schicksal getroffen hatte, diesen äußerst heiklen Nachruf zu verfassen, „Ein Mensch, dem Leben mit Fröhlichkeit zugetan, erst 57 Jahre alt, hat seinen Erdenweg beendet. Sie war eine ungewöhnliche Frau: impulsiv und voller Tatkraft, ausgestattet mit einem erstaunlichen Maß an Menschenkenntnis, voller Hilfsbereitschaft, wo Hilfe nottat. Wir haben mit unserer Verlegerin viel verloren.“

Gerlach klappte die Zeitung zu, kniffte sie der Länge nach und warf sie in den großen Papierkorb. Es war Zeit für die Konferenz.<para160>

Die Montagskonferenz war eine Pflichtübung, deren Sinn vor allem darin bestand, den Chef daran zu erinnern, daß das Wochenende vorbei war. Er pflegte sein Stempelkontingent im großen Stil auszunutzen und fuhr, wann immer es ging, einige hundert Kilometer nach Hamburg, wo er, wie er nicht müde wurde, zu demonstrieren, an den Elbbrücken jedesmal tief durchatmete und aus vollem Hals das Hammonialied anstimmte. Er war nach jedem Maßstab dick zu nennen, dabei von von einer tänzerischen Leichtigkeit, die den geborenen Dicken auszeichnet. Die Redaktion war regelrecht verliebt in ihn.

Als Gerlach das Zimmer des Chefs betrat, unter dem Arm das unvermeidliche Klarsichtmäppchen, war der Rest der Redaktion schon versammelt: Reibold tat wie immer sehr bedeutend, Hanna, die ihn beleidigt ignorierte, hatte tatsächlich für Kaffee gesorgt, Jutta Sischke, die Mutter vom Dienst, hatte einen ganzen Stoß von Mappen um sich herum ausgebreitet, Schulz, der Bildredakteur, sah übernächtigt aus und vermied es schlau, irgendjemanden anzusehen.<para160>

Der Chef rollte einen Zigarillo, der zwischen seinen Finger und in Anbetracht seiner Gestalt nicht größer als ein Streichholz wirkte. „Kinder, was liegt an?“ fragte er in einem Ton, wie ihn sonst nur Theodor Heuss hinbekommen hätte. Er durfte das. Bei jedem anderen hätte es lächerlich gewirkt.<para160>

Frau Kempinski, die Sekretärin, war die ganze Zeit aufgeregt auf ihrem Stuhl hin- und hergeruckelt und meldete sich zu Wort:

„Haben Sie gehört? Die Eschenbacher ist tot.“

„Ja, das ist ein dickes Ding“, kommentierte der Chef. Tatsächlich: Er sagte „ein dickes Ding“. Nach Gerlachs Gefühl war der Ausdruck vor rund zwanzig Jahren aus der Mode gekommen, aber in diesem Laden hielt sich so manches.

„Woran ist sie denn gestorben?“

„Das ist es ja“, brachte Frau Kempinski hervor, „sie ist ermordet worden.“

„Ach was“, gab der Chef von sich und beäugte mißtrauisch seinen Zigarillo, als sei er sich nicht schlüssig, ob es sich überhaupt lohne, ihn anzustecken. „Wieso denn das?“

„Sie war sehr reich. Sie hatte ein Schloß an der Loire und Brillanten und Pelze und ein Auto und... also sie war die reichste Frau Deutschlands“, schloß Frau Kempinski etwas hilflos.<para160>„Das ist ja ein Ding“, wiederholte der Chef kopfschüttelnd, steckte sich endlich den Zigarillo an, lehnte sich zurück, faltete die Hände über dem Bauch und blies Rauch von sich. „Einer sollte sich mal umhören. Wer kennt sich hier aus?“

Die Runde schwieg betreten. Tatsächlich stammte niemand aus der Stadt. Genaugenommen wohnte sogar niemand in der Stadt. Reibold war aus Köln, Mischke aus Frankfurt, Schulz aus Düsseldorf, Hanna aus München. Alle hatten nur eine Art Notquartier aufgeschlagen, weil sie damit rechneten, nicht allzulange zu bleiben. Nur die Kempinski nicht. Und Gerlach. Gerlach lebte seit zwanzig Jahren hier. Mit dieser Stadt war es wie mit Bad Salzuflen. Wenn man da nicht herkommt, kommt man da nicht hin.<para160>

Gerlach studierte seine Fingernägel. Sie waren schwarz unter den Rändern. Diese verdammte Lokalzeitung wurde wahrscheinlich mit Braunkohlestaub gedruckt. „Also, ich“, murmelte er, „ein bißchen.“

„Das ist ja wunderbar“, strahlte der Chef, beugte sich federnd vor und wippte dabei die Asche seines Zigarillos in Hannas Kaffeetasse, „ganz wunderbar. Wie weit Sind Sie denn mit dem Veranstaltungskalender fürs laufende Heft?“

„Liegt in den letzten Zügen“, sagte Gerlach. Das war stark untertrieben. In Wirklichkeit hatte er die Veranstaltungshinweise für das gesamte nächste Vierteljahr fix und fertig in der Schublade liegen. Der Kalender wurde zeitlos gehalten - jeder einzelne Hinweis hätte, mit verändertem Datum, auch im kommenden oder im übernächsten Jahr abgedruckt werden können. Das hatten Gerlachs Vorgänger so gehalten, das waren die Leser gewohnt, und das wollte Gerlach auf keinen Fall ändern. Traditionen hatten ihr Gutes.<para160>

„Dann setzen Sie sich in Bewegung und finden was raus“, kommandierte der Chef. Seine kleinen Augen leuchteten vergnügt.

„Frau Sischke, was macht das Heft?“

Gerlach entspannte sich. Das Spiegeln der Seiten war zum Glück nicht seine Aufgabe. „Die Eschenbacher“, dachte er, „ermordet. Die Woche fängt gut an.“

<Kapitel II>

Zurück in seinem Zimmer zog Gerlach eine kleine Nagelfeile hervor und polierte seine Fingernägel. Das war eine Tätigkeit, bei dem ihm die besten Ideen kamen. Er fühlte sich hinterher immer so schwungvoll. Heute nicht. Zum Thema Eschenbacher fiel ihm partout nichts ein.<para160>

Hanna kam herein. Ihre beleidigte Miene war einer gewissen Indigniertheit gewichen. Sie schob ein paar Papiere umher und musterte unentschlossen das Telefon. Dann siegte, wie nicht anders zu erwarten, die Neugier.

„Was willst du jetzt machen?“

„Keine Ahnung“, antwortete Gerlach wahrheitsgemäß.<para160>

„Ruf doch die Polizei an“, schlug Hanna wenig hilfreich vor. Gerlach knurrte. Da war wenig zu holen. Wenn sie etwas wußten, dann sagten sie es nicht und schon gar nicht der Presse, die sie als eine überwiegend lästige Institution betrachteten, einzig und allein nützlich, wenn es galt, Fahndungsaufrufe zu veröffentlichen, in denen nach irgendwelchen Hüten, Mänteln oder Personen unbestimmbaren Geschlechts und unbekannten Alters gesucht wurde.<para160>

„Ich geh mal was essen“, kündigte Gerlach an, erhob sich und schlug den Weg zur Kantine ein. In der Schlange vor der Essensausgabe gab es nur ein Gesprächsthema. Gerlach spitzte die Ohren, während er gleichzeitig einen Blick auf die Tagesgerichte warf. Es gab Schnitzel, Bohneneintopf und Milchreis mit Zimt. Die Kantine arbeitete auf Profitbasis, seit das Unternehmen den Essenszuschuß gestrichen hatte, eine Maßnahme, die den schleichenden Verfall der Liquidität aufhalten sollte.<para160>„Einen Butler hat sie gehabt“, hörte Gerlach zwei rüstige Damen vor sich hecheln, „stell dir mal vor. Und dabei soll sie so geizig gewesen sein, daß sie nie Trinkgelder gegeben hat.“

„Die war behängt mit Klunkern wie ein Weihnachtsbaum, sag ich dir.“ Waanachzbaum, verstand Gerlach. Das war eben der Dialekt in dieser Gegend.

„Und was hat sie jetzt davon?“

„Lieber arm dran als Arm ab.“ Aam, sagte sie.

„Wer nu das ganze Geld erbt?“

„Kinder hat sie keine gehabt, so waat ich waaß“. Gerlach mußte sich innerlich ein bißchen schütteln, hörte aber weiter geradezu unhöflich hin.

„Aber Liebhaber.“

„Die waren doch nur hinter ihrem Geld her. In dem Alter, ich bitte dich.“

„Einer davon hat sie auf dem Gewissen, meiner Meinung nach.“

„Den haben sie schnell.“

„Is nich gesaacht“, beendete die eine das Gespräch und entschied sich für Schnitzel. Die andere zierte sich mit dem Salat herum. Als Gerlach an der Reihe war, konnte er das infantile Verlangen nicht unterdrücken und nahm den Milchreis.

Daß die Eschenbacher im Geld geschwommen war, hatte er nicht gewußt. Gerlach kannte nur zwei Frauen, die einiges vorzuweisen hatten. Da gab es „Die Baronin“, die im Volk immer noch grenzenlos verehrt wurde und allein vom Kauf ihrer Memoiren leben konnte, von heimlichen Verscherbeln des Familiensilbers ganz zu schweigen. Und dann gab es im eigenen Verlag die alte Witwe, die nie jemand zu Gesicht bekam, für die aber ein eigener Firmenwagen samt Chauffeur bereit stand und die es offensichtlich verstanden hatte, vor dem absehbaren finanziellen Desaster noch genug auf die Seite zu schaffen. Und nun Grete Eschenbacher, ebenfalls Verlegerin, wenn auch inzwischen ganz offensichtlich eine tote Verlegerin.

Gerlach rührte in seinem Milchreis und dachte nach. Der Wunsch nach einer Salzgurke stieg in ihm hoch. Henry Duhn. Das war ein schnauzbärtiger Lokalredakteur mit Seehundsblick, der immer im „Lindeneck“ herumhing, Gerlachs Stammkneipe. Henry Duhn war immerhin ein Mensch, mit dem man reden konnte.

Gerlach stand abrupt auf, trug seinen Milchreis zur Geschirrabgabe, hinter der es nach Spülmittel roch, und begab sich zurück in sein Zimmer, wo er die Zeitung wieder aus dem Papierkorb hervorkramte und die Redaktionsnummer suchte.<para160>

Henry war an seinem Platz.<para160>

„Stör ich?“ erkundigte sich Gerlach vorsichtig.

„Ach was“, kam es zurück.

„Was ist los bei Euch?“

„Wir trauern.“

„Kommst du nachher ins Lindeneck?“

„Sowieso.“

„Freut mich. Wir sehn uns.“So liebte Gerlach das. Bei Recherchen, die kompliziert anfingen, war immer etwas faul. Im übrigen wäre er auch dann ins Lindeneck gegangen, wenn der Papst zum Gebrauch von Kondomen aufgerufen hätte oder Eintracht Frankfurt deutscher Fußballmeister geworden wäre.<para160>

Den Rest des Tages verbrachte Gerlach damit, seinen Veranstaltungskalender in eine satzreife Form zu bringen. Glanzstück seiner Sammlung war eine Meldung aus osterreich, formuliert von der Korrespondentin Armgart Schmölzer: „Wien im Jänner steht vor allem im Zeichen musikalischer Veranstaltungen. Gleich zu Beginn des Monats mit den traditionellen Neujahrskonzerten, allen voran jenem im Musikvereinssaal, dessen Walzermelodien via Fernsehen um die halbe Welt gesendet werden, und das heuer sein 25jähriges Jubiläum feiert, zum dritten Mal von dem nunmehr frischgebackenen Staatsoperndirektor dirigiert.“<para160>

Neuneinhalb auf zehn, schrieb Gerlach ungerührt daneben, denn er fand, ein solches Beispiel journalistischer Prosa könne durch unnötiges Redigieren nur an Schmiss verlieren. Punkt fünf sah er die Zeit für den Büroschluß gekommen. Er verstaute die Manuskripte in einer Mappe und gab sie an die Sischke weiter, die über iher Schreibmaschine saß und an einer Aktennotiz kaute.

„Ich hau dann ab“, meinte Gerlach.

„Schon was rausgekriegt?“

„Sie ist tot, so viel steht fest“, gab Gerlach Einblick in den Stand seiner Untersuchungen.

„Viel Spaß.“

Draußen hatte sich mit der Dämmerung ein schmieriger Nieselregen eingestellt und Gerlach verwünschte seinen Enthusiasmus, mit dem er morgens aufs Rad stieg. Natürlich war Radfahren sportlich, aber andererseits hatte es die Menschheit, die sich doch darauf verstand, Atomkraftwerke zu bauen und Reißverschlüsse zu konstruieren, nicht vermocht, einen regentauglichen Fahrraddynamo zu entwickeln.<para160>

Mit flackerndem Licht strebte Gerlach auf kürzestem Wege zur Kneipe. Halb sechs war seine Zeit: Die Stühle gerade heruntergestellt, die Aschenbecher noch leer, die wenigen Gäste so gut wie nüchtern und die Musik, wie er sie liebte: Barmusik, einer der wenigen amerikanischen Beiträge zur Kulturgeschichte. Dazu eine Zeitung, im Hintergrund halblaute Gespräche, und er hatte das Gefühl, daß hinter dem Leben eine Ordnung steckte, schwer durchschaubar, brüchig, aber vorhanden.<para160>

„Was darfs sein, der Herr?“ fragte Fritz hinter der Theke. Dies war Gerlachs größtes Problem. Das Bier in dieser Kneipe wurde zu schnell gezapt und die Folge war, daß Gerlach auf der unablässigen Suche nach etwas Trinkbarem manchmal alles durcheinander trank mit der weiteren Folge, daß ihm am nächsten Tag ein Fremder beim Zähneputzen entgegenblickte.<para160>

„Kaffee und, äh, Calvados.“

Calvados wurde großzügig eingeschenkt.

Gerlach setzte sich in seine Ecke und schlug die Zeitung auf. Am Wochenende war nicht mehr politischer Unfug angerichtet worden als sonst. Die Eintracht, seit ihrer legendären drei zu sieben-Niederlage gegen Real Madrid Gerlachs Mannschaft, hatte ein totsicheres Heimspiel verloren. Atlantische Tiefausläufer rückten näher. Der amerikanische Präsident versicherte dem deutschen Volk seine Sympathie, auch wenn er über gewisse neutralistische Positionen besorgt war. Am Vorabend hatte das Regierungsoberhaupt vor Empörung im Fernsehen gewackelt und gebebt über die „unglaubliche Art und Weise“, wie „mansche Männchen den amerikanichen Präsidenten Tschortsch Busch“ angepöbelt hätten.

Das, was die Stadt bewegte, hatte in einer Notiz Niederschlag gefunden: „Grete Eschenbacher, 57, Verlegerin, wurde in ihrer Wohnung tot aufgefunden. Die Krefelder Beamtentochter hatte 196_ziff3_ die regionale Monopolzeitung nach dem Tod ihres Mannes übernommen, der 194_ziff3_ eine Zeitungslizenz in der britischen Zone erhalten hatte. Die Witwe, die halbjährlich auf ihrem Schloß an der Loire lebte, vermied durch einen liberalen Kurs ihres Blattes Probleme, die in anderen Häusern das Zeitungmachen erschweren (so ein Redaktionsmitglied).“

Offensichtlich hatte die Zeitung einen guten Draht. Und einen späten Redaktionsschluß. Gerlach trank seinen Kaffee, knabberte an dem Gratiskeks, der neuerdings als besonderer Service des Hauses mitgeliefert wurde, und blickte gegen die nikotingelbe Tapete, die noch Spuren des letzten Wasserrohrbruchs im ersten Stock zeigte. Was diese Kneipe zu seiner Stammkneipe hatte werden lassen, war ihm schleierhaft. Eigentlich gab es nur zwei Möglichkeiten, diesen Laden zu führen. Man konnte erstens alles weiß streichen, neues Personal einstellen und die Gäste mit Halogenstrahlern blenden. Oder man konnte zweitens das Getränkeangebot durchforsten, statt Soleiern und Salzgurken kleine Häppchen anbieten und darauf hoffen, daß der müde Geschäftsmann es honorieren würde. Fritz hatte sich für die dritte Möglichkeit entschieden: Alles so zu lassen, wie es war, und die nächsten dreißig oder vierzig Jahre lang mit den Gästen zu altern, sofern ihm und ihnen ein derart langes Leben beschieden war.<para160>

57 Jahre war eigentlich kein Alter, fand Gerlach. Allerdings: die mittlere Lebenserwartung von Journalisten lag nicht viel höher und die von Kneipenwirten eher noch darunter. Das wiederum lag daran, daß es ihnen nicht vergönnt war, ihr halbes Leben in einem Schloß an der Loire zu verbringen. An der Loire war Gerlach noch nie gewesen, aber er hatte eine undeutliche Vorstellung von der Landschaft: Sanft geschwungene Weinberge, ein still dahinfließender Strom, schattige Parks, Fünf-Gänge-Menüs, hinterher Petit Fours und ein großer Cognac - er beschloß, das aufsteigende Gefühl niederen Sozialneids zu bekämpfen und sich an seinen Calvados zu halten.

<Kapitel III>

Die Theke hatte sich gefüllt. Das Gesumm war lauter geworden -- im Nebenraum wurde eine Partie Pool aufgebaut. Gerlach rätselte gerade über einer Meldung, in der behauptet wurde, jeder dritte Geisterfahrer benutze mit voller Absicht die falsche Autobahnspur, als Henry Duhn durch die Tür kam. Er war angezogen, wie man sich einen Lokalreporter angezogen vorzustellen hatte: Cordhosen, Schuhe mit Kreppsohlen, Trenchcoat, Schal. Fehlte nur noch der Stenoblock in der Tasche, eine Kamera mit Blitzlicht um den Hals, und man hätte ihn glatt ins Naturhistorische Museum stellen können. Henrys Augen wanderten durch das Lokal und blieben an Gerlach hängen. Er kam an den Tisch:

„Laß uns zum Tresen gehen.“ Gerlach raffte seine Aktentasche an sich, und beide strebten zu einem Platz zwischen Billardraum und Theke, von dem aus man den Eingang und den größten Teil des Lokals im Blick hatte.<para160>

Henry wand sich aus seinem nassen Mantel und enthüllte noch mehr Cord in Form einer Sportjacke mit Lederflicken am Ärmel sowie einen schwarzen Rollkragenpullover.

„Was trinkst du?“

„Ein frisches Weizen.“

„Für mich auch.“

„Was ist passiert?“

„Mir sagt nie einer was, weißt du.“

„Henry, laß das sein. Erzähl ganz einfach, was passiert ist.“

„So genau weiß das keiner. Der ganze Fall ist mysteriös. Ich sag dir jetzt die offizielle Version. Also: Grete Eschenbacher hat hier immer nur vorübergehend gelebt. Die meiste Zeit war sie auf Reisen. Drüben in der Rathenaustraße hatte sie eine Wohnung, die gehörte unserem früheren Geschäftsführer Udo Schinckel. Die waren ziemlich eng befreundet, der Schinckel, seine kleine blonde Frau und die Eschenbacher. Schinckel besaß einen Schlüssel zu der Wohnung. Er schloß auf, als sie gestern abend gefunden wurde. Sie lag auf dem grauen Teppichboden gegen das Sofa gelehnt, hatte einen Hosenanzug an und eine Ledermanschette um den Hals - nicht, was du gleich denkst, die trug sie häufig, gegen ihre Bandscheibenbeschwerden.“

Das Weizenbier kam und schäumte ungeduldig im Glas. Henry hob es an die Lippen, setzte es wieder ab und wischte sich den Schaum aus seinem Seehundschnäuzer.

„Was wollte denn der Schinckel am Sonntag in der Wohnung?“ fragte Gerlach.

„Langsam. Eins nach dem anderen. Sie lag da und rührte sich nicht. Ordentlich frisiert, Make-up aufgelegt, alles soweit in Ordnung. Sah so friedlich aus, als wenn sie einfach eingeschlafen wäre, sagt der Oelkers. Das ist Schinckels Nachfolger bei uns.“

„Der war auch da?“

„Ja, und der Rechtsanwalt Dr. Eyerkauffer.“

„Klingt nach einer ganzen Versammlung.“

„In der Tat. Und ursprünglich sollten noch mehr daran teilnehmen. Am Freitag hatte die Eschenbacher mit dem Prause telefoniert.“<para160>

Gerlach kannte Prause: Das war der Lokalchef, Haralds Ressortleiter, ein Mann, der den Kopf beim Reden in den Nacken warf und dadurch einen unangenehm näselnden Tonfall bekam, was aber nichts mit Arroganz zu tun hatte, sondern mit Halsbeschwerden, hervorgerufen durch einen leichten Kropf. Er war ein ganz umgänglicher Mensch.

„Prause sollte auch kommen?“

„Ursprünglich. Doch dann rief sie noch einmal an und ließ Prause bestellen, er solle nun doch nicht kommen, weil sie ganz vergessen hätte, daß sie dringend übers Wochenende zur Antiquitätenmesse nach München müsse. Prause fand das nicht weiter verwunderlich. Auf Antiquitäten war sie ganz versessen.“

„Schinckel und den anderen hat sie davon aber nichts erzählt?“

„Nee. Die Telefonistin war übrigens die letzte, die mit Grete Eschenbacher gesprochen hat, am Freitagabend acht.“

Der Schaum auf dem Bier hatte sich gelegt, und schon schmeckte es wie eingeschlafene Füße. Man müßte mal ein kleines Weizenbier auf den Markt bringen, dachte Gerlach, unterbrach Henry aber nicht.

Der schwenkte sein Glas im Kreis.„Schinckel und Oelkers und Eyerkauffer stehen also ratlos in der Wohnung in der Rathenaustraße herum. Die Wohnung ist penibel aufgeräumt, völlig ungewöhnlich für die Eschenbacher, denn wenn die Putzfrau aus dem Haus war, dauerte es nicht lange, dann hatte sie alles auf den Kopf gestellt. Eyerkauffer ruft schließlich einen Arzt und die Polizei. Der Arzt bestätigt den Tod, kann aber die Todesursache nicht feststellen. Von der Polizei erscheint der Kriminalobermeister Rütte, ein selten dämlicher Mensch. 'Das ist erst meine vierte Leiche', sagt er und ruft den Kriminalhauptmeister Breuer. Der wiederum klingelt nach dem Hausmädchen. Die kommt und ist natürlich ganz aufgeregt. 'Hier stimmt was nicht', sagt sie, 'das ist noch nie passiert, daß die gnädige Frau', da kannst du mal sehen, wie es bei uns zugeht, 'daß die gnädige Frau ihre Ringe abgezogen hat. Eher hätte sie sich die Augen ausstechen lassen,'soll sie gesagt haben, die gute Seele.“

„Ach herje“, meinte Gerlach, und stupste mit dem kleinen Finger gegen sein Glas. „Und nun waren sie alle ganz aufgeregt.“

„Genau. Die Eschenbacher war ein wandelndes Schmuckstück. Ich dachte immer, diese Ringe wären ein bißchen protzig. Waren sie auch. Warte mal ...“. Henry zog eine verknitterte Fotokopie aus der Jackentasche. „Ein Platin-Iridium-Ring, besetzt mit einem Brillanten 8,1? Karat, zwei Brillanten und zwanzig Diamant-Navetten etwa 2.2_ziff1_ Karat, Wert 75_ziff1_ 000 Mark -- ein Platin-Iridium-Ring mit einem Smaragd 12,6? Karat und 2_ziff2_ Diamant-Navetten von 5,0? Karat, Wert 400 000 Mark -- und ein Doppelring in Platin weiß, verbunden durch Rosendiamanten, Wert 60 000 Mark. Nicht schlecht, oder?“

Gerlach starrte in sein schales Bier. „Ich habe mal gelesen, daß sie dir in Bangkok den Finger abschneiden, wenn du nur einen silbernen Verlobungsring trägst.“

„Wir sind hier nicht in Bangkok“, bemerkte Henry etwas angewidert.

„Das stimmt. Die Eschenbacher ist tot. Die Ringe sind weg. Was nun?“

„Die Leiche haben sie erst ins Krankenhaus in die Hamburger Landstraße geschafft, aber die sind da zu blöd, einen Blinddarm zu diagnostizieren. Jetzt liegt sie in der Gerichtsmedizin.“<para160>

„Da liegt sie gut. Trinken wir noch was?“

Henry betrachtete das Flaschenregal hinter dem Tresen. „Rotwein?“

„Zwei Rotwein.“

Inzwischen standen die Gäste in Doppelreihen vor dem Tresen. Früher war das hier eine Studentenkneipe gewesen -- die Studenten waren in die Jahre gekommen und ein Teil von ihnen überwinterte angesichts des rauhen Klimas auf dem Arbeitsmarkt an der Hochschule. Das waren die, die jeden Mittag verschämt in die Mensa gingen, weil sie dort immer noch etwas auf Marken bekamen. Ein Teil hatte es zu etwas gebracht -- das waren die, die ihren revolutionären Zeiten hinterhertrauerten und zu fortgeschrittener Stunde nach den Rolling Stones und „… can't get no satisfaction“ verlangten oder, noch schlimmer, nach den Doors: „When … was young“. Jim Morrison hatte immerhin den Anstand besessen, sich im passenden Alter zu verabschieden. Was aus diesen Grauköpfen einmal werden würde? fragte sich Gerlach. Und dann waren da noch die, die ungeniert von der Sozialhilfe lebten, ewig Bier tranken und sich mit Leuten wie Alfred verbrüderten. Alfred war irgendwas auf der Baubehörde, kommandierte immer „Gut Durst!“ und behauptete, bei Stalingrad dabeigewesen zu sein, was allein schon deshalb nicht stimmen konnte, weil Alfred erst rosige fünfundvierzig Jahre alt war.<para160>

„Kleinen Moment mal“, sagte Gerlach und kämpfte sich durch die Reihen zur Toilette. Sie wies noch Spuren aus der Zeit auf, als eine Horde Ingenieurstudenten das Lokal bevölkert hatte. Undeutlich konnte man ein paar Sprüche erkennen - Gerlach kannte sie längst: „A fuck in the morning time is better than a cup of haferschleim“. Fritz hatte alles mit dicker grüner Farbe übergestrichen, aber die Sprüche kamen durch. Ob das auf der Frauentoilette auch so aussah? Er würde nie dahinterkommen.

Henry hatte seinen Rotwein halb geleert.<para160>

„Also Raubmord.“

„Das ist die offizielle Version.“

„Gibt es eine andere?“

Henry fummelte in seinen Taschen herum, auf der Suche nach Zigaretten. Gerlach gab ihm eine.<para160>

„Jeder bei uns fragt sich natürlich, was der Schinckel und der Oelkers und der Eyerkauffer am Sonntag bei unserer Verlegerin zu suchen hatten. Besonders der Eyerkauffer. Das war ihr Testamentsvollstrecker.“

„Wieviel hatte sie denn so zu vererben“, erkundigte sich Gerlach.

„Vorsichtig geschätzt, wirklich ganz, ganz vorsichtig: Dreißig Millionen.“

„Tja“, machte Gerlach, und nahm einen Zug, „cui bono, fragt man in solchen Fällen.“

Henry runzelte die Stirn. „Heute läßt du's wieder voll raushängen, was? Na, sehen wir uns doch an, wen wir haben. Prause ...“<para160>

„Du machst Witze“, fiel ihm Gerlach ins Wort.

„Ich habe mal gelesen“, sagte Henry feierlich, „Daß, wenn man alle, die ausscheiden, beseite läßt, automatisch der wahre Täter übrig bleibt.“

„Ja, bei Karl May vermutlich.“

„Prause hat immer noch Ambitionen, Chefredakteur zu werden. Aber deswegen bringt er nicht gleich die Verlegerin um. Und außerdem mußte er davon ausgehen, daß sie in München war, und Antiquitäten zusammenramschte.“

„Bleiben Eyerkauffer, Schinckel und Oelkers“, sagte Gerlach versonnen.

„Eyerkauffer kannst du vergessen. Ich bitte dich: Ein Rechtsanwalt.“

„Das sind die Schlimmsten.“

„Trotzdem. Und Oelkers, dieser blasse Wicht - ich weiß nicht.“<para160>

„Schinckel war doch ein Vertrauter, sagst du.“

„Ja, Schinckel. Der hat selber viel Geld. Macht in Immobilien. Wußtest du, daß der nach dem Krieg die halbe Innenstadt verscherbelt hat?“

„Was gab es denn da zu verscherbeln?“

„Grundstücke. Jedenfalls hat er Millionen.“

„Wußte gar nicht, daß es in dieser Stadt Millionäre gibt.“<para160>

„Oh, ja“, sagte Henry, und nahm den letzten Schluck.„Was trinkst du?“

Die Frage war kritisch. „Apfelkorn“, sagte Gerlach mit Bestimmtheit in der Stimme.

„Komm hör auf. Whisky.“

„Wie du meinst“, murmelte Gerlach. Das würde böse enden.

Die Thekengespräche waren jetzt auf ihrem Höhepunkt angelangt. Was jetzt kam, war nicht mehr so wichtig. In der Ecke versuchte der gefürchtete Heinz, seiner Promenadenmischung das Apportieren von Bierdeckeln beizubringen. Was hatte ein Hund in dieser Kneipe verloren? Anständige Hunde lagen jetzt im Körbchen. Gerlach nippte an seinem Whisky. Beinahe glaubte er, ein Torffeuer vor sich zu sehen, mit grünlich züngelnder Flamme. Auf einmal fiel es ihm ein: Püppelie. So hieß der Hund. Grete Eschenbacher hatte einen Hund gehabt, einen Pudel, ein schmutzig-weißes Geschöpf, ständig zitternd, wie das diese Pudel so an sich haben. Gerlach hatte das Pärchen im Park gesehen, Püppelie hatte sie ihn gerufen, und Püppelie hatte ein Halsband getragen, an dem es blitzte. Wie es jetzt aussah, waren das vermutlich Diamanten gewesen. Püppelie mußte sehen, wie er zurecht kam. Vielleicht hatte er was geerbt.

„Warum ist das Leben so kompliziert“, wollte Gerlach wissen. Auf dem Nachbarstuhl hatte die ganze Zeit ein Betrunkener zugehört. Jetzt sah er seinen Moment gekommen:<para160>

„Weil es sons ssu langweilig wäre“, röhrte er.<para160>

Gerlach und Henry sahen sich an. „Das ist aus irgendeinem alten Film“, meinte Henry. Der Betrunkene wollte Henry um den Hals fallen, rutschte dabei von seinem Schemel und fluchte unverständlich vor sich hin. Die Promenadenmischung wedelte mit dem kupierten Schwanz. Fritz kam hinter seinem Tresen angelaufen und fing an, herumzuschimpfen. „Issa gut“, sagte der Betrunkene und krabbelte wieder auf seinen Hocker.<para160>

„Noch zwei“, sagte Henry. Fritz blickte mißbilligend.<para160>

„Komm raus damit“, sagte Gerlach, „was war wirklich los?“

„Also schön, wenn du es unbedingt wissen willst: Jeder wußte, daß die Eschenbacher die Nase voll hatte. Die hatte den Laden nur geerbt. Die Zeitung war ihr scheißegal. Die war an ihren monatlichen Schecks interessiert, und an sonst nichts. Außerdem war sie einsam. Immer nur der Hund und der Butler und das Hausmädchen. Auf einer ihrer Reisen hat sie dann einen Mann kennengelernt. Einen Grafen, das muß ihr ernstlich imponiert haben. Graf Gustave de Orlandac, Ritter der französischen Ehrenlegion, Finanzkaufmann, wohnhaft in London, allererste Referenzen, tadellose Manieren.“

„Das klingt wie ein schlechter Witz“, sagte Gerlach.

„Was willst du machen? Der Graf hat sie um den Finger gewickelt. Sie hat ihn zu ihrem Vermögensverwalter gemacht, mit allen Vollmachten.“

„Was heißt das?“

„Mit allen Vollmachten. Sie wollte ihn heiraten.“

„Ist das wahr“, staunte Gerlach. „Und diese Vollversammlung am Sonntag in ihrer Wohnung sollte dazu dienen, die Vermögensverhältnisse neu zu ordnen?“

„In dieser Richtung. Sie wollte den ganzen Kram verkaufen. Schinckel war interessiert, Eyerkauffer sollte das Ganze beglaubigen.“

„Warum Schinckel?“

„Es muß da eine alte Verbindung geben. Ich habe keine Ahnung.“

„Und Prause?“

„War vorgesehen als neuer Chefredakteur.“

Gerlach starrte in seinen Whisky. „Da ist ihr dann rechtzeitig jemand dazwischen gekommen.“<para160>

„Finde ihn, und der Verlag zahlt dir zwanzigtausend auf die Hand.“

„Bitte?“ fragte Gerlach entgeistert.

„Wir sind großzügig. Belohnung zwanzigtausend, aufgestockt um weitere zehntausend vom Regierungspräsidenten.“<para160>

„Was soll ich mit dreißigtausend Mark?“

„Ganz abgesehen von den siebzigtausend, die die Versicherung für die Beibringung des Schmucks ausgesetzt hat.“

„Was soll ich mit hunderttausend Mark?“

„Du könntest diese Zeche hier zahlen“, sagte Henry.

Fritz kam an und war sichtlich schlechter Laune. „Kann ich die Flasche gleich da lassen oder was?“ raunzte er.<para160>

„Ist eh’ kaum noch was drin“, stellte Gerlach fest.<para160>

Fritz grunzte und zog ab.<para160>

„Wie heißt diese Telefonistin?“

„Warum willst du das alles so genau wissen?“

„Die Bild-Zeitung hat mir einen Exklusiv-Vertrag angeboten.“

„So siehst du aus.“

„Warum nicht? Irgendwie will jeder nach oben.“

„Und deshalb bist du bei diesem Alzheimer-Blatt?“

„Vorsicht“, warnte Gerlach.<para160>

„Du weißt doch gar nicht mehr, was richtiger Journalismus ist.“

„Nämlich?“ fragte Gerlach.

„Recherchieren, mein Lieber. Fakten. Hautnah dran am Geschehen.“

„Mit der Nase in der Scheiße, meinst du wahrscheinlich.“

Henry hob seine dunklen Augen. „Dann verlierst du wenigstens nicht den Blick für das Wesentliche.“

„Wie hieß diese Telefonistin?“

„Sarah Sternthal.“

<Kapitel IV>

Mitternacht war vorbei, und die wenigen Gäste, die noch nicht gegangen waren, hielten sich in kleinen Grüppchen zusammen, weil sie Angst hatten vor dem, was in einer leeren Wohnung auf sie wartete. Einsamkeit reißt auch in Mauern Risse des Irrsinns - wo hatte er das wieder aufgeschnappt? Es wollte Gerlach nicht einfallen. Menschen waren offenbar dazu bestimmt, in Rudeln zu leben.<para160>

Henry sah auf die Uhr.

„Ich mach mich auf den Weg.“

„Vielen Dank.“

„Nich’ dafür.“

Fritz klingelte ungeduldig mit den Gläsern.

„Wenn der Herr jetzt vielleicht auch gehen könnte, ich mach’ nämlich dicht.“

Gerlach zahlte und trat vor die Tür. Der Regen hatte aufgehört, die Wolkendecke war aufgerissen und zog in hastigen Fetzen über einen mondhellen Himmel. Gerlach atmete tief ein. Er hatte gar nicht bemerkt, wie der Tabakdunst sich drinnen zu einer dicken Masse zusammengezogen hatte. Jetzt tränten ihm die Augen. Auf einmal war er wieder froh, das Fahrrad dabei zu haben. Er verstaute seine Tasche, schloß auf und schlug den Weg nach Hause ein.

Kein Auto war mehr unterwegs, nur über den Ring brummten Schwerlastwagen auf dem Weg zur Autobahn. Eine Stadt bei Nacht sah immer vielversprechend aus: So viele Menschen, so viele Möglichkeiten, Begegnungen, Liebe, Streit, Geschäfte, Intrigen, Unglücke, Verbrechen. Es ist ein Wunder, dachte Gerlach, daß nicht noch mehr geschieht.<para160>Als Gerlach das offene Feld erreichte, versetzte ihn die kalte Luft beim Strampeln in Euphorie. Einmal hatte er an dieser Stelle einen Storch gesehen. Es war der berühmte Storch von Heimerode gewesen, der jedes Jahr mit seiner Frau von Afrika herüber kam. Er war über die Wiesen gestakst, ohne Gerlach eines Blickes zu würdigen, alle Aufmerksamkeit nach Fröschen gerichtet.<para160>

Was war das mit der Antiquitätenmesse? Wollte sie überhaupt dahin, oder war es nur ein Vorwand, den Prause wieder auszuladen? Wer wußte von diesem merkwürdigen Sonntagstreffen? <para160>Ausgerechnet Sarah. Gerlach war vor langer Zeit in sie verliebt gewesen, als sie beide studierten. Sarah verdiente sich ihr Geld als Telefonistin, und dann hatte sie ausgerechnet Dienst an diesem Abend, an dem die Eschenbacher ihr letztes Lebenszeichen hinterließ.<para160>

Gerlachs Gedanken schlugen Purzelbäume, als er durch eine tiefe Pfütze fuhr und sich dabei die Hosenbeine vollspritzte. Das Wasser rann eklig in seinen Schuh hinein. Beim Versuch, die Nässe abzuschütteln, geschah es: Gerlach übersah das nächste tiefe Schlagloch, der Lenker stellte sich quer, und dann ging alles so schnell, daß er nur noch registrierte, wie er der Länge nach hart über den Boden schrammte. „Arsch und Zwirn“, dachte er. Dann wurde ihm übel. Er stand vorsichtig auf und konnte gerade noch verhindern, das ihm alles hochkam. Über der linken Augenbraue war es feucht, und als Gerlach darüberwischte, spürte er warmes Blut. Dem Fahrrad war nichts passiert. Stahl hält was aus. Nur der Lenker stand krumm.<para160>

Hinkend zog es Gerlach vor, sein Rad den letzten knappen Kilometer zu schieben, was für einen Radfahrer eine demütigende Fortbewegungsart war, aber auch eine sichere. Seine aufgeregten Magennerven beruhigten sich mit jedem Schritt, und als er die Einfahrt zur Garage erreichte, konnte er über seinen unfreiwilligen Abgang schon wieder lachen.

Gerlach wohnte in einer Vorortsiedlung, die kurz nach dem Krieg entstanden war, auf größeren Grundstücken, als sie heute angeboten wurden, wo ein kleines Scheibchen Bauland ein Vermögen kostete. Die Bäume in den Gärten waren in den letzten vierzig Jahren so gewachsen, daß sie die Wellblechschuppen und Eternitverkleidungen im Sommer verdeckten.<para160>

Die obere Etage eines Zweifamilienhauses hatte Gerlach von einem Ehepaar gemietet, dessen Kinder aus dem Haus waren. Er hatte seinen eigenen Eingang, und sie ließen ihn in Ruhe.<para160>

Stille empfing ihn. Die Bücherreihen an den Wänden hatten alle Geräusche des Tages in sich aufgesogen und jetzt spielte sich hinter ihren Rücken ein lautloses Leben ab. Das Fenster stand angelehnt und mit dem Mondlicht strömte Luft in das Zimmer, die direkt aus der russischen Tundra zu kommen schien.

Gerlach machte kein Licht. Er liebte die Dunkelheit, in der sich das Zimmer manchmal mit Gegenständen und Menschen bevölkerte, die hier einmal gesessen hatten. Er stellte seine Tasche neben den Schreibtisch, ging ins Badezimmer und wusch sich im Dunkeln das Gesicht ab. Dann stellte er sich ans Fenster und sah in die Nacht hinaus.

Es dauerte keine zwei Minuten, da löste sich vom hinteren Gartenzaun ein Schatten und strebte zielsicher zum Birnbaum vor Gerlachs Fenster. Gerlach hörte das Kratzen am Stamm, und dann sprang eine Gestalt mit vernehmlichem Donnern auf das Vordach und kam mit hocherhobenem Schweif leise krähend auf ihn zu. Gerlachs Katze war ein ausgesprochenes Schwergewicht. Egal um welche Zeit er nach Hause kam, sie hatte ihn erwartet. Stets tat sie so, als hätte sie einen anstrengenden Tag harter Arbeit auf den Äckern und in den Hecken der Umgebung hinter sich, doch Gerlach hegte den begründeten Verdacht, daß sie die letzten zehn Stunden schlafend an einem geschützten Platz zwischen Flieder und Holzstapel verbracht hatte. Er ließ sie so lange wie möglich draußen -- dadurch ersparte er sich das lästige Säubern des Katzenklos, auch wenn ihm bewußt war, daß sie dafür in den Sandkasten der Nachbarskinder schiß.<para160>

Gerlach hätte lieber einen Beo als Haustier besessen. Aber dieses Tier war nun mal an ihm hängen geblieben und machte kaum Arbeit, wenn man davon absah, daß die Haare nie aus dem Teppich zu entfernen waren, ganz gleich, wie lange man auch saugte und klopfte. Gerlach hob sie mit einer Hand vom Fenster auf den Boden. Dort kreiselte sie ein paarmal um seine Beine und begab sich dann zum Freßnapf, um knackend Trockenfutter zu verzehren. Auch das war eine ihrer liebenswerten Eigenschaften: Diese Katze stellte keine Ansprüche.

Seine Gedanken, die ihm vor dem Sturz vorausgeeilt waren, begannen sich träge zu drehen. Im Eschenbacher-Verlag, so viel stand fest, war etwas vorgegangen, und das nicht zu jedermanns Freude. Wenn ein Verleger verkaufen will, brachte das immer Unruhe. Andererseits: Warum einen Esel, der Dukaten scheißt, überhaupt verkaufen? Es gab nichts undurchsichtigeres als Zeitungsintrigen. Gerlach setzte entschlossen das Glas ab, marschierte ins Schlafzimmer, warf seine Sachen von sich und versank sofort in Schlaf.

Gegen Morgengrauen spürte er, wie die Katze auf der Suche nach einem warmen Schlafplatz schnurrend über ihn hinweg trampelte. Gerlach schubste sie nach Kräften herum, damit sie ihm nicht das Blut in den Beinen abschnürte, und dämmerte wieder ein. Er fuhr in einer schweren, schwarzen Limousine durch Berlin, vor sich ein Chauffeur mit steifer Dienstmütze, neben sich eine Frau, die jedermanns Tante hätte sein können, einen scheußlichen Chiffonhut auf den Kopf trug, eine Perlenkette um den Hals und beständig lächelte. Es ging durch eine verfallene, ländlich anmutende Straße, aus der alle Menschen vor langer Zeit fortgezogen waren. Gleich stoßen wir auf die Reste der Mauer, dachte Gerlach. Stattdessen hielt die Limousine am Rande einer überschwemmten Seenlandschaft. Am anderen Ufer, da war Gerlach sicher, lag die DDR. Gehen Sie ruhig schwimmen, sagte der Chiffonhut, es ist warm. Gerlach zog sich aus und ging hinein. Die Strömung trug ihn fort. Ohne Anstrengung glitt er dahin, das Wasser war so wunderbar weich, das Licht leuchtete wie sonst nur im September, ein Boot mit zwei angelnden Jungen kam vorbei, auf einer baumbestandenen Insel sah Gerlach ein weißes Pferd grasen und er war so glücklich, daß er hätte weinen mögen.<para160>

<Kapitel V>

Gerlach rutschte aus seinem Traum unsanft in den Tag, als der Nachbar zur Rechten sein Motorrad anwarf. Es war eine Nachkriegsmaschine. Die Fehlzündungen knallten, daß Gerlach einen Augenblick lang dachte, die sechste russische Panzerdivision wäre einmarschiert. Der Nachbar war ein Freund der Geräuschentfaltung: Im Sommer betrieb er einen Turbo-Rasenmäher, der jedes Wort im Umkreis von einhundertfünzig Metern ersterben ließ. Daneben besaß er noch einen Hochleistungs-Shredder, mit dem er das Kleinholz seiner alten Obstbäume zertrümmerte, von denen er dann und wann einen mit der Kettensäge umlegte. Das wütende Brummen der Motoren, dachte Gerlach, das wäre doch mal ein schöner Titel.<para160>

Die Katze hatte das Signal zum Aufstehen überhört und blinzelte widerwillig, als Gerlach aus dem Bett kroch. Draußen war es ungewöhnlich hell, und als der Nachbar rasselnd um die Ecke verschwunden war, breitete sich Schweigen aus. Gerlach war es, als verschwände der Lärm in seinem Innenohr und mache einer wattigen Stille Platz. Er schob die Gardine einen Spalt zur Seite und war entzückt. Der Garten lag da wie in Mullbinden verpackt. Ein früher, probehalber geschickter Schnee war vom Himmel gefallen und hatte selbst die Krähen zum Verstummen gebracht.<para160>

Gerlach fühlte nach seiner Augenbraue. Nicht allzu schlimm. Der Abend hatte nur leichte Mattigkeit im Kopf hinterlassen, die sich mit Kaffee vertreiben lassen würde.<para160>

Geduscht stand er später vor dem Kleiderschrank und wählte: Wollstrümpfe, eine stabile Hose, ein warmer Pullover und die Schuhe mit den Gummisohlen, die er einmal für sündteures Geld in München erworben hatte. Wie um nach der gestrigen Nacht kein Risiko einzugehen, polsterte sich Gerlach, ehe er das Haus verließ, mit einem blauen Mantel aus Tuch, der wie ein Militärmantel geschnitten war, in Wirklichkeit aber einem Bauern aus dem Eichsfeld gehört hatte. Hinsetzen konnte man sich in dem steifen Ding nicht, im Stehen zog es Gerlach fast in die Knie, aber sobald man den Kragen hochschlug, gab es nichts besseres gegen steifen Nordostwind und Mißgeschicke aller Art. Jetzt hätte er notfalls auch eine Eishockeypartie überstanden. Die Katze hob nicht mal die Pfote zum Abschied, als er die Tür ins Schloß fallen ließ.

Gerlach war nicht nach Fahrradfahren zumute. Also ging er die paar Meter zur Endhaltestelle der Straßenbahnlinie. Der Fahrer absolvierte seine vorgeschriebene Ruhepause und ließ Gerlach in den geheizten Wagen, ohne von seiner Bild-Zeitung aufzublicken. Gerlach hätte gern noch eine Weile draußen gestanden und den unverhofften Schnee betrachtet, der an den Rändern naß und schmutzig zu werden begann. Von schräg hinten warf er einen Blick auf die Schlagzeile. Die Strategen in der Zentralredaktion hatten weder an Phantasie noch an Druckerschwärze gespart: „Mörder suchte den Smaragd“, stand da, in dreizehn Cicero, und, nur unwesentlich kleiner, „Deutschlands reichste Frau hatte schreckliche Angst vor dem Sterben.“ Wer hat das nicht, dachte Gerlach.<para160>

Der Fahrer klappte das Blatt zusammen und legte den Fahrthebel um. Der dreigliedrige Zug kroch quietschend bis zur ersten Haltestelle. Frierende Fahrgäste, die der Bus aus dem Umland herangekarrt hatte, stiegen zu und klopften den Schneematsch von den Schuhen. Gerlach blickte aus dem Fenster. Der Himmel war grau und unbeteiligt.<para160>

An der übernächsten Haltestelle, an der Gerlach in den Bus umsteigen mußte, stand ein Kiosk. Er rückte drei Groschen heraus und schlug das Erzeugnis auf. „Von Theo Köhler und Alf Tapperwein“, las er, während sich um seine Füße eine Pfütze bildete, „Wenn eine ältere, feine, reiche Dame stirbt, so tut sie das meistens im Bett. Umringt von ihren Lieben, von Ärzten und Priestern.“ Das war dieser Jargon, der einem so Spaß am Beruf machen konnte. Woher wollten diese Arschlöcher wissen, wie es ist, wenn jemand stirbt, und sei es eine Dame oder ein Kaminkehrer? „Unsere Dame starb anders“, mußte Gerlach regelrecht buchstabieren - „unsere Dame!“, wessen denn, die dieser Schmierfinger oder die der Leser? - „unsere Dame starb anders. Sie wurde geschlagen, gewürgt und erstickt.“ Wut kroch Gerlach unter seinem Mantel den Rücken empor. „Unsere Dame ist auch anders. Sie war mächtig“ - nicht mal imstande, die korrekten Zeiten einzuhalten, registrierte ein Teil von Gerlach - „ihr gehörte die Zeitung zum Teil und 30 Millionen ganz“ - gehörten, muß es heißen, dachte Gerlach ohnmächtig - <para160>

„Sie war mondän: Sie hatte in Paris eine 800 000-Mark- Wohnung und an der Loire ein Schloß. Die reichste Dame hatte einfach alles: Einen Baron zum Freund, einen Butler, einen Hund ... und zum Schluß hatte sie auch einen Mörder. Grete Eschenbacher, wie lebte sie?“

Gerlach stellte sich vor, wie dieser Artikel entstanden war. Die beiden Würstchen von Reportern waren pausenlos umhergefahren und hatten das übliche Mißtrauen geerntet, das ihnen als Vertreter ihres Schundblattes zustand. Dann hatten sie in irgendeiner Kneipe mit einem Scheck gewedelt, oder der Pressesprecher der Polizei war überaus beeindruckt gewesen von ihren bodenlangen Ledermänteln, die seinem Bild des Polizeireporters entsprachen. Schließlich hatten sie den ganzen Mist nach Hamburg telefoniert, und dort war ein aufgeblasener Kerl mit seinem Diktaphon durchs Büro stolziert und hatte seine miesen Vorurteile aufs Band gesprochen. So war das dann in Satz gegangen.<para160>

Und so las es sich auch: „Sie reiste ständig mit einem gelbbraunen Koffer, in dem für rund drei Millionen Mark Schmuck lag.“ Diese zwanghafte Fixierung auf Millionensummen -- „Mio.“ kürzten sie das ab, wenn der Platz nicht reichte. „Aber die Angestellten flüsterten hinter ihrem Rücken über ihren Geiz. Einmal fand ein Nachtportier die braune Krokodilhandtasche von Frau Eschenbacher mit 20 000 Mark. Aber er bekam kein Trinkgeld. Die Stadt war gestern voller Gerüchte über ihren Lebensstil. Eines: In ihrer Wohnung sprudele das Wasser aus goldenen Hähnen. Ein anderes: Aus Angst vor Infektionskrankheiten sei sie stets mit einer eigenen Toilettenbrille auf Reisen gegangen. Ein drittes: In ihrer Wohnung in habe sie einmal in einem Wutanfall zwei kostbare Fayencevasen gegen die Wand geschmissen. Die 10 000-Mark-Kostbarkeiten zersprangen nicht, weil sie aus Bronze waren.“ Rein professionell mußte Gerlach das letzte Beispiel widerstrebend zur Kenntnis nehmen. Die typische Anti-Klimax.<para160>

Am Firmentor stieß Gerlach mit dem Chef zusammen, der seinen Körper in eine Art Zelt gehüllt und um den Hals einen Wollschal geschlungen hatte. „Schon was rausgefunden?“ wollte er wissen.<para160>

„Sie ist ermordet worden“, antwortete Gerlach.

„Ach. Von wem?“

„Wenn ich das wüßte, Chef.“

Die beiden stapften durch den Haupteingang, Gerlach voran, nachdem sie versucht hatten, sich gegenseitig hineinzukomplimentieren. Der Chef verschwand schnaufend hinter seiner gepolsterten Doppeltür.

„Du siehst mitgenommen aus“, empfing ihn Hanna spitz. Gerlach stieg aus seinem Mantel.

„Anstrengende Recherchen“, erklärte er.

„Kann ich mir denken. Stimmt das, das die Eschenbacher lesbisch war?“

Gerlach starrte sie an: „Wo hast du das her?“

„Sagt man so.“<para160>

Offenbar geisterten tatsächlich die wildesten Gerüchte durch die Stadt, denn als Frau Kempinski einen Stoß Zeitungen brachte, hatte sie ebenfalls etwas beizusteuern: „Sie hat gleich drei Liebhaber gehabt. Einen Baron, einen Offizier und einen Professor für Metero.., Meteolo..., “geriet sie ins Schwimmen, „Metrologie“, stieß sie entschlossen hervor. „Das konnte ja nicht gutgehen.“

„Eben“, bekräftigte Gerlach, „am Sonntag hatte sie alle drei auf einmal zu sich nach Hause bestellt, und da sind sie zusammen über sie hergefallen und haben sie kaltblütig umgebracht.“

„Ehrlich?“ Frau Kempinski machte ein Gesicht wie ein Goldbarsch.

„Mit einem vergifteten Brieföffner.“

„Ach hören Sie doch auf.“

Gerlach schob die Zeitungen auf einen Haufen und angelte nach dem Telefon, das auf einem federnden Gestell montiert war, sodaß man es über den Schreibtisch schubsen konnte. Sarahs Nummer hatte er sogar noch im Kopf -- eine Zeitlang, auch wenn es ein paar Jahre her war, hatten sie täglich miteinander telefoniert, wie es Verliebte tun, die sich ihrer Sache nicht recht sicher sind.<para160>

„Ja, hallo, Sarah Sternthal hier“, meldete sie sich mit ihrer atemlosen Stimme.<para160>

„Sarah, ich bin's, Gerlach.“

„Sowas.“ Sie staunte. „Von dir hört man jahrelang nichts. Was ist passiert?“

„Das würde ich auch gern wissen, “sagte Gerlach scheinheilig, „was machst du zur Zeit?“<para160>

„Nachtdienst bei der Zeitung.“

„Ehrlich?“

„Ich sag's doch. Die Polizei hat mich vernommen, weil ich angeblich der letzte Mensch war, mit dem die Eschenbacher gesprochen hat.“

„Wenn ich dich zum Essen einlade, erzählst du mir alles?“

„Alles ist zuviel verlangt. Wann hast du denn gedacht?“

„Jetzt.“

„Du hast es noch immer eilig, oder? Um eins?“

„Bei Carlo?“

Sehr entzückt war sie nicht. „Na gut. Bis dann.“

Gerlach legte den Hörer auf, fummelte ein wenig zwischen seinen Papieren und spürte, daß heute nicht sein Tag war. Dieses Büro, in dem der Muff von hundert Jahren hing, war kein Platz für einen schöpferischen Geist, redete er sich ein. Dazu die Kempinski, diese Säge, und Hanna, auch wenn sie heute lammfromm die Zeitungen studierte.<para160>

Der Verlag besaß große Ähnlichkeit mit einer Behörde: Allein die Beschaffung einer Sechzig-Watt-Glühbirne für seine Schreibtischlampe hatte Gerlach einmal zwei Tage gekostet. Seitdem kaufte er solche Utensilien lieber selbst ein, was sicher im Sinne des Unternehmens lag, welches, wie man allgemein munkelte, bei der Landesbank mit einigen Millionen Mark verschuldet war. Allein die Produktion von Schulbüchern warf Gewinn ab. Sie verlangte keine besonderen Marktstrategien und keinen komplizierten Vertrieb, mit dem das Unternehmen ohnehin überfordert gewesen wäre.<para160>

Die Tür ging auf, und herein kam Detlev Reibold. Wie immer lachte er völlig grundlos von einem Ohr zum anderen und streichelte selbstverliebt seine schwarzen Haare, die in der Tat sehr viel mehr Fülle besaßen als Gerlachs von Geheimratsecken bedrohter Schopf.

„Wie gehts voran?“, erkundigte sich Reibold.

Grad dir werd ich es erzählen, dachte Gerlach. Er konnte den Kerl nicht ausstehen, diesen Schaumschläger von Gottes Gnaden, von dem nur so viel feststand, daß er besser Seifenverkäufer geworden wäre. „Glänzend“, gab er zurück. Manchmal lief ein Gespräch mit Reibold auf den Austausch gepflegter Gemeinheiten hinaus, aber dazu fehlte Gerlach die richtige Stimmung. „Um eins mache ich ein Täterinterview. Kann ich Dein Tonband benutzen?“ Reibold trug, wo er ging oder stand, ein Tonband mit sich herum, weil er sein Gehalt mit dem Abfassen geschwätziger Rundfunkfeatures aufbesserte, die er in Köln auf Grund langjährigen Gekungels gegen unleserliche Manuskripte eintauschte, welche er dem eigenen Blatt wiederum als sensationelle Geschichten andrehte. Nicht Seife, fiel Gerlach ein: Softeis müßte der Mann verkaufen.

Reibold strahlte ihn an: „Nit mööglich“, zog er seinen Kölschen Singsang ab. „Isch han es glatt verjessen.“

„Wie schade“, bedauerte Gerlach.

Um halb eins wickelte er sich in seinen Mantel und machte sich auf den Weg. Der dünne Schnee hatte sich in Pfützen verwandelt, und der Himmel konnte sich nicht entscheiden, ob er noch einen Regenschauer hinterherschicken sollte. Gerlach hielt sich unter den Bäumen der Kaiser-Wilhelm-Straße. Es war eine ruhige, von Autos wenig befahrene Straße. So lange war es noch nicht her, daß sie Hermann-Göring-Allee hieß. Als Prachstraße in spätwilhelminischem Barock errichtet, von der SA zu Aufmärschen benutzt, zerbombt und wieder aufgebaut, war sie heute ein Lieblingsobjekt der Wohnungsspekulanten, die Altbauten in handliche Wohnklos verwandelten und als Eigentumswohnungen losschlugen.<para160>

Carlos Restaurant war in einem dieser Häuser untergebracht, bei denen man nie sicher war, ob sie damals den Jugendstil nicht mit der Gründerzeit durcheinandergebracht hatten. Er hatte das Haus mit sicherem Riecher gekauft, als niemand solche alten Dinger haben wollte. Jetzt war es ein Vermögen wert, was Carlo nicht daran hinderte, jedem, der es hören wollte, und auch jedem, der nicht, vorzuweinen, wie teuer es im Unterhalt war.<para160>

Carlo betrieb ein Restaurant, in dem niemals Grünkohl serviert wurde. Auch solche Zumutungen wie Cocktailtomaten oder „Lammedaillons an Rosmarinjus“ kamen bei ihm nicht auf die Karte -- die Küche schwankte nach einem undurchschaubaren Muster zwischen annehmbar und inferior. Hauptsächlich ging man dort hin, weil man dort hinging. Jede Stadt braucht solche Plätze. <para160><para160>

<Kapitel VI>

Sarah wartete. Sie war genauso groß wie Gerlach und sicherlich genauso schwer. Er hatte sie nie nach ihrem Gewicht gefragt. Beim Versuch, sie zu umarmen, verfing er sich in den Falten ihres Umhangs. Unwillkürlich schüchtern trat Gerlach einen Schritt zurück und sagte, nicht sehr einfallsreich: „Gut siehst du aus.“

„Danke“, freute sich Sarah und enthielt sich eines Kommentars über sein Aussehen. Um die Augenwinkel hatten sich kleine Falten bei ihr gebildet, Lachfalten zum Glück.

„Laß uns reingehen, mir ist kalt.“ Der Loden war schick, aber nicht allzu dick.<para160>

Carlo empfing Gerlach wie einen verloren geglaubten Sohn und fiel fast vornüber, um Sarah die Hand zu küssen. Dies war sein Empfang, wenn das Geschäft für seinen Geschmack zu ruhig ging - dann rutschte er auf seiner eigenen Schleimspur aus. Wenn der Laden voll war, hatte er alle Hände voll zu tun, seine Kellner zu scheuchen, und bequemte sich nur zu besonders bedeutenden Lokalgrößen hin, um ihnen tote Austern oder ähnlichen Unfug aufzudrängen.<para160>

Um die Mittagszeit war das Restaurant nie voll. Zwei Tische waren besetzt, den dritten nahmen Sarah und Gerlach. Ein einziger Kellner stand gelangweilt am Buffet. Es war Stechauge, wie Gerlach ihn im Stillen getauft hatte, aus naheliegenden Gründen: Stechauge hatte einen geradezu kriminellen Blick und war außerdem von ausgesuchter Herablassung.

Sie studierten die Speisekarte, obwohl das überflüssig war. Carlo servierte seit zehn Jahren das gleiche: Pasta, Pizza, Pesce. Meist versuchte er, die Fische loszuwerden. Das sei ein Erbe seiner apulischen Heimat, pflegte er pathetisch auszurufen, um sich dabei mit der rechten Hand ans Herz zu fassen. So weit Gerlach informiert war, bestand Apulien hauptsächlich aus schwer zugänglichen Bergregionen. Wenn er eines Tages gezwungen sein würde, die Summe seiner Lebenserfahrung zusammenzufassen, dann würde dieser Satz an erster Stelle stehen: Frag nie, ob der Fisch auch wirklich frisch ist.<para160>

Sarah blätterte in der Karte. „Ich nehme eine gemischte Vorspeise und Spaghetti arrabiata. Mal sehen. Und einen viertel Roten.“

„Einen halben Roten und für mich eine Pizza mit allem“, bestellte Gerlach. Stechauge zog von dannen. Pizza war unter seiner Würde. Er würde sie, das wußte Gerlach, mit seinem schmutzigen Daumen auf dem Teller anbringen und verachtungsvoll auf den Tisch knallen. Da, wo er herkam, so lautete die Botschaft, fressen das nicht mal die Kaninchen, aber bitte sehr.

Was Sarah und ihn am meisten verbunden hatte, war die Lust am Essen gewesen, erinnerte sich Gerlach. Was sie getrennt hatte, wußte Gerlach nicht mehr genau -- vermutlich seine Angewohnheit, im Bett Zigaretten zu rauchen, ein Laster, das Sarah nicht ausstehen konnte. Ehe sich weitere Irritationen einschleichen konnten, hatten sie sich stillschweigend aus den Augen verloren.

„Warum hast angerufen?“ fragte sie.

„Eschenbacher.“

„Ich hätte es mir denken können.“ Sarah war nicht einmal gekränkt.<para160>

„Wer hat für Grete Eschenbacher angerufen am Freitagabend und was hat sie gesagt?“

Sarahs Blick wanderte durch das Restaurant und blieb an der mißglückten Zeichnung einer ausgestopften Taube hängen, die zwischen allerhand Gerümpel porträtiert worden war. Carlo sammelte Kunst, speziell solche, die an der heimischen Kunsthochschule entstand, und lotste auf diese Weise den Lehrkörper in sein Etablissement.

„Geben Sie mir den Prause, hat sie gesagt. Das war gegen sieben. Prause war nicht in seinem Büro. Der ist im Umbruch, habe ich ihr gesagt. Dann richten Sie ihm aus, er möchte mich zu Hause anrufen. Hat er Ihre Nummer? habe ich gefragt. Die kann ihm der Oelkers geben, hat sie geantwortet. Dann kam ein Anruf von ihrer Sekretärin, daß sie jetzt nach Hause gehen und ihr Telefon umstellen würde auf meinen Apparat in der Zentrale. Dann rief ein gewisser Wolff an. Er tat sehr bedeutngsvoll. Senator Wolff, nannte er sich.“

„Wer ist das denn nun wieder?“ fragte Gerlach.

„Keine Ahnung. Was macht so ein Senator überhaupt?“

Gerlach zuckte mit den Achseln.

„Dieser Senator ließ ausrichten, daß er am Sonntag leider verhindert wäre. Und dann rief er noch mal an, daß alles klar ginge, er könne nun doch kommen. Ich fand das etwas unentschlossen von ihm, habe aber alles notiert. Dann rief ich Prause übers Haustelefon an und teilte ihm mit, er solle sich bei der Eschenbacher melden. Das hat er offenbar auch getan. Und dann rief die Eschenbacher kurz nach acht noch mal bei mir an. Prause war wieder im Umbruch. Richten Sie Herrn Prause aus, daß ich ganz vergessen habe, daß in München die Antiquitätenmesse ist, hat sie gesagt. Ich bin am Sonntag nicht da. Ich rufe nächste Woche an. Das habe ich Wort für Wort aufgeschrieben und ihm den Zettel in die Mettage bringen lassen. Und das war alles. Zufrieden?“

Gerlach goß Rotwein ein. Er sah ihr in die Augen. Früher hatten sie hier gesessen und sich stundenlang in Augen gesehen.

„Und das hast du alles auch der Polizei berichtet?“

„Haargenau.“

Sarahs Vorspeise kam und war in zu viel ol ertränkt. Das schadete ihrem Appetit nichts. Gerlach fischte nach einer Olive und nagte daran. Sie schmeckte bitter.

„Wem gehört der Verlag nach Grete Eschenbachers Tod?“

„Keine Ahnung.“ Sarah langte in den Brotkorb.<para160>

„Warum haben wir uns eigentlich so lange nicht gesehen?“

„Ich weiß es nicht.“

Gerlachs Pizza war angebrannt, aber sonst in Ordnung. An Sarahs Spaghetti hatte der Koch nicht viel falsch machen können. Was zwischen ihnen noch hätte gesagt werden können, blieb ungesagt.

„Ich muß zurück“, meinte Sarah schließlich und blickte auf eine schmale Armbanduhr.

„Ich auch“, sagte er geistesabwesend.

Vor der Tür umarmten sie sich, diesmal etwas weniger unbeholfen. „Laß <para160>wieder von dir hören“, sagte sie und machte sich zur nächsten Straßenbahnhaltestelle auf. Gerlach drehte auf dem Absatz um und schlug den Weg Richtung Innenstadt ein.<para160>

Nur ein kleiner Teil der Stadt war vom Krieg verschont geblieben und hatte, was wichtiger war, auch die Bauwut der Nachkriegsjahre überstanden. Man hatte damals versucht, aus den Trümmern eine Großstadt zu errichten, weiträumig und modern, was vor allem hieß: Ohne Rücksicht auf Geschichte. Geschichte, dachte Gerlach, als er an dem Backsteingebäude der Allgemeinen Ortskrankenkasse vorbeikam, einem Sozialbau aus den zwanziger Jahren, Geschichte, was ist das? Hundert Millionen Schicksale, verquirlt zu einer Tragödie, war das die ganze Geschichte?

Das Gebäude der Bibliothek lag - ein seltenes Beispiel von Funktionalität - zwischen protzigen Altbauten und überkandidelten Neubauten. Gerlach mochte die Bibliothek. Sie war ihm immer wie seine wahre Heimat erschienen. Das Leihsystem war überschaubar, und nicht alle Bibliothekare litten unter der Berufskrankheit, Bücher grundsätzlich nicht aus den Fingern zu geben. Man bekam, nach einer angemessenen Zeit, was man wünschte und was vorhanden war.<para160>

Gerlach nahm sich den Handapparat vor. Er hatte keine Ahnung, wonach er eigentlich suchen sollte. Aufs Geratewohl schlug er einfach unter W wie Wolff nach. Keine Eintragung, natürlich, weder im Munzinger noch im Who's Who noch in sonst irgendeinem Verzeichnis und schon gar nicht im Allgemeinen Deutschen Gelehrtenkalender. Das gleiche unter E wie Eschenbacher. Die beiden waren weder prominent noch gelehrt gewesen. Gerlach wandte sich dem Stadtregister zu. Kein Wolff. Unter Eschenbacher ein einziger Eintrag: Stadtarchiv Y-3011.<para160>

Gerlach blickte zur Uhr. Es war vierzehn Uhr dreißig. Das Stadtarchiv schloß um fünf. Mißmutig verließ er den schützenden Bibliotheksbau.

Das Stadtarchiv war eine kuriose Einrichtung. Heimatforscher stöberten hier nach längst vergessenen Inkunabeln, Privatgelehrte kramten in angefressenen Stadtbüchern und Gewerbeakten, als würde ihnen das Papier Antworten liefern können zu Fragen, die keiner mehr stellte. Der Bestand wurde verwaltet von einem forschen Mittzwanziger, der offenbar dabei war, die höhere Verwaltungslaufbahn einzuschlagen. Eine gluckenhafte Mutter ging ihm zur Hand. Wenn es nach ihr ginge, sagte ihr Blick, dann würde jeder Publikumsverkehr auf der Stelle <para160>verboten.<para160>

Gerlach mußte einen Leihschein ausfüllen, und nach einer Viertelstunde bekam er einen Pappdeckel mit der Aufschrift Eschenbacher ausgehändigt. Er schlug ihn auf. Ganze vier Zeitungsausschnitte waren abgeheftet. Zuoberst lag eine Todesanzeige:<para160>

„Paul Eschenbacher, Herausgeber und Chefredakteur unserer Zeitung, ist unerwartet von uns gegangen. Unfaßbar stehen wir an der Bahre dieses bedeutenden Mannes -“ wer oder was ist hier unfaßbar, fragte sich Gerlach, gehörte denn nicht auch zu einem Nachruf ein Mindestmaß an sprachlicher Logik - „unfaßbar stehen wir an der Bahre dieses Mannes, der seinen Mitarbeitern ein Vorbild an Klarheit und Gradheit war und zugleich väterlicher, stets hilfsbereiter Freund. Seine ganze Kraft hat er nach schwerem Leid in den Jahren der Unfreiheit eingesetzt für eine neue, freie Welt. In diesem Geiste hat er sich mit seiner Zeitung selbst ein Denkmal gesetzt, das fortwirkt zum Besten aller.“

Gerlach beschloß, diesen Nachruf zu kopieren. Daneben fand er einen schmalen Vermerk, daß Paul Eschenbacher 195_ziff3_ das Bundesverdienstkreuz erster Klasse erhalten habe, und einen redaktionellen Nachruf, der von einer Flut weißer Rosen und Veilchen auf seinem Sarg, dem Posaunenchor „Gott der Vater wohnt uns bei ...“ und von der Ansprache des Pastors berichtete, welcher die unbeirrbare Haltung des Dahingeschiedenen gelobt hatte sowie seine tatkräftige Hilfe, wo immer diese notwendig erschienen sei: „So haben wir wohl das Recht, Paul Eschenbacher in seiner Art als einen Mitarbeiter Gottes zu bezeichnen.“ In seiner Art, das war gut. Allzusehr gegrämt schien sich niemand zu haben.

Nach längerem Hin und Her gelang es ihm, für fünfzig Pfennig die Seite mit der Todesanzeige zu kopieren, und Gerlach verließ aufatmend das Archiv. Es kam ihm vor wie ein Papierfriedhof, dem die wahre Würde fehlte.<para160>

Er beschloß, das Eschenbachersche Denkmal zu besichtigen. Vor Jahren hatte er für die Zeitung gearbeitet, als Urlaubsvertretung in einer Außenredaktion, und er dachte noch mit Schaudern an die Berichte, die er damals über Schützenfeste und Angelwettbewerbe zu Papier gebracht hatte. Das Zeug wurde zusammen mit den übrigen Hervorbringungen der Außenstelle in eine Tüte gesteckt und am frühen Nachmittag per Bahn in die Zentrale geschickt, wo ein ganzes Heer von sogenannten Bezirksredakteuren nichts weiter zu tun hatte, als die Manuskriptseiten nachzuzählen und in den Satz zu geben. Ehe er den, erstaunlicherweise nicht einmal schlecht bezahlten Job antreten durfte, hatte ihn die gesamte Chefredaktion beäugt, Leberecht, Klapphoff, Kunze, drei undeutliche Gestalten, einer farbloser als der andere, sodaß sie Gerlach als vollkommen austauschbar in Erinnerung geblieben waren.

Der vierte im Bunde war eine Ausnahme gewesen: Karl- Sebastian Vogelsang, ein buschiger Mensch mit Augenbrauen wie Hecken und einer Stimme, die in dieser Ansammlung von Leisetretern dröhnend gewirkt hatte. Die Bezeichnung konservativ hätte ihn vermutlich gekränkt -- unvergessen waren seine Auftritte zu Wahlzeiten, als er mit dem Ruf „Mit Strauß nach Bonn!“ durch die Redaktionsflure gestürmt war und Kommentare zum Zeitgeschehen verfaßt hatte, die den Reden des Bayern im Ton in nichts nachstanden. Vogelsang galt als der starke Mann im Hause. Er besaß jedenfalls Kontur. Außerdem hörte er angeblich das Gras wachsen.

Das Pressehaus lag mitten in der Einkaufszone. Ganze Schübe von Passanten kamen Gerlach entgegen, über und über bepackt mit Plastiktüten fragwürdigen Inhalts. Was die Leute so alles nach Hause schleppten. Und wie kam es, daß die meisten so schief in ihren Kleidern hingen? Froschgrüne Synthetikpullover, dicke Schlüsselbunde, die mit Karabinerhaken an Gürtelschlaufen befestigt wurden, kurze Hosen, enge Mäntel oder unförmige Überzieher aus einem Wattestoff, der sich bei der ersten Berührung mit Regen unweigerlich in einen nassen Klumpen verwandeln mußte. Darüber trug man in dieser Saison kleine Handtäschchen an dünnen Riemen und einen gehetzten Gesichtsausdruck, als stünde eine Währungsreform bevor und es sei ein Gesetz ergangen, schnell noch die letzten Geldreserven unter das Volk zu bringen.<para160>

Gerlach betrat kopfschüttelnd das Pressehaus. Es besaß den Charme alter Kontorhäuser - Linoleum, knarzende Holztreppen und ein Rohrpostsystem aus den Anfangstagen des Zeitungswesens, das Gerlach tief gerührt zur Kenntnis nahm. Außerdem platzte das Gebäude aus den Nähten. Die Zeitung florierte, keine Frage. Ein einarmiger Portier in seiner Glasloge musterte Gerlach, als sei er gekommen, um Stinkbomben zu legen, und ließ sich herab, nach Vogelsang zu telefonieren. In der Tat, er sei oben, und, erstaunlich, er habe sogar Zeit.<para160>

Vogelsang empfing ihn mit ausgesuchter Herzlichkeit. Das gehörte zu seinem Image: „Onkel“ hieß er in der Redaktion, nicht ohne Hintergedanken. „Wie ich höre, machen Sie Karriere?“ Auch das war er seinem Image schuldig: Vogelsang hatte immer irgend etwas gehört.

„So würde ich das nicht nennen“, sagte Gerlach.<para160>

„Ich wußte doch gleich, das in Ihnen was steckt“, häufte Vogelsang ein weiteres Lob auf Gerlach und sich, „wir hätten da immer noch diese Stelle frei ...“

„Vielen Dank“, fiel ihm Gerlach ins Wort, „ich glaube, dafür bin ich inzwischen zu alt.“ Diese Stelle, von der Vogelsang sprach, war ein Außenposten in einem finsteren, von Mooren und Wäldern umgebenen Nest, voll von mißtrauischen Eingeborenen, die sich gelegentlich gegenseitig ihre Kuhställe in Brand setzten, damit wenigstens etwas Abwechslung herrschte. Der letzte Inhaber hatte sich in einem Anfall von Trübsinn mit der Jagdflinte erschossen. Seitdem war die Stelle verwaist.

„Also was führt Sie dann zu mir?“ Vogelsang beugte sich erwartungsvoll nach vorne in seinem holzgeschnitzten Monstrum von Sessel, mit dem er seinem Büro einen gemütlichen Anstrich zu geben versuchte. Dem gleichen Zweck diente ein Besucherstuhl, der mit Elchhaut überzogen war. Es konnte auch Karpatenhirsch sein -- Vogelsang war ein großer Jäger vor dem Herrn und machte, wie Gerlach wußte, Jagd auf alles Getier zwischen dem Balkan und den Pyrenäen.<para160>

„Das ist ja eine furchtbare Geschichte mit Ihrer Verlegerin“, ließ sich Gerlach vernehmen.

„Ja, furchtbar, wirklich ganz furchtbar. Ein Schicksalsschlag. Wir können es noch nicht fassen.“ Vogelsang, das wurde Gerlach klar, war der Verfasser des Nachrufs.<para160>

„Wir bringen in der nächsten Nummer eine Würdigung“, legte Gerlach sich zurecht, „ich betreue das. Gibt es Material über die Geschichte des Hauses Eschenbacher?“

Vogelsang dachte nach. Lange. Ziemlich lange, wie Gerlach fand.<para160>

„Eine Geschichte des Hauses Eschenbacher“, sagte Vogelsang, „Die sollte wirklich mal jemand schreiben.“

„Ich las irgendwo, Paul Eschenbacher hätte die erste britische Zeitungslizenz nach dem Krieg erhalten“, hakte Gerlach nach.

„Das stimmt. Aber im Augenblick interessiert natürlich vor allem, wer Grete Eschenbacher umgebracht hat.“

„Weiß man denn was?“

Gerlach sah deutlich, wie Vogelsang schwankte. Andererseits: Er kam ja nicht von der Konkurrenz. Es gab keine Konkurrenz für die Zeitung.

„Ihnen kann ich's sagen: Die Kriminalpolizei hat eine Sonderkommission gebildet und verfolgt eine heiße Spur.“

Sehr aufregend, dachte Gerlach, sagte aber nichts.<para160>

„Wir haben eine Belohnung ausgesetzt, und es gibt mehr als zweihundert Hinweise aus der Bevölkerung. Der Obduktionsbericht liegt vor, und er ist ein bißchen vage, aber wahrscheinlich ist Grete Eschenbacher mit einem Kissen erstickt worden. Es war ganz offensichtlich ein Raubüberfall -- wertvolle Ringe fehlen und eine größere Summe Bargeld.“

Vogelsang klang, als habe er einen Part als Polizeisprecher einstudiert. Wie kleine Cocktailhäppchen servierte er seine Informationen - erst die Salzbrezeln, dann die Käsewürfel.

„Wir haben sogar schon einen Verdächtigen.“ Der Mann ließ sich in seinen Schnitzstuhl zurückfallen, daß es krachte. Man sah ihm die Befriedigung an. „Morde aus Raublust gehören zu den Verbrechen, die so gut wie immer und am schnellsten von allen Morden aufgeklärt werden. Ich kann Ihnen natürlich keinen Namen nennen, aber es war ein Mann, Mitte zwanzig, ein Zonenflüchtling.“ Er sagte tatsächlich Zonenflüchtling. „Der Täter hat gewußt, daß Grete Eschenbacher übers Wochenende nicht zu Hause sein wollte. Er drang in die Wohnung ein, um nach Wertsachen zu suchen. Als sie dann überraschenderweise doch zu Hause war, hat er sie voller Panik zum Schweigen zu bringen versucht. Das ist ihm dann auch gelungen.“

Vogelsang kniff seine Augenbrauen zusammen, sodaß er aussah wie ein nachdenklicher Riesenschnauzer. „Seine Geliebte hat ihn verraten. Konnte angeblich den seelischen Druck nicht mehr aushalten.“

„So schnell geht das“, bemerkte Gerlach ohne große Anteilnahme.

„Nicht wahr? Nicht anders zu erwarten.“

Vogelsang fand an diesem Exempel Gefallen. Daß es seine eigene Verlegerin gewesen war, an der es statuiert worden war, spielte keine Rolle. Der Rechtsstaat und die Polizei hatten sich bewährt, daran bestand kein Zweifel. Und darauf kam es schließlich an.

„Kannten Sie Grete Eschenbacher gut?“

„Nicht besonders“, mußte Vogelsang einräumen, „sie nahm selten an Redaktionskonferenzen teil.“

„Haben Sie ihren Mann noch gekannt?“

„Ja, sicher. Das alles liegt lange zurück.“

„Eine spannende Geschichte: Die Anfänge des demokratischen Pressewesens“, warf Gerlach einen Köder aus.

Vogelsang hatte einen dicken Filzstift ergriffen und malte auf seinem Schreibblock herum. Seine große Zeit, so viel wußte Gerlach, war erst nach dem Tod von Paul Eschenbacher gekommen. Die Dinge hatten sich in den letzten Jahren geändert -- selbst eine Zeitung wie diese konnte nicht daran vorbeigehen, daß das Klima heutzutage ein anderes war als in der Zeit des Wirtschaftswunders.

Hosangs Strich wanderte über das Papier und zog so etwas wie einen Konsensstreifen: „Sie haben recht. Vielleicht ist es an der Zeit, Rückblick zu halten. Es gibt, so weit ich weiß, eine ältere Dame, die den Wiederaufbau der Zeitung nach dem Krieg noch miterlebt hat. Sie war von der allerersten Stunde an mit dabei. Sie heißt Sabine Gross. Soll ich mal nach ihrer Adresse fragen?“

„Ich bitte darum.“

Vogelsang warf den Filzstift hin und tippte drei Zahlen in sein Telefon, das im Unterschied zu seiner Büroeinrichtung nichts Altdeutsches an sich hatte. „Haben Sie die Adresse von Frau Gross? Nein, die ist nicht mehr bei uns.“ Er nahm den Filzstift wieder auf und zeichnete Kringel. „Ja? Ach ja? Wie dumm.“ Der Stift schmierte quer über das Blatt. „Vielen Dank.“

Vogelsang sah Gerlach schräg von der Seite an. „Sabine Gross ist vor längerer Zeit ausgewandert. Sie lebt jetzt in den USA.“

„Zu blöd“, sagte Gerlach.

„Zu blöd“, bestätigte Vogelsang. „Sie hätte Ihnen vermutlich weiterhelfen können. Es war schön, Sie zu sehen.“

Ach was, dachte Gerlach. Laut sagte er: „Wie geht es jetzt weiter mit dem Verlag?“

Vogelsang studierte seinen Zettel. Endlich hob er den Kopf. „Das ist noch nicht raus. Nehmen Sie die Adresse ruhig mit.“<para160>

<Kapitel VII>

Als Gerlach das Pressehaus verließ, hatte die Dunkelheit bereits eingesetzt. Die schlimmste Zeit des Jahres stand vor der Tür: Weder Herbst noch Winter, nur unentschlossenes Geniesel und Dämmerlicht. Schon fingen die Geschäftsleute an, ihre Weihnachtsgirlanden aufzuhängen. Mitten im Gewühl hatte sich eine Chilenenband aufgebaut und veranstaltete einen Heidenspektakel mit Trommeln und Flöten. Wo man auch hinkam - diese Chilenenband war schon da und zog ihr Repertoire durch, das aus einem einzigen Lied bestand.<para160>

Er ging die paar Schritte zum Taxistand und ließ sich zurück in die Redaktion fahren. Neu Mexiko. Da <para160>war es jetzt, wenn er richtig rechnete, acht Uhr morgens und ziemlich warm. Einen Versuch war es wert. Zurück im Büro zog er nicht mal den Mantel aus, sondern wählte im Stehen die Auslandsauskunft. Hier Auslandsauskunft, quakte die mechanische Stimme, bitte warten, hier Auslandsauskunft ... Das konnte einen nervös machen. Nach fünf Minuten meldete sich eine überforderte Telefonistin.<para160>

„Sabine Gross“, sagte Gerlach, „Neu Mexiko. Das ist in den USA.“

„Augenblick“, versprach die Frau. Sie log. Es dauerte weitere fünf Minuten. Aber er bekam die Nummer und wählte sie.

Es knackte und rauschte in der Leitung. Wahrscheinlich knabberten jetzt die Haie das transatlantische Telefonkabel an, versuchte Gerlach sich einzureden, obwohl er genau wußte, daß die meisten Gespräche über Satellit gingen. Dann klingelte es. „Hello“, meldete sich eine weibliche Stimme.„Spreche ich mit Sabine Gross?“ wollte Gerlach wissen.

Es kam eine Pause, ob von der Zeitverzögerung oder nicht, war nicht auszumachen. „Ohh“, hörte er, „Sie sind Deutscher, ja?“<para160>

„Ja“, sagte er. Die Frau hatte einen amerikanischen Akzent, sprach aber fließend deutsch.

„Ich bin die Haushälterin von Frau Gross. Es geht ihr gar nicht gut. Sie liegt im Krankenhaus. Kann ich Ihr was ausrichten?“

„Ich würde Sie gern besuchen“, sagte Gerlach, „ich bin aus ihrer Heimatstadt, und ich würde ihr gern ein paar Fragen stellen.“

„Ja? Worüber?“

„Es geht um eine alte Geschichte. Es geht um die Zeitung, bei der sie früher gearbeitet hat“.

„Die Zeitung?“

„Eine Heimatzeitung. Ich interessiere mich für die Anfänge des Pressewesens nach dem Krieg.“

„Ja, wenn Sie meinen ...“

„Ich bin sowieso auf Urlaub in den Staaten“, improvisierte Gerlach, „ich komm einfach vorbei.“

„Wenn sie meinen. Ich werde es Frau Gross sagen.“

„Tun sie das. Ich werde versuchen, Donnerstag bei ihr zu sein.“ Die Frau legte grußlos auf. Egal, dachte Gerlach. Warum nicht Neu Mexiko. Alles war besser als dieser Vorweihnachtsjammer.

Als er das Büro des Chefs betrat, stand sein Entschluß fest: „Chef, ich brauche Urlaub“, verkündete er.

Der Chef war mit einer Packung grüner Süßigkeiten beschäftigt, allem Anschein nach Fruchtgelee.

„Hier, bedienen Sie sich“, forderte er Gerlach auf. Gerlach winkte ab. „Zigarillo?“ Zigarillos durfte man nicht ablehnen. Gerlach steckte sich einen an und inhalierte tief. Der Chef machte ein erschrockenes Gesicht: „Vorsicht, das sind keine Zigaretten. Wie stehen die Ermittlungen?“

Gerlach erzählte, was er wußte: „Sie ist mit einem Kissen erstickt worden.“

„Tatsächlich.“ Der Chef war mäßig schockiert.<para160>

„Und wer erbt?“

„Weiß man noch nicht.“

„Schreiben Sie doch ein kleines Stück: Tod einer Verlegerin. So was liest man immer gern.“

„Muß dann aber sehr zeitlos gehalten sein, wenn wir es bringen wollen.“

„Zeitlos, sicher, sicher.“ Der Chef schob sich das letzte Stück Gelee in den Mund und ließ die Tüte bedauernd in den Papierkorb fallen.

„Urlaub, haben Sie gesagt?“

„Das Wetter geht mir auf die Nerven.“

„Mir auch. Und wie lange?“

„Eine Woche.“

„Kein Problem. Wo soll's denn hingehen?“

„Nach Neu Mexiko.“

„Neu Mexiko“, staunte der Chef. Für ihn verband sich das mit Indianern und wilden Schießereien am Rio Grande. „Aber warm ist es da, oder?“

„Na klar“, sagte Gerlach.

Zurück in seinem Zimmer entfaltete Gerlach Betriebsamkeit. Er beauftragte das Reisebüro, eine Flugverbindung herauszusuchen, und fing unsystematisch an, seinen Schreibtisch aufzuräumen. Hanna kam herein und sah zu.<para160>

„Was ist los?“

„Ich fahr ein paar Tage weg.“

„Und wohin?“

„Neu Mexiko.“

Das haute sie glatt um. „Was willst du denn in Neu Mexiko?“

„Indianergräber besichtigen.“

„Du spinnst“, sagte sie.

„Kann gut sein.“

Die billigste Verbindung, so stellte sich heraus, führte über London, New York und Dallas nach El Paso.<para160>

„Komplizierter geht es nicht?“ erkundigte sich Gerlach höflich.<para160>

„Sie können auch über Frankfurt direkt fliegen“, sagte die Dame am anderen Ende spitz, „Das kostet nur das Dreifache.“

„Na gut. Buchen Sie den nächsten Flug.“

„Der geht morgen früh.“

„Umso besser.“<para160>

Hanna war sprachlos. „Kannst du dich überhaupt auf amerikanisch verständigen?“

„Sogar auf spanisch, wenn es sein muß. Hasta la Vista.“

Gerlach packte die letzten Sachen zusammen und klemmte sich seine Tasche unter den Arm. Der flinke Abgang krönt die Kür, dachte er befriedigt. Das hier sollte ihm erst einmal jemand nachmachen aus diesem Schnarchladen.

Er nahm ein weiteres Taxi nach Hause, weil es darauf nun auch nicht mehr ankam, und begann, seinen Koffer zu packen. Die Katze haßte Koffer wie die Pest und flüchtete, ohne ihre Streicheleinheiten einzufordern. Nachher würde sie auf den Teppich kotzen, ihr üblicher Abschiedsgruß. Gerlach würde die Frau des Vermieters bitten, sich um sie zu kümmern. Nach Amerika zu reisen war die einfachste Sache von der Welt, dachte Gerlach. Man brauchte nur ein gültiges Visum, eine Kreditkarte und einen ausreichend großen Kreditrahmen bei der Bank. Visum und Kreditkarte hatte er. Was den Kreditrahmen betraf, so würde er demnächst etwas dazuverdienen müssen.<para160>

Um sechs Uhr dreißig saß er im Zug, verpackt in eine Daunenjacke. Die Bahn hatte den Zug unbegreiflicherweise als Eilzug eingestuft -- eilig hatte es höchstens der Reisende, der möglichst schnell fort wollte. Gerlach gelang es erst, sich zu entspannen, als er den Anschluß an den Intercity bekam. Dieses sinnliche Gefühl beim geräuschlosen Anfahren vom Bahnsteig, dieses Beschleunigen auf offener Strecke und dieses Gefühl von Wichtigkeit, wenn der Zug durch weniger bedeutende Orte einfach durchfuhr, ohne das Tempo zu verlangsamen. Zum Glück sah man nicht, was passierte, wenn ein Fasan in seiner Schusseligkeit die Strecke kreuzte.<para160>

Gerlach verbrachte die Fahrt bis Hamburg im Speisewagen, einem richtigen abgewetzten mit Lämpchen an den Fenstern, gottlob, und keine dieser unanständigen „Quickpick“- Kreationen. Der Kaffee war der übliche Aufguß, mit dem die Geschäftsreisenden ihre Magengeschwüre kitzelten. Gerlach bestellte einen Cognac dazu, den teuersten, den die Deutsche Schlafwagengesellschaft bereithielt. Das würde ihn in der Achtung des Kellners steigen lassen, hoffte er. Als dieser Effekt ausblieb, bestellte er sich zum Trotz noch einen hinterher und vertiefte sich bis zur Ankunft in die Lektüre der „Schönen Welt“, wobei er sich zum wiederholten Male fragte, ob es nicht gescheiter wäre, seinen Lebensabend als Redakteur bei dieser Bundesbahnpostille zu verbringen.<para160>

<Kapitel VIII>

Der Zug ratterte über die Elbbrücken, und Gerlach legte eine Gedenkminute ein. „Hamburg, an der Elbe A-hauen“, summte er still vor sich hin. Wenn der Chef recht hatte, dann hatte er recht. Diese Kräne, diese Schiffe. Und erst der Hauptbahnhof. Der Speisewagenkellner schenkte ihm keinen Blick, sondern ließ den Kassencomputer quietschend Rechnungen ausdrucken. Gerlach stieg aus und überlegte wie jedes Mal, wo er den Ausgang finden konnte. Es gab mehr als einen. Kurzentschlossen steuerte er die Rolltreppe an und schwenkte oben nach rechts.

Die Chilenentruppe war schneller gewesen. Lärmend versperrte sie den schmalen Durchgang zwischen Zeitschriftenkiosk und Würstchenstand. Gerlach mußte sich regelrecht durchkämpfen. Er bestieg ein Taxi und gab sein Ziel an:

„Zum Affenfelsen.“

„Bittä?“ Der Fahrer war weißhaarig, unrasiert und Gerlach hätte schwören können, daß er schon mal mit ihm gefahren war, vor Jahren in Athen, vom Auslandsflughafen zum Inlandsflughafen, den die Athener überflüssigerweise auch noch gebaut hatten. Er hatte damals, wenn er sich recht erinnerte, tausende von Drachmen oder Zloty oder wie diese verdammte griechische Währung hieß bezahlt, ohne auch nur zu ahnen, wieviel das war.

„Äh, Warburgstraße“, sagte Gerlach.<para160>

„Zu Grunärr?“

„Genau.“

Das Taxi war folkloristisch eingerichtet. Vom Spiegel baumelte ein Amulett, wahrscheinlich der heilige Sankt Christophorus. Der Fahrer hatte sich zwischen Rücken und Sitz eine Art Holzperlenmatte geschoben, und der Fahrgast wurde durch gemütliche graue Plüschbezüge verwöhnt. Es sprach eigentlich alles für die multikulturelle Gesellschaft, fand Gerlach. Er spähte über die Binnenalster und versuchte, die Wasserfontäne auszumachen. Die Fontäne war abgestellt. Nachts kuckt sowieso keiner, dachten sich die Hamburger. Ein sparsames Volk.<para160>

Das Verlagshaus an der Außenalster war erleuchtet wie ein Raumschiff. Es war kurz nach halb neun. Drinnen wurden immer noch Entscheidungen größter Tragweite getroffen, Strecken angekauft, Geschichten umgedichtet, Stühle angesägt, Flaschen entkorkt und dergleichen Dinge. In der Kantine saßen sicher ein paar einsame Reporter und trauerten ihrer Zeit im Libanon nach. Im Layout mochten Fotografenträume platzen, in der Chefetage Gelage stattfinden - Gerlach war das egal. Er wollte in die Dokumentation.

„Wen wünschen Sie zu sprechen?“ fragte die Dame am Empfang formvollendet.<para160>

Gerlach mußte an den würdevollen Knaben im Verlag daheim denken. „Herrn Dr. Bahlsen.“

„Einen Moment.“ Sie blätterte. „Ich finde hier keinen Dr. Karlson.“

„Bahlsen“, sagte Gerlach, „wie der Keks.“

„Ach so. Wen darf ich bitte melden?“

„Gerlach“, sagte Gerlach. „wie Gerlach.“

„Kennen Sie den Weg?“

„Ich glaube ja.“

Er schlug den Weg zur Kantine ein und stieg dann die Treppe in den Keller hinab. Archive waren immer im Keller, das gehörte sich so. Die Dokumentation hatte es sich in einem Verhau von Schränken, Ordnern und Bildschirmen gemütlich gemacht. Hanno Bahlsen hing entspannt in seinem Sessel und studierte bei milder Schreibtischbeleuchtung ein Journal für Astrophysik. Er hatte, soweit sich Gerlach erinnerte, über irgendeinen Minkowski-Effekt oder so etwas promoviert, was im Sinne der reinen Lehre ehrenwert, aber leider auch völlig brotlos gewesen war. Für eine akademische Karriere war die Astrophysik denkbar ungeeignet. Programmierer wurden heutzutage gebraucht, Biotechniker, smarte Marketinghechte, alles mögliche, jedenfalls keine Astrophysiker. Also saß Hanno Bahlsen hier im Keller und schnitt Zeitungsartikel aus.<para160>

„Hallo Hanno“, sagte Gerlach.<para160>

Hanno blickte von seinem Journal auf. „Mensch Gerlach“, staunte er, „wie kommst du denn hierher?“

„Mit der Bahn, und dann mit dem Taxi. War nicht so schwer.“

Hanno freute sich. Er freute sich immer, wenn ihn ein Mensch besuchen kam. Meist bekam er seine Aufträge übers Telefon, von irgendeinem Redakteurspinsel, der Dokumentare grundsätzlich für Menschen zweiter Klasse hielt, die dazu da waren, ihm „alles über AIDS“ zu liefern, und zwar pronto.<para160>

„Was machst du in Hamburg?“

„Ich besuche dich. Und dann fahre ich nach Mexiko. Nach Neu Mexiko, genaugenommen.“„Toll“, sagte Hanno, „toll, toll, toll. Ich komme mit.“

„Dann pack deine Sachen.“

„Ja siehst du, ich komme sofort mit, wenn ich erst diesen Landrat erledigt habe.“

„Wie lange dauert das?“

Hanno grinste. „Ewig. Ist eine Scheißgeschichte aus der Scheißprovinz.“

„Schade“, meinte Gerlach. „Übrigens kommen die besten Leute aus der Provinz.“

„Ach was.“ Hanno wedelte verächtlich mit dem Journal. „Wer denn und woher denn?“

„Ich zum Beispiel.“ Gerlach war beleidigt.<para160>

„Richtig. Wie heißt das Kaff noch gleich?“

„Vergiß es“, sagte Gerlach, „Du vergißt es sowieso. Ich darf dich trotzdem um einen kleinen Gefallen bitten?“

„Immer. Ihr da draußen auf dem Lande seid arm dran. Wie kriegt ihr eigentlich immer diese Kuhfladen von der Straße?“

„Gar nicht“, sagte Gerlach, „wir lieben den Geruch. Also, wenn du mir bitte in den nächsten Tagen alles über eine gewissen Grete Eschenbacher sammeln würdest, wäre ich dir sehr verbunden.“

„Hast du was mit der?“ wollte Hanno wissen, lehnte sich in seinem Stuhl zurück und legte die Füße auf den Schreibtisch. Mit dem Absatz schob er eine Kaffeetasse an den Rand und wippte mit den Zehen.

„Ich hätte ihr vielleicht das Händchen halten sollen, als sie noch lebte. Ihr gehörte die Zeitung bei uns, ja doch, ja, wir haben eine Zeitung da bei uns auf dem Lande. Die Eschenbacher hat nicht schlecht mit der Zeitung verdient. Sie hatte an die dreißig Millionen, sagt man.“

„Sagt man, sagt man. Und wir müssen das dann wieder beweisen. Was ist der Dame denn zugestoßen?“

„Wie es aussieht, hat sie ein DDR-Bürger mit einem Kissen erstickt.“

Hanno klatschte sein Journal auf den Tisch. „Ich hab's <para160> immer gesagt: Die sollen bleiben, wo sie sind. Und zwar mit ihren Trabis. Geh mir doch weg mit der Wiedervereinigung. Das gibt ein einziges Kuddelmuddel. Nach was soll ich denn suchen? Irgendwelche Sexgeschichten, Hintermänner, dunkle Gestalten?“

„Alles“, sagte Gerlach, „was das Herz begehrt. Da gibt es einen Grafen de Orlanda„ aus London. Finanz- und Heiratsschwindler. Außerdem interessiert mich ein gewisser Senator Wolff, ein Karl-Sebastian Vogelsang, ein Rechtsanwalt namens Eyerkauffer, ein Grundstücksmakler namens Schintzel und ein Geschäftsführer namens Oelkers.“

„Du bist ja richtig eifrig.“

Gerlach blinzelte in die Schreibtischlampe. „Gott, reine Neugier...“

Er schwieg. Hannos Bildschirm blinkte, ein Drucker meldete sich summend und kreischend und spuckte ein Stück Papier aus.

Hanno beugte sich vor und riß es ab. „Siehst du, da haben wir wieder den Landrat. Fährt blau wie ein Matrose gegen den Baum und läßt anschließend die Funkstreife strammstehen. So Geschichten sammeln wir über den, da kommt eins zum anderen.“

„Die freie Presse, die Hüterin der Demokratie“, deklamierte Gerlach.

„Eben, eben.“ Hanno tippte wieder in die Tasten, auf dem Bildschirm rollte allerhand nach oben, und dann erschien eine Adresse und ein kurzer Quervermerk. „Hier hast du deinen Grafen. Soll ich's ausdrucken?“

„Ja, sicher.“

Ratzratzratz, machte der Drucker. Hanno hatte schon die nächste Meldung. „Dein Vogelsang ist bei den Republikanern?“

„Nicht direkt.“

„Na ja, hier kommen ein paar von seinen Artikeln und ein kleines Dossier.“

Es sägte entsetzlich. Gerlach war auf jede Seite, die der Drucker von sich gab, gespannt. Als wieder Stille eintrat, stupste er Hanno an: „Hör mal, mach Feierabend. Kann ich bei dir übernachten?“

Hanno sah zur Uhr. „Ja klar. Den Landrat kaufen wir uns morgen.“

„Ihr kauft überhaupt ziemlich viel, was?“

Hanno blickte streng: „Alles. Wenn es sein muß.“ Er warf sein Journal auf einen Riesenhaufen Zeitungen und Zeitschriften hinter sich. Dann schaltete er seinen Bildschirm aus und stand auf.

Hanno Bahlsen war ein Sitzzwerg. Im Stehen sah man erst, wie groß er war: mindestens einszweiundneunzig. Er versuchte seine Länge zu kaschieren, indem er Kopf und Schultern vornüber hängen ließ, was ihm das Aussehen eines traurigen Vogels bescherte. Von der Seite aus betrachtet, fand Gerlach, ähnelte er einem Geier, von vorn einem Kormoran.<para160>

Im Flur parkte ein Fahrrad, eins dieser Dinger, die praktisch nur aus Titan, gewickelter Kohlefaser und dünnen Drähten bestanden, ohne jeden überflüssigen Luxus wie Lampe oder Rücktritt. Gerlach war sprachlos. „Ist das deines?“ erkundigte er sich.

„Ganz hübsch, findest du nicht?“ meinte Hanno stolz, „Das trägst du mit zwei Fingern die Treppe rauf. Allerdings darfst du es nie draußen stehen lassen. So schnell wie das verschwindet, so schnell kannst du nicht mal niesen.“

Gerlach fuhr mit der Fingerspitze über die schmalen Reifen. „Wie kommst du denn damit über die Bürgersteige?“

„Wie Schockemöhle: vorne hochreißen.“

„Und wie kommen wir jetzt zu dir?“

„Mit dem Taxi.“

Der Verlag schien ein Sonderabkommen mit der Taxizentrale geschlossen zu haben, denn dreißig Sekunden später stand eines vor der Tür. Gerlach verstaute seinen Koffer, und Hanno faltete sich umständlich auf den Rücksitz. Es war ein deutsches Taxi, mit einem nervösen Fahrer, der fuhr, als ginge es darum, den Vorstandsvorsitzenden persönlich um die Ecke zu bringen. Der Verkehr war nicht sehr dicht, aber an der dritten Ampel trödelte der Vordermann so lange, bis Rot kam. „Sakra“, schimpfte der Taxifahrer, „bleibts doch dahoam in Pinneberg.“ Gerlach spähte nach vorn und sah direkt in eine doppelte Batterie von Bremslichtern. „Baby an Bord!“ pappte ein Aufkleber rechts an der Heckscheibe. „Wen intressierts denn dös, ob der sei Bangert umanandfährt!“ Die Ampel sprang auf Grün. Der Taxifahrer konnte sich gar nicht beruhigen. „Heimwerker, depperter, schleich di endlich!“.<para160>

„Sag mal, gehen wir noch schnell auf ein Bier?“ wollte Hanno wissen.

„Aber gern.“ Gerlach gähnte verstohlen aus dem Fenster. „Wenn's nicht mehr als zwei werden.“

„Dann biegen Sie an der übernächsten Kreuzung rechts ein und setzen uns bei Bruno ab“, kommandierte Hanno.<para160>

„Scho recht.“ Der Taxifahrer nahm die Kurve, ohne den Fuß vom Gaspedal zu nehmen und kam schlingernd zum Stehen.<para160>

„Sie sollten den Pilotenschein machen“, sagte Hanno, „schreiben Sie mir eine Quittung, bitte sehr.“

„Hob i längst“, strahlte der junge Mann, „Demnäxt flieg i Scharter nach Sylt.“

„Guten Flug“, murmelte Gerlach in sich hinein.<para160>

Bruno stellte sich als ein distinguiertes kleines Lokal mit fünf Tischen und einer Theke heraus. Der Fußboden war in anthrazit gehalten, die Wände in dunkelgrau und die Lampen in einer Farbe, die nichts anderes als Mauve sein konnte. Die Halogenscheinwerferphase hatte dieser Laden längst hinter sich gelassen -- das Licht war von käsiger Indifferenz und fiel auf ein Dutzend schwarzgekleideter Gäste.<para160>

Gerlach stellte sein Gepäck ab und sah sich um. Mit seiner Dauenjacke wirkte er in dieser Umgebung wie ein Papagei. Er reckte sich zu Hanno hoch und flüsterte ihm ins Ohr: „Sag mal, ist hier jemand gestorben?“

Hanno blickte ihn an. „Das sind alles Werbetreibende, die dürfen nur schwarz tragen. Hochsensible Gesellschaft. Wenn die eine schlecht designte Speisekarte vorgesetzt bekommen, wird ihnen übel. Das Essen ist aber sehr gut. Willst du was?“

„Nein danke“, sagte Gerlach, „was trinkt man denn hier? Auberginengeist?“

<Kapitel IX>

„Zwei Bier“, bestellte Hanno. Der Barkeeper war von der Sorte, die durch nichts zu erschüttern ist. Er polierte zwei Gläser, warf sich das Handtuch über die Schulter, zapfte sie voll und stellte sie mit elegantem Schwung auf die Theke.

„Jetzt sag mal ehrlich, was dich an der Geschichte so interessiert, daß du unbedingt herumrecherchieren mußt“, wollte Hanno wissen.

„Eigentlich mache ich Urlaub“, sagte Gerlach, „ich weiß nur eines: Die ganze Sache stinkt. Schlimmer als Kuhfladen.“

„Woher willst du das wissen?“

„Es wußten nur ganz wenige Leute, daß die Eschenbacher am Sonntag abend zu Hause war. Offiziell war sie nach München, zur Antiquitätenmesse. Inoffiziell war sie damit beschäftigt, den ganzen Laden zu verscherbeln und außerdem ihr Testament zu ändern. du kannst sagen, was du willst: Dreißig Millionen sind dreißig Millionen. Und außerdem ist die Zeitung glatt das zehn- bis zwanzigfache wert. Versuch doch mal, eine Zeitung zu kaufen. Kriegst du nicht. Ums Verrecken nicht. Wer nach dem Krieg eine Lizenz bekam, hat sie nie wieder hergegeben. Sieh dich mal um. Das sind alles immer noch die gleichen Nasen wie damals, nur daß sie inzwischen einiges zur Seite gelegt haben. Natürlich, wenn du sie so jammern hörst ...“

„Na ja, stimmt“, räumte Hanno ein, „ein Zuschußgeschäft ist das nicht gerade.“

„Was du übersiehst, ist die Tatsache, daß da draußen auf dem Lande tag für tag kleine Käseblätter gemacht werden, die keine Konkurrenz haben. Jeden Tag randvoll mit Anzeigen. Und die Anzeigenpreise können Sie im Alleingang bestimmen. Die wissen zum Teil nicht, wohin mit dem Geld. Vor lauter Verzweiflung stecken Sie es ins Privatfernsehen. Nur die Eschenbacher nicht. Sie wollte so viel Geld aus dem Betrieb ziehen, wie es ging, und ansonsten nichts mehr damit zu tun haben. Und das war für verschiedene Menschen die Chance, an eine goldene Gans heranzukommen. Ich würde zu gern wissen, was in ihrem Testament steht.“

„Gilt das noch?“

„Offenbar. Irgendjemand hat gewußt, was drinstand. Und der Zonie mit dem Kissen war's nicht.“

Ein weiterer Schwung Trauergäste kam herein. Der Anführer war ein kleines fettes Milchgesicht mit Sonnenbrille. In seinem Schlepptau hatte er drei minderjährige Fotomodelle und eine alte Wachtel, die mit so viel Schmuck behängt war, daß sie bei jeder Bewegung ein Geräusch machte, als ob man einen gutgefüllten Werkzeugkasten schlösse.

„Noch ein Bier?“

„Sei mir nicht böse, diese Beerdigungsgesellschaft hier drückt mir aufs Gemüt.“

„Ach wieso. Kuck mal, die Kleine da ist doch richtig süß.“

„Hanno, das könnte deine Tochter sein.“

„Meine Tochter ist weg. Zusammen mit meiner Frau, meinem Fernseher und meinen Möbeln. Alles weg.“

„Seit wann denn das?“

„Seit einem Monat. Ein Bier noch, los. In Mexiko kriegst du keins. Nur Kakteenschnaps. Was willst du da überhaupt?.“

„Eine alte Frau besuchen. Sabine Gross. Sie weiß vielleicht, wie der alte Paul Eschenbacher nach dem Krieg an die Zeitung gekommen ist. Ich bin sicher, da liegt eine Leiche im Keller.“

„Also wie du schon redest. Der Laden macht dich scheint's morbide.“

„Das ist kein Wunder. Schau mal nach rechts.“

Hanno blickte unauffällig zur Seite. Der Fette redete auf die Wachtel ein und hatte gleichzeitig einen Arm um eine der minderjährigen Schnepfen gelegt. Seine Hand war unruhig auf Wanderschaft.

„Der verwaltet einen Werbeetat“, murmelte Hanno, „Dagegen ist deine Verlegerleiche ein Fall fürs Sozialamt.“

„Geld macht sexy, was?“

„Das siehst du doch.“

„Laß uns gehen.“

„Na gut. Alsdann ...“

Es waren nur ein paar Schritte zu Hannos Wohnung. Sie nahm den gesamten ersten Stock eines Hauses aus der Jahrhundertwende ein und war höchstens halb so groß wie ein Fußballfeld und vollkommen leer. Gerlach stellte seinen Koffer ab und klatschte in die Hände. Irgendwo gab es ein Echo. „Wieviel Quadratmeter bewohnst du hier eigentlich?“ wollte er wissen.

„Keine Ahnung. Ich hab's nie nachgemessen.“

Hanno durchquerte ein Zimmer, eine Art Ballettsaal, und schritt durch die offene Doppeltür in das nächste. Darin lag einsam eine Matratze. Von der Decke baumelte eine Glühbirne. Ein Bild wie von Francis Bacon.

„Du kannst hier schlafen. Ich schlafe da hinten.“ Hanno machte eine vage Handbewegung in die entgegengesetzte Himmelsrichtung. Jetzt wirkte er wie eine einsame Riesenkrähe.<para160>

„Fließend Wasser hast du noch?“ erkundigte sich Gerlach.

„Aber ja. Immer geradeaus und dann links. Rechts ist die Küche. Da hat's noch einen Tisch und zwei Stühle. Komm mit.“

Sie machten sich auf den Weg, vorbei an leeren Zimmern und Wänden voller Dübellöcher, an denen Bilder und Regale gehangen hatten. Von draußen fiel der Schein einer Straßenlampe herein. In der Ferne hörte man einen Dampfer tuten.

Die Küche wirkte winzig. Den Herd und den Kühlschrank hatte Hannos Frau verschmäht. Isabell Bahlsen-Neumeier hieß sie, fiel Gerlach ein, eine kühle Erscheinung, die sehr sarkastisch werden konnte, wenn es darauf ankam.

Hanno spähte in den Kühlschrank. Zwei angetrocknete Wurstzipfel waren zu erkennen, und eine angebrochene Flasche Mineralwasser.

„Traurig“, kommentierte Hanno.<para160>

Gerlach widersprach nicht. „Warum ist sie weg?“

„Sie könnte es nicht mehr ertragen, wie ich mich hängen lasse, hat sie gesagt. Daß ich mich zur Kellerassel entwickeln würde, in meinem Job. Immer nur die Dreckarbeit für andere. Und wer zahlt die Brötchen, hab ich sie gefragt? War die falsche Frage. War ihr egal. Ihr Vater backt selber Brötchen. Besitzt eine ganze Brötchenfabrik. Hatte ich ganz vergessen.“

Eine Kuckucksuhr schlug elf. Gerlach erhob sich und stellte sein Glas auf die Spüle, die den großen Auszug ebenfalls überstanden hatte. „Ich muß schlafen. Denkst du morgen an die Eschenbacher-Geschichte?“

„Ich kümmere mich um nichts anderes“, versicherte Hanno.

Gerlach tastete sich durch die leeren Zimmerfluchten zu seiner Matratze. Er legte sich hin und starrte den Stuck an der Decke an. Hier hatten früher die Senatoren gelebt, dachte er. Senatoren und Konsuln, davon wimmelte es in Hamburg. Was machte eigentlich ein Konsul? Konsul von was war man? Von Bolivien, von Chile, von Peru? Ein blödsinniges Lied kam Gerlach in den Sinn: „Ja in Peru, in Peru, in den Anden, da fliegt ne Kuh, da fliegt ne Kuh, die kann nicht landen.“ Die Inkatruppe fiel ihm ein. Jetzt hatten sie für heute hoffentlich ausgelärmt. Das Lied ging noch weiter: „Und in der Nacht, in der Nacht kamen Diebe. Und die klauten der Kuh das Getriebe.“ Kuno hatte das gesungen, Kuno, der versoffene Obergefreite, und wenn alles zu spät gewesen war, dann war er auf den Tisch geklettert und hatte gekräht: „Ich hab'drei Haare auf der Brust, ich bin ein Bär ...“

Gerlach fielen die Augen zu, und er versank in Schlaf.

<Kapitel X>

<para160>Er wachte auf, als Hanno sich von der Tür her hüstelnd zu Wort meldete: „Ich geh dann zum Dienst, guten Flug.“ Und schon war seine Vogelgestalt verschwunden.

Durch die ungeputzten Fensterscheiben drang Sonnenschein. Gerlach zog sich die Decke um die Schultern und stand auf. Mahnend meldete sich seine Bandscheibe. Aus dem Matratzenalter war er endgültig heraus. Das Zimmer war wunderschön geschnitten -- nach hinten heraus ging es in einen Wintergarten.

Gerlach öffnete die Tür. Man sah direkt in den Himmel hinein. Die Luft war wie blank geputzt, ein scharfer Westwind rüttelte die letzten vertrockneten Blätter von den Bäumen, dahinter die Häusersilhouette und ein strahlendes Morgenlicht, Konturen wie von der Rasierklinge gezogen, aufgeregte Wolkenformationen am Himmel. Sein Herz hüpfte. Es war halb neun. In zwei Stunden ging sein Flug.

Gerlach ging in die Küche. Kaffee schmorte in der Maschine, und ein Zettel lag daneben. „Was wäre der Mensch ohne Prinzipien ...“ hatte Hanno in seiner krakeligen Handschrift geschrieben. Ja was, dachte Gerlach, ein Haufen Moleküle, wahrscheinlich. Vielleicht sollte ich Hanno heiraten und ihm den Haushalt führen. Er goß sich Kaffee ein und trottete zurück in den Wintergarten. Neben der Matratze fand er ein Päckchen Zigaretten, steckte sich eine davon an, inhalierte tief und wartete auf den Schwindel, der sich prompt einstellte.<para160>

Hannos Wintergarten hatte unter der Ehekrise schwer gelitten. Genaugenommen bestand die Einrichtung aus einem mumifizierten Weihnachtskaktus und einem Rattan-Sessel, der in der Ecke zusammengebrochen und auf dem besten Weg war, den Grundstock für einen Komposthaufen abzugeben. Von der Eisenkonstruktion der Fenster blätterte rostige Farbe, und auf dem Boden hatte sich eine undefinierbare Schicht aus Staub, Blättern, Kerzenstummeln und Zigarettenkippen angesammelt. Dazwischen stand, knallrot und nagelneu, ein Telefon, umgeben von den Resten eines Telefonbuches. Er bückte sich und klaubte die Seiten zusammen. Der Buchstabe W war vertreten. W wie Wolff. Es gab zirka achthundert Wolfs und immerhin noch sechshundert Wolffs. Elbchaussee 124.<para160>

Er griff zum Hörer. „Hier bei Wolff“, meldete sich ein Mädchen.

„Falsch verbunden“, sagte Gerlach und hängte auf. Er brauchte dringend eine Dusche. Stattdessen holte er Hannos Kurzdossier hervor und wählte die Nummer des falschen Grafen. Eine helle Frauenstimme meldete sich.

„I'd like to speek to Mr. Orlandac.“ Verdammt, was hieß Graf bloß auf Englisch?<para160>

„Who is speaking?“

„My name is Gerlach. I'm a german journalist. … would like to ask him about Grete Eschenbacher.“

Das schien ein Stichwort zu sein. „Hold on a second.“

Eine Minute lang hörte man Schreibmaschinengeklapper, während Hannos Gebührenzähler munter tickte. Dann meldete sich ein sonorer Bariton: „Was kann isch fürr sie tun?“

„Ich bin gegen zwölf auf dem Flughafen London-Heathrow und habe eine Stunde Aufenthalt. Könnten wir uns treffen?“

„Für welsches Blatt arbeiten Sie?“

Gerlach sagte es ihm.

„Ah, kenn isch. Meine gestorbene Tante hat es gelesen. Was abben Sie zu bieten?“

„Meinen Sie Geld?“

„Oder vielleischt Informationen?“

Sein Akzent war grauenhaft unecht. „Ich kann Ihnen den Täter nennen.“

„Wirklich?“ Auf einmal war sein Akzent fast verschwunden.

„Sagen wir: zwischen zwölf und halb eins am Ausgang. Ich werde einen Regenschirm unter dem Arm tragen.“

Sehr witzig, dachte Gerlach. „Und ich eine grüne Dauenjacke.“

Eine Stunde später saß er gebügelt und rasiert im Taxi zum Flughafen. Mißtrauisch sah er aus dem Fenster. Die Zweige der Bäume schwankten im Wind. Das konnte ein netter Flug werden. Er holte sein Ticket hervor. Ausgerechnet die PanAM. Die flogen vorzugsweise mit Maschinen, die noch den Koreakrieg miterlebt hatten. Na gut, das war nicht mehr zu ändern.

In der Abflughalle herrschte Auswanderungsstimmung. Iranische Geschäftsleute, indische Großfamilien, stiernackige Amerikaner, vor allem die, drängelten vor dem Schalter, mit Gepäckstücken, die für den Transport einer kompletten Wohnzimmereinrichtung gereicht hätten. Gerlach stellte sich gottergeben hinten an und schob seinen kleinen Koffer mit dem Fuß vor sich her, bis er an die Reihe kam. Die Bodenstewardeß war gereizt.<para160>

„Raucher und am Gang“, sagte Gerlach so freundlich, wie es gerade noch möglich war, ohne ihr einen Handkuß anzubieten.

„Ist das etwa Ihr Handgepäck?“<para160>

„Neinnein, das hätte ich gern aufgegeben.“

Von der Seite nahte der Glöckner von Notre Dame und versetzte Gerlachs Koffer den ersten Tritt von unzähligen, die noch folgen würden. Machs gut, Koffer, dachte Gerlach, vielleicht sehen wir uns eines Tages wieder.

Die Sicherheitsbeamten hatten schlecht geschlafen. Gerlach mußte sie davon überzeugen, daß sein Diktiergerät keinen Plastiksprengstoff enthielt und sein Rasierapparat keinen Zeitzünder. Dann warf ihm der Grenzbeamte einen Blick zu, der so viel sagte wie: Mein Lieber, wir lassen dich raus, aber ob wir dich jemals wieder reinlassen, das wollen wir erst mal sehen. Gerlachs Paß gefiel ihm aus irgendeinem Grund auch nicht, obwohl er genauso unschuldig aussah wie Millionen anderer Pässe auch.

Beim Aufruf gab es die üblichen Rangeleien, bis der Flughafenbus den ganzen Haufen endlich zum Flugzeug karrte. Es war, wie Gerlach schon geahnt hatte, eine zerknuffte DC10, die nicht so aussah, als wenn sie auf ihre alten Tage noch große Lust hätte, sich in die Luft zu erheben. Er kam neben einer ängstlichen jungen Mutter samt Säugling zu sitzen und war endgültig davon überzeugt, daß heute nicht sein Tag war. Andererseits fühlte er sich ausgeruht und er beschloß, alles, was da kommen würde zu akzeptieren. Schließlich war niemand außer ihm selbst dafür verantwortlich, daß er jetzt in dieser Bruchmaschine saß. Hier und da hing ein Stück der Innenverkleidung von der Decke, und die Plastikbullaugen waren so verschrammt, daß man draußen kaum etwas erkennen konnte.

Die Besatzung demonstrierte den Gebrauch der Sauerstoffmaske und leierte ihren Spruch herunter. Offenbar bekamen sie vom Tower eine Startgenehmigung -- wer wollte so eine Maschine auch länger als unbedingt nötig auf seiner Startbahn herumstehen haben? Der Pilot gab Gas, es holperte und hoppste, vor Gerlach fiel das Klapptischchen herunter, er bekam einen Schweißausbruch, die DC10 ging noch einmal in die Knie und dann geschah das Wunder: Sie hob ab und ging steil nach oben, von den steifen Hamburger Winden gebeutelt. Für Minuten hing sie wie ein Stein am Schub ihrer morschen, müden Düsen, dann ging das Nichtraucherzeichen aus, und Gerlach entspannte sich. Er hatte ein Päckchen Tabak dabei, krümelte einen Teil davon auf die Hose und <para160>drehte eine krumme Zigarette.<para160>

Die Stewardessen verteilte Erdnüsse, Bonbons und Orangensaft, außerdem eine Plastikkiste, die Gerlach höflich dankend zurückwies. Er war nicht neugierig auf den Inhalt. Die Mutter neben ihm war viel zu sehr damit beschäftigt, den Kleinen ruhig zu halten, als daß sie die PanAm-Bordküche hätte würdigen können. Gerlach lehnte sich nach hinten und blies Rauch von sich. Dann packte er die Unterlagen über Karl-Sebastian Vogelsang aus.<para160>

Was sein publizistisches Wirken betraf, so war Vogelsang der Hemdsärmel der Reaktion. Der freie Westen, die Gefahr aus dem Osten, der Bankrott des Sozizialismus und die Marktwirtschaft - das waren seine Themen. Man konnte nicht allzuviele seiner Leitartikel hintereinander lesen, weil sie alle nur diese eine These variierten: Finger weg von unserer Macht und unserem Geld. Interessanter waren schon die Angaben zur Person. Er hatte ein weitverzweigtes Einkommen: Eine Nerzfarm in Kanada, ein Hof auf dem Lande, Honorare hier und Pauschalen dort, Beraterverträge, Aufwandsentschädigungen, er war tatsächlich sogar einmal Gemeindebürgermeister gewesen, kurz und gut: Der Mann hatte seine Schafe im Trockenen. Und er hatte noch jeden Wechsel in der Chefetage der Zeitung überlebt. Er mußte einen guten Draht zum Verleger haben. Fragte sich nur, zu welchem. Mit Grete Eschenbacher verband ihn anscheinend wenig oder nichts, sonst hätte die nicht den dicken Prause favorisiert, wenn wiederum das stimmte, was Henry Duhn erzählt hatte. Doch den alten Paul Eschenbacher mußte er gekannt haben. Vogelsang war ein zähes Fossil und wußte mehr, als er sagte.

Der Kapitän krächzte irgendetwas über den Lautsprecher. Alles in Ordnung, hieß das wohl, die Kiste fliegt, hätte ich selber nicht gedacht. Die Stewardessen sammelten die Plastikkisten wieder ein und warfen sie in ihre rollenden Abfallbehälter. Gerlach riß seine Packung Erdnüsse auf und pfiff leise den Yankee-Doodle.<para160>

Eine halbe Stunde später neigte die Maschine ihre Nase nach unten. Es ging ohne Warteschleife hinunter nach Heathrow. Die Fluglotsen hatten ein Einsehen und ließen den Vogel nicht allzulange über ihren Köpfen kreisen. Über London herrschte diesiges, aber windstilles Wetter. Der Pilot setzte zart und gefühlvoll auf. Man konnte den Seufzer der Erleichterung beinahe hören. Der Kleine neben Gerlach babbelte friedlich vor sich hin, und die Mutter schien glücklich.<para160>

Gerlach machte sich auf zum Ausgang. Er passierte Zöllner und Grenzbeamte, Sperren und Rollbänder, und erstaunlicherweise wollte ihn niemand aufhalten oder unnötig schikanieren. Horden von Menschen schwirrten umher -- die halbe Menschheit reiste von Irgendwo nach Nirgendwo.

Er erkannte den Grafen auf Anhieb. Er war wirklich eine imposante Erscheinung, mit gewelltem, dunkelblondem Haar, blitzend weißen Zähnen, breiten Schultern, in edles Tuch gekleidet, jeder Zoll ein gestandenes Mannsbild. Grete Eschenbacher mit ihrem Pudel und ihren Millionen hatte ihn nicht umsonst angehimmelt.

Gerlach schob sich seitwärts an Orlanda„ oder wie immer der Kerl wirklich hieß heran, hüstelte und sagte: „Herr Graf, meine Verehrung.“<para160>

Der Graf zuckte praktisch überhaupt nicht zusammen.<para160>

„Mr. Gerlach, nehme ich an?“<para160>

„Ja sicher.“

„Hattän Sie eine schöne Flug?“

Er fing schon wieder an zu näseln. „Wunderbar“, schwärmte Gerlach, „so ein Lunch über den Wolken ist doch immer wieder ein Erlebnis.“ Hör auf, dumme Witze zu reißen, schimpfte er gleichzeitig auf sich ein, das kann dieser Heiratsschwindler viel besser.

„Kommän Sie dort drieben in die Lounge, es plaudert sich gleich viel angenehmer im Sitzen.“

Der Graf machte kehrt, und Gerlach folgte ihm brav wie ein Lämmerhund. VIP-Lounge stand groß und breit über der Tür. Täuschte er sich, oder tätschelte der Kerl dem Wachmann die Wange? Jedenfalls waren sie in Nullkommanichts drin, versanken in zwei dicken Ledersesseln, und ehe Gerlach protestieren konnte, hatte er etwas in der Hand, was wie ein trockener Martini aussah, ein Teil Olive, zehn Teile Gin, wahrscheinlich handgeklopft. Das war ein bißchen dick, fand er, und außerdem hatte er nicht mehr als eine Handvoll Erdnüsse im Magen. Entschlossen stellte er das Glas auf den kleinen Beistelltisch. „Gibt's hier Salzstangen?“

„Mais certainement, aber sischer.“

Das reichte jetzt.

„Stimmt es, daß Sie Grete Eschenbacher heiraten wollten?“

Der Graf blickte unschuldig. „Wie kommen Sie auf diesän Gedanken?“

„Sie wollte Sie doch als Alleinerben in ihr Testament einsetzen, oder?“

Jetzt war Orlanda„ schockiert. „So?“

„Und Sie haben ihr doch geraten, die Zeitung meistbietend zu verkaufen, oder etwa nicht?“

Es war interessant, sein Gesicht zu beobachten. Die gräfliche Contenance stahl sich still davon wie ein Kitz in der Abenddämmerung und machte einem nachdenklichen Ausdruck Platz. Gar nicht einmal so unsympathisch, dachte Gerlach. Dumm ist er nicht, der Herr Graf.<para160>

„Sie sind nicht der erste Reporter, der mich das fragt“, sagte Orlanda„ in beinahe akzentfreiem Deutsch, „und ich muß sagen, der Gedanke gefällt mir nicht, daß ich jetzt auf einmal als der Begünstigte eines Kapitalverbrechens dastehe.“

„Tja“, machte Gerlach, „Der Gedanke ist aber ziemlich naheliegend, finden Sie nicht?“

„Je nest'ce pas. Sie sind offenbar genauso frech wie neugierig. Ihre Frechheit gefällt mir nicht, aber Ihre Neugier ist nur zu verständlich. Irgendwem muß ich das sowieso irgendwann erklären, also warum nicht Ihnen.“

Das war eine lobenswerte Idee, dachte Gerlach.<para160>

„Aber erst sagen Sie mir, was Sie über den Täter wissen.“

Das war nun wieder dumm, fand Gerlach. „Soweit ich informiert bin, stammt er aus der DDR. So weit ich weiß, hat er sie mit einem Kissen erdrosselt. Und so weit ich weiß, hat er ein bißchen Schmuck mitgenommen. Seine Freundin hat ihn verpfiffen, und jetzt sitzt er in Untersuchungshaft. Aber wenn Sie mich fragen, ist da was faul.“

Der Graf sah ihn fragend an: „Wenn Sie's herausbekommen - informieren Sie mich?“

„Exzellenz“, sagte Gerlach, „wenn ich's herausbekomme, werden Sie's erfahren. Also: Mich interessiert nicht, was sie für Pläne mit Grete Eschenbacher hatten, mich interessiert nur eines: Was steht in dem Testament? Wer erbt den ganzen Schotter?“

„Schotter?“ Der Graf war hörbar schockiert. „Wissen Sie eigentlich, um was es da geht? Ich will Ihnen mal eine kleine Ahnung vermitteln. Grete Eschenbacher besaß eine der schönsten privaten Schmucksammlungen, die ich je gesehen habe. Und ich habe schon einige gesehen, das können Sie mir glauben.“ Einen Moment schien es, als übermanne ihn die Rührung. Das glaube ich dir Strizzi sofort, dachte Gerlach.<para160>

„Dann waren da ihre Pelze. Allein der Zobel ... Aber wahrscheinlich verstehen Sie davon nichts.“ Der Blick des Grafen glitt über Gerlachs praktische Reisejacke. Gerlach steckte sich eine Salzstange in den Mund.

„Allein ihr kleines Appartment bei Paris war einiges wert. Und dann natürlich ihr Landsitz in Eternes. Marvellous, ich meine: einzigartig.“

Gerlach kaute und nahm einen Schluck Martini.<para160>

Der Graf betrachtete die polierten Fingernägel seiner linken Hand. Erstklassige Arbeit einer erstklassigen Maniküre. „Zufällig habe ich hier die Kopie eines Dokumentes, das beweist, daß ich Grete Eschenbachers Vermögen stets korrekt betreut habe, jedenfalls so weit ich darauf Zugriff hatte.“ Orlanda„ griff in die Innentasche seines Zweireihers und brachte eine Anzahl gefalteter Photokopien hervor. „Isch übärrgebe Sie Ihnen zu treuen Änden, main Froind.“

Gerlach kippte verdutzt den Inhalt seines Glases herunter.

„Warum?“

„Isch abe sie nicht umgebracht, und Sie sähen so aus, als würden Sie mir das abnehmen.“ Sein falscher Zungenschlag kam wieder durch, aber seine Unschuldsbeteuerung klang irgendwie echt.

„Sie haben meine Frage nicht beantwortet: Wer erbt?“

„Sehen Sie, das ist eben die Frage. Das Problem wird eine Menge Anwälte beschäftigen. Bei den Kopien ist ein Schreiben eines befreundeten Rechtsanwaltes, den ich mit der Wahrnehmung meiner Angelegenheiten betraut habe. Ich persönlich bin bis auf weiteres indisponiert.“

„Das kann ich gut verstehen“, sagte Gerlach, „wo geht's denn hin?“

„Einstweilen nach Chikago, aber die Welt ist groß, you understand?“

„Vollkommen, Durchlaucht.“<para160>

Strahlend erhob sich Graf Orlanda„ zu seiner beachtlichen Größe und deutete einen Wangenkuß an. Von weitem mußten sie wirken wie zwei schwule alte Bekannte, dachte Gerlach. Dieses Schlitzohr hielt sich wirklich nach allen Seiten offen. Aber Charme hatte er, mehr als genug, das mußte man ihm schon lassen. „Also Graf, es hat mich sehr gefreut. Wenn Sie mal in Deutschland vorbeikommen sollten ...“

„Aahh, sehr gern, sehr gern, wenn es meine Geschäfte zulassen.“<para160>

Sie komplimentierten sich aus der Lounge heraus, daß es eine Freude war. Der Graf verschwand zwischen einer Gruppe Hindus und einer vielköpfigen Scheichfamilie, als hätte ihn der Erdboden verschluckt.<para160>

Gerlachs Flug nach New York war zum Einsteigen klar. Jetzt mußte er nur noch den richtigen Flugsteig finden. Er lag, wie sich herausstellte, am anderen Ende des Flughafens. Gerlach fluchte leise, und sprintete los. Mit hängender Zunge kam er am PanAm-Counter an, wo ihn das Personal ratlos betrachtete. „You're getting late, Mr Gerlak“. Das weiß ich selber, Ihr Deppen, schimpfte er lautlos, macht voran.

Die Stewardeß quakte irgendetwas in ihr Mikrofon, zeigte auf den Ausgang, wo jemand gerade damit beschäftigt war, eine Absperrkette zu befestigen, und Gerlach enterte atemlos die Boeing747, ohne sich davon überzeugen zu können, ob sie noch über Trag-, Fahr- und Leitwerk verfügte.<para160>

<Kapitel XI>

Zur Strafe wurde er in die allerletzte Reihe gesetzt. Gerlach war das nur recht. Er hatte den Platz neben sich frei, und mehr konnte man wirklich nicht verlangen. So ein Jumbo sah von innen nicht aus wie ein Ding, das fliegen kann. Eher wie ein Kino, in dem die Sitzreihen zu eng standen. Trotzdem brummte die Maschine los und erhob sich nach einiger Zeit in die Luft, als sei das selbstverständlich. Gerlach blätterte unbeteiligt in der USA Today. Wenn man der bunten Wetterkarte Glauben schenken durfte, war es in New York kalt und regnerisch, in Neu Mexiko dagegen warm und trocken. Nun ja, dazu brauchte man eigentlich keine Wetterkarte.<para160>

Wieder gab es Erdnüsse. Gerlach war allmählich flau im Magen. So war er sogar dankbar, als die nächste Plastikkiste serviert wurde. Innen drin war Huhn mit Reis, natürlich. Das konnten sie jedem vorsetzen, ob Moslem oder Katholik, ob Säugling oder zahnlosem Greis. Gerlach aß alles auf, selbst die rote Kunststoffkirsche, die das Dessert schmückte. Dann klappte er den Deckel wieder zu, schob den ganzen Kram auf den Nachbarsitz und hielt dezent die Hand vor den Mund, als er so unauffällig wie möglich rülpste. Die Stewardeß kam und fragte netterweise nicht, ob es ihm geschmeckt hätte. Etwas Kaffee? Na klar, und einen Cognac. Oh, der kostet vier Dollar. Macht nichts. Da hatte er ja noch Glück, daß die Benutzung der Bordtoilette kostenlos war.<para160>

Die Wolkendecke hatten sie durchstoßen, der Himmel färbte sich erst dunkelblau, dann tiefblau, schließlich violett. Tief unten lag der Atlantik unter einer geschlossenen Wolkendecke. Früher waren sie wochenlang kotzend unterwegs gewesen, um das gelobte Land zu erreichen. Heute flog man einfach so drüber weg. Wenn er keine quengeligen Kinder neben sich hatte oder finster blickende Geschäftsleute, wenn das Menü überstanden war und die Stewardessen sich entspannten, wenn die ersten Passagiere mehr oder weniger einnickten, wenn Ruhe einkehrte an Bord, dann hatte Gerlach manchmal einen dieser seltenen Momente und es überkam ihn vollkommene Rührseligkeit. Dieser kleine Planet dort unten schien so seltsam unberührt. Und dieses Flugzeug schwebte über ihn hin und bohrte Löcher in die Ozonschicht. Vielleicht hing es auch mit dem Sauerstoffmangel zusammen.

Er holte die Photokopien des falschen Grafen hervor. Zuoberst lag ein sauber beschriftetes Blatt: Solde prive de Mme. Grete Eschenbacher parts pres la Maison Eschenbacher & Co. Sieh an, dachte Gerlach, da hat man es doch endlich mal schwarz auf weiß, was diese Verleger so abzocken. Ende letzten Jahres hatte der Stand ihres Privatkontos bei drei Millionen fünfhundertachtzundzwanzigtausend neunhundertsiebenundsiebzig Mark gelegen. Zwei Millionen achthunderttausend hatte sie bis zu ihrem Tod auf den Kopf gehauen, zwei Millionen vierhunderttausend angeblich an Steuern gezahlt. Wenn sie im gleichen Zeitraum nicht einen Gewinn von fünf Millionen dreihunderttausend aus der Zeitung gezogen hätte, rechnete Gerlach voller Mitleid, wäre sie glatt in die Miesen geraten. So aber lagen jetzt satte drei Millionen sechshunderteinundzwanzigtausend auf diesem Konto, über das auch der Graf verfügen durfte. Das war offenbar die Portokasse.<para160>

Es folgte eine Liste ihrer Immobilien und ein Verzeichnis der wichtigsten Schmuckstücke. Die Steine, von denen Henry ihm erzählt hatte, waren die weniger bedeutenden.<para160>

Ganz hinten war die Kopie eines Schreibens einer ominösen Anwaltskanzlei. Gerlach las und las, mit wachsender Verwirrung. Klar war nur, daß Grete Eschenbacher in erbrechtlicher Hinsicht ein gewaltiges Kuddelmuddel hinterlassen hatte. Kinder gab es keine, an Verwandten nur einen entfernten Neffen, dafür aber jede Menge Leute, die versuchen würden, an das Eschenbachersche Vermögen heranzukommen, das freilich zum Teil in der Schweiz lag. Und noch eins war rätselhaft: Die Zeitung wurde mit keinem Wort erwähnt. Dabei war sie doch eindeutig der fetteste Brocken. Noch verwickelter wurde die Lage dadurch, daß überhaupt nicht klar war, welchen Wohnsitz die Dame gehabt haben mochte. Der Verfasser dieser Expertise hatte allerhand juristische Scharfsinnigkeit darauf verwandt, nachzuweisen, daß Grete Eschenbacher mehr oder weniger Französin gewesen sei. Er zitierte einen ganzen Schwung von Fachliteratur und kam zu dem imposanten Schluß: „Es ist ausgeschlossen, die Anwendung von fundierten und respektierten Gesetzen, die kraft einer seit je her unangefochtenen Rechtstradition im Ausland bestehen, und der hierauf gestützten ausländischen Entscheidungen im Inland unter Hinweis auf den ordre public zu verbieten, wenn das deutsche Recht insofern nur systematisch andere Ausnahmebestimmungen trifft, die erkennbar spezifisch deutsche Verhältnisse zum Gegenstand haben.“

Da mochte einer draus schlau werden.<para160>

Inzwischen lief das Mäusekino. Die Stewardeß kam und bot Gerlach einen Kopfhörer an, gegen Cash, wie er mitbekam. Er lehnte dankend ab. Es ging um irgendeinen Krokodildandy, neunte Folge. Da er die ersten acht auch nicht gesehen hatte, würde er wohl nichts verpassen.<para160>

Gerlach stand auf, holte sich eine Decke, hüllte sich ein, zog die Schuhe aus und versuchte es mit Nachdenken. Der Mord an Grete Eschenbacher war ein sehr abstraktes Verbrechen, von Bord eines Jumbos über dem Atlantik aus betrachtet, wie überhaupt alles sehr abstrakt wirkte. Die Leinwand flimmerte, die Düsen rauschten, und Gerlach dämmerte weg.

Im Halbschlaf hatte er die seltsame Vision, wie ein schmutziger Pudel von einem Krokodil verschlungen wurde. Nur der gestutzte Schwanz ragte zwischen den spitzen Zahnreihen hervor und wackelte erregt. Zwei Männer zerrten an dem Krokodil und versuchten, seinen Rachen aufzustemmen. Es hilft alles nichts, rief der eine, hier muß die Feuerwehr her. So ein Blödsinn, dachte Gerlach, hier hilft nur die Kriminalpolizei. Das Krokodil guckte listig. Vielleicht hatte es etwas zu verbergen.

Als er die Augen wieder öffnete, war der Film zu Ende. Er gähnte und sah zur Uhr. Halb acht. In einer Stunde mußten sie landen. Da war es dann halb vier. Er winkte nach der Stewardeß und bestellte einen Orangensaft. Den gab es erstaunlicherweise umsonst. Er sah aus dem Fenster und erkannte eine Küste. Wenn der Pilot nicht ganz daneben lag, mußte das die amerikanische Küste sein. Gerlach schlüpfte in seine Schuhe und drehte sich eine Zigarette, die ihm diesmal ganz ordentlich gelang. Wenig später flammte das Anschnallzeichen auf, und die Maschine ging in den Sinkflug. Von Long Island war weit und breit nichts zu sehen, aber wahrscheinlich saß er sowieso auf der falschen Seite. Die Turbinen heulten, die Landeklappen pfiffen, das Fahrwerk fuhr rumpelnd aus und unten waren sie. Die Erde hatte ihn wieder, jedenfalls vorerst.

Benommen ließ Gerlach die Paßprozedur über sich ergehen. Was die für einen Aufstand machten, das war schon nicht mehr normal. Immer noch dösig im Kopf trottete er durch den John- F.-Kennedy-Airport, der sicher auch schon bessere Tage gesehen hatte. Das nächste Mal fliege ich direkt, murrte er vor sich hin, und wenn ich abends Softeis verkaufen muß. Was war eigentlich aus dem guten alten Softeis geworden? Er hatte jahrelang keines mehr gesehen.<para160>

Die nächste Stunde schlug er in der Bar vor dem Terminal tot. Die Bedienung lächelte ihm zu: „Wanna drink <para160> something?“

„Yes please“, sagte Gerlach grimmig, „bloody mary.“<para160>

Sie war gar nicht beleidigt, sondern zog davon und kam mit einem turmhohen Glas wieder, in dem fünfundzwanzig Eiswürfel in einer roten Flüssigkeit schwammen. Gerlach ließ das Eis gegen die Schneidezähne klicken. Von so was ernährten sich die Amerikaner also. Draußen wurde es dunkel. Wie das Wetter war, konnte man beim besten Willen nicht sagen.<para160>

Die Maschine nach Dallas, Fort Worth war nahezu leer. Es ging rauf, vier Stewards waren reizend um jeden Gast bemüht, Erdnüsse wanderten an Gerlach vorbei, Papierservietten, Plastikkisten, Gratisdrinks und dann ging es wieder runter. Es war wie ein Film, der immer schneller und undeutlicher ablief. Die Leute hier trugen tatsächlich Cowboyhüte. Noch ein Shuttle und noch ein Flugzeug, noch mehr Erdnüsse und noch eine Bloody Mary. Gerlach kam es so vor, als sei er in Trance verfallen. Ein Teil von ihm sagte „Thanks very much“, und schnallte sich an, ein anderer Teil hatte sich losgelöst und flog einfach so mit.<para160>

Erst als das unwiderruflich letzte Flugzeug dieses Tages in El Paso aufsetzte, fand Gerlach in die Wirklichkeit zurück. Er kletterte aus der Tür, und wurde von dem heißen Geruch nach Kerosin und Asphalt überwältigt. Es herrschten siebenundzwanzig Grad, wie eine Leuchtschrift verkündete. Im Dunkeln meinte er, ein paar fette Kakerlaken über das Rollfeld huschen zu sehen.<para160>

Im Flughafengebäude dauerte es endlos, bis das Gepäckband sich in Bewegung setzte. Gerlach überlegte, wie er an ein Bett gelangen könnte. Da kam sein Koffer durch die Klappe: Diese Freude des Wiedersehens. Saubere Leistung. Nie wieder etwas gegen die PanAm. Er rollte sein Gepäck zum Schalter und erkundigte sich nach dem nächsten Holiday Inn. Wo auch immer in der Welt er jetzt war - es mußte ein Holiday Inn geben. Natürlich gab es eines. Es lag sozusagen quer über die Straße.

Gerlach ließ sich in das erstbeste Taxi fallen. Der Fahrer drehte sich nicht einmal um. Vielleicht kannte er das schon. Er schaukelte um vier Ecken und kassierte fünf Dollar. Wie hoch stand der Dollar eigentlich? Ach, es war so was von gleichgültig, daß es gar nicht mehr zu sagen war.<para160>

Wie er an dem Empfang vorbei in sein Zimmer gekommen war, daran konnte sich Gerlach später nicht mehr erinnern. Er fiel auf das Bett und war eingeschlafen. Mitten in der Nacht wachte er auf, tastete nach dem Lichtschalter, fand ihn schlafwandlerisch und drehte sich auf die Seite. Morgen war auch noch ein Tag.

<Kapitel XII>

Völlig verwirrt wachte Gerlach auf. Für einen langen Moment wußte er weder, wo er sich befand, noch, wie er hierher gekommen war. Das Zimmer kam ihm nicht bekannt vor, und auch die Geräusche draußen konnte er nicht deuten. Er rollte sich vom Bett und ging zum Fenster. Ein Gärtner war damit beschäftigt, fremdländische rote Gewächse abzubrausen. Möglicherweise sahen so Bougainvilleen aus. Auf dem Nachttisch stand ein Glas Bier und roch schal. Angezogen zu schlafen war nicht besonders fein.

Die Dusche setzte das halbe Badezimmer unter Wasser, doch anschließend fühlte er sich erheblich besser. Der Koffer sah aus, als hätten die Glasgow Rangers mit ihm gespielt, aber der Inhalt war unzerbrechlich. Eine fast neue Jeans, ein weißes T-Shirt und Turnschuhe, das war amerikanisch genug. Draußen knallte die Sonne herab, als ob sie Teer zum Schmelzen bringen wollte.

Der Frühstücksraum dagegen war eiskalt und dunkel. Was sie an der Beleuchtung sparten, steckten sie in die Klimaanlage. Es gab jede Menge Kaffee, Eier mit Speck, Bohnen, Tortillas, T-Bone-Steaks und Obst, Hauptsache groß und bunt. Gerlach stopfte hinein, was hineinging, drehte sich eine Zigarette und ging zum Empfang. Doch, einen Mietwagen könne er sofort bekommen und selbstverständlich gäbe es ein Fax, gleich da drüben im Büro. Gerlach war beruhigt.<para160>

Auf seinem Zimmer rechnete er. Wenn es hier sechs Stunden früher war, dann mußte es in Hamburg sechs Stunden später sein, und Hanno saß vor seinem Bildschirm. Es dauerte eine Weile, bis Gerlach mit den verschiedenen Piepstönen des Telefons zurechtkam, aber dann hörte er es doch sehr entfernt summen. „Ja bitte?“ meldete sich Hannos Stimme.

„Ich bin's, Gerlach.“ Es gab eine merkwürdige Zeitverschiebung, sodaß beide auf einmal redeten.

„Wo bist du ?“ Pause. „Im Holiday Inn.“ Na also, man mußte nur ein bißchen warten.

„Hast du was rausbekommen?“

„Ja.“

„Kannst du mir das wichtigste faxen?“

„Meine Güte, das wird teuer.“

„Für wen?“

„Na gut. Wie ist die Nummer?“

„Laß ich dir durchsagen. Ich bin dir wirklich sehr verbunden.“

„Wenn es denn einem guten Zweck dient ... Mach's gut.“

„Du auch.“

Gerlach drückte die Gabel herunter und wählte die Nummer von Sabine Gross. Es klingelte eine Weile, und dann war wieder die Haushälterin dran.

„Ach, Sie sind schon hier?“

„Ja, gerade angekommen.“

„Sie haben Glück. Frau Gross ist wieder zurück aus dem Krankenhaus. Sie fühlt sich ein bißchen schwach, aber es geht ihr ganz gut.“

„Wie komme ich denn zu Ihnen hin?“

„Sie fahren auf den Highway und dann immer gerade aus. Sie biegen in Alamogordo links ab und nach ungefähr zehn Meilen geht es rechts hinauf in die Berge. Der letzte Ort vor dem Paß ist es. Windfalls. Am besten fragen Sie dort, das Haus ist nicht schwer zu finden.“

„Wie lange brauche ich?“

„Ungefähr drei Stunden. Sie können am frühen Nachmittag da sein.“

„Also bis dann.“

Gerlach stopfte seine Sachen in einen Beutel für die Wäscherei, stellte ihn vor die Tür, packte das Diktiergerät ein und ging hinunter zur Rezeption, wo er den Wagenschlüssel bekam und darum bat, die Faxnummer nach Hamburg durchzugeben. Er sei willkommen, hörte er, und war verdattert, bis ihm einfiel, daß das nichts zu bedeuten hatte.

Der Wagen war eines dieser undefinierbaren japanischen Produkte, die praktisch sind und sonst nichts. Vier Räder, ein Lenkrad, ein Radio. Gerlach setzte sich rein, drehte den Zündschlüssel, schob den Automatikschalter vorwärts, und schon rollte er vom Parkplatz. Autofahren war das einfachste von der Welt, wenn man wußte, wo man hinwollte.

Mit Stadtplänen mußte man sich in El Paso nicht groß aufhalten. Es ging einfach nach Westen. Die letzten schäbigen Lagerhallen der Stadt hatte Gerlach bald hinter sich, und geradeaus dehnte sich der Highway bis zum Horizont. Links war Wüste, rechts war Wüste, locker mit trockenem Gestrüpp bewachsen, in der Ferne eine Bergkette. Gerlach schaltete das Radio ein, kurbelte das Seitenfester herunter, hängte den Arm raus und fühlte sich wie Dennis Hopper.<para160>

Ab und zu kam ihm ein Lastwagen entgegen, einmal überholte ihn ein Streifenwagen, und das war auch schon das aufregendste, was bis Alamogordo passierte. An der Straßenkreuzung links stand ein Schild, das darüber informierte, man möge bitte halten und den Motor abstellen, wenn sich eine Cruise Missile von links nähern sollte. Die hatten schon einen merkwürdigen Humor, diese Amerikaner. Hier in der Wüste, fiel Gerlach ein, hatten sie Atombombenversuche unternommen und ein ganzes Geschwader strategischer Kampfflugzeuge stationiert. Der Ort bestand praktisch aus der Air Force Base, und so sah er auch aus.<para160>

Hinter Alamogordo änderte sich die Gegend. Rechts ging es erst sanft, dann steiler in die Berge, und je höher Gerlach kam, desto üppiger wucherte die Vegetation. Richtige Wälder gab es hier oben, und die Luft wurde spürbar frischer. Vögel sangen in den Zweigen, und Gerlach fühlte sich in den Schwarzwald versetzt. Am Ortseingang von Windfalls lag eine Tankstelle. Gerlach bog hinein, stieg aus und reckte sich. Ein Mann mit rotbraun kariertem Holzfällerhemd kam heraus. „Voll?“ fragte er.

Gerlach nickte. „Wissen Sie, wo Frau Gross wohnt?“

„Die Deutsche? An der ersten Kreuzung links, das vorletzte Haus. Es hat rote Fenster. Das macht fünfundzwanzig Dollar.“<para160>

Gerlach zückte seine Kreditkarte. Mal sehen, ob das stimmte, was die immer behaupteten. Jawohl, auch im Bundesstaat Neu Mexiko akzeptierte man ein Stück Plastik.

Er fand das Haus auf Anhieb. Es sah aus wie eine Kopie des Dreimädelhauses: Mit Holzschindeln gedeckt und mit Holz verschalt, das vom Wind und von der Sonne dunkel gebeizt war. Gerlach stellte seinen Wagen ab und stieg aus. Durch einen kleinen Vorgarten steuerte er auf die vordere Veranda zu. Dort saß, in einem Schaukelstuhl und mit einer Wolldecke behängt, eine in sich zusammengesunkene Gestalt. Gerlach trat näher und scharrte mit den Füßen. „Frau Gross?“

Sie schreckte hoch. Blaßblaue Augen blickten ihn aus einem Gesicht an, das wie ein runzliger alter Weihnachtsapfel aussah. Die Haut war gebräunt, aber dicht darunter lag eine fahle Farbe. „Mr. Gerlach?“

„Ja, ich komme aus Ihrer Heimatstadt.“ Etwas besseres fiel ihm nicht ein.

„Aus der Heimat“, stellte sie fest. Ihre Stimme war schwach.

„Wie geht es Ihnen?“

„Ach, es geht. Es muß ja.“ Nach all den Jahren war ihr Deutsch etwas eingerostet.

„Wollen Sie sich nicht hier neben mich setzen? Man hat so einen schönen Ausblick.“

Gerlach stieg die Stufen zur Veranda empor und sah sich um. Man konnte über Bäume weit hinein in die Ebene blicken, wo die Hitze Dunstschleier aufsteigen ließ. Hier oben war die Temperatur angenehm, ein leichter Wind wehte, und man hörte das Holz arbeiten.<para160>

„Nehmen Sie sich einen Stuhl, junger Mann. Ich habe so selten Besuch, außer von Miss Lawrence. Sie pflegt mich, solange ich noch zu Hause sein kann.“Gerlach wollte eine Frage stellen und schwieg dann doch.

„Es ist das Blut. Die weißen Blutkörperchen, sie wollen nicht mehr“, sagte die alte Frau. „irgendwann ist jeder an der Reihe.“<para160>

Gerlach konnte ihr schlecht widersprechen. „Ich finde, Sie sehen ganz gesund aus“, sagte er ohne rechte Überzeugung.<para160>

Sie freute sich trotzdem: „So, finden Sie? Sind Sie gekommen, um falsche Komplimente zu machen?“

„Nein“, sagte Gerlach, „Das nun nicht.“

„Was ist denn mit der Grete oder Käthe, ich kannte sie ja kaum?“

„Sie ist tot“, sagte Gerlach ohne Umschweife, „ermordet.“

„Ach wirklich?“ Sabine Gross war nicht allzu erschüttert. „Warum denn das?“

„Das versuche ich, herauszubekommen“, sagte Gerlach. „Vielleicht können Sie mir dabei helfen.“

„Ich bin doch schon vor zwanzig Jahren fort.“

„Das macht nichts. Ich würde gern wissen, wie das damals war, nach dem Krieg. Sie waren doch dabei?“

Die alte Frau fummelte ein paar Wollflusen von ihrer Decke. „Wollen Sie vielleicht etwas zu trinken?“

„Sehr gern“, sagte Gerlach.

„Einen Eistee?“

„Das wäre wunderbar“, übertrieb er.

Sie rief mit ihrer dünnen Stimme nach ihrer Pflegerin, die hinter der Tür gelauscht haben mußte, so schnell war sie da. „Wendy, das ist der Besuch aus Deutschland, der angerufen hat, du weißt doch.“

Höflich stand Gerlach auf und schüttelte der robusten Mrs. Lawrence die Hand.

„Bring uns etwas kalten Tee, bitte.“ Wendy Lawrence verschwand und kam mit einem Tablett wieder, das sie auf einen Hocker zwischen die beiden stellte. Dann marschierte sie ins Haus zurück, um weiterzuhorchen. Sie verstand offenbar eine Menge.

„Ja also, wie das damals war? Warten Sie, mein Gedächtnis ...“

„Darf ich das aufnehmen?“ fragte Gerlach und holte sein Diktiergerät hervor.

„Ach Gott, meinen Sie, das ist so wichtig?“

„Bestimmt“, sagte er.

Ein Windstoß fuhr durch die Bäume. Gerlach nahm einen Schluck Tee.

„Wissen Sie, Ihr jungen Leute könnt Euch das gar nicht mehr vorstellen. Diese Zerstörung, diese Not. Die ganze Stadt lag in Trümmern. Nur unsere Zeitung nicht. Es hatte gebrannt, das ja, aber wir hatten einen eigenen Brunnen und konnten das Feuer löschen. Das war vielleicht eine Nacht.“

Gerlach unterbrach sie: „Wer hat damals den Betrieb geleitet?“

„Ja, sie waren alle weg. Der alte Kommerzienrat saß in Leipzig, der Konsul in Berlin. Na, ich habe den Betrieb geleitet, und dabei war ich doch noch so jung.“

Gerlach unterbrach sie nicht mehr. Irgendwie würde sich das alles schon aufklären.

Sabine Gross hatte jetzt alles in ihrem Kopf zusammengesucht. „Wissen Sie, eigentlich war es die wichtigste Zeit in meinem Leben. Was später kam, das war nicht mehr so, äh, so ...“, sie suchte nach Worten, „so doll. Aber damals: Ich habe den Betrieb gerettet. Als die Amerikaner schon vor der Stadt standen, da kam die Parteileitung noch zu uns und ließ ein Flugblatt drucken. Leever dod as sklav, stand da drüber, glaube ich, und die Bevölkerung sollte sich bis zuletzt wehren. Ich war selbst im BdM gewesen, wer war das denn nicht? Aber dieses Flugblatt, das hätten sie sich sparen können. Dann sollten wir die Druckmaschinen wegbringen, aber wohin denn? Einen Teil haben sie in die Heide geschafft, der Rest blieb da. Und dann kamen die Amerikaner. Ich glaube, es war die neunte Armee. Dann zogen die Amerikaner wieder ab, und die Engländer kamen. Das war vielleicht ein Durcheinander. Was sollte ich denn machen? Telefon gab es ja keines mehr.“

Die alte Frau hatte sich erwärmt an ihren Erinnerungen. Sie schaukelte mit ihrem Stuhl hin und her und wirkte aufgekratzt.<para160>

„Der Konsul hatte in Berlin Karriere gemacht, ein richtig hohes Tier in der NSDAP war er und Konsul von Ungarn und er machte wichtige Geschäfte. Das Sagen hatte seine Frau, die Charlotte. Der konnte man nichts vormachen. Die hielt den Besitz zusammen, wenn die mal da war, dann dienerten sie alle nur so herum, selbst die Parteigenossen. Aber Charlotte Wolff war bei ihrem Vater in Leipzig, und da waren schon die Russen. Der Kommerzienrat hatte mir den Betrieb in die Hände gelegt, als wir zum letzten Mal telefonierten. “Gott mit Ihnen, Frau Gross„, hat er gesagt, ich höre es noch, als wäre es gestern gewesen. Ich kannte einen Kurier, der kam durch die Linien, und so erfuhr ich, was passierte. Der Kommerzienrat hängte sich auf. Seinen Sohn brachten sie ins Internierungslager in den Taunus. Und Charlotte Wolff saß in Leipzig fest und kam nicht raus. In meiner Not fiel mir der junge Paul Eschenbacher ein. Sein Vater hatte auch eine Zeitung herausgegeben, vor dreiunddreißig. Der Laden war ausgebombt, und Eschenbacher war untergetaucht, weil er mit einer Jüdin verheiratet war. Ich sagte das den Engländern, und sie machten sich auf die Suche. In Leipzig entdeckten sie ihn, mitsamt seiner Frau. Im April 4_ziff1_ stand er plötzlich bei mir in der Tür, ein bißchen magerer als früher, aber immer noch elegant. Ich war ja so froh. “Esche, Sie schickt der Himmel„, rief ich, und fiel ihm um den Hals. Hätte ich gewußt, was er für ein Kerl war, ich hätte ihn da in Leipzig sitzen gelassen und die ganze Mischpoke dazu.“

Sabine Gross hatte sich in milden Zorn geredet. Gerlach goß ihr kalten Tee nach, doch sie nahm es gar nicht wahr.

„Bei den Engländern gab es einen flotten, den Colonel Vance. Der war immer umgeben von einem ganzen Schwarm schöner Dolmetscherinnen. Paul Eschenbacher schloß sofort Freundschaft mit Vance. Der war irgend etwas beim Intelligence Service, beim Nachrichtendienst also, er hatte jedenfalls Einfluß. Es sah zuerst nicht so aus, als wenn Eschenbacher die Zeitung wirklich übernehmen könnte. Die Sozis wollten sie haben, und sie überredeten den Militärgouverneur, ihnen alles zu überlassen. Eschenbacher mußte seinen Schreibtisch räumen und abziehen. An seine Stelle setzten sie ausgerechnet den alten Willi Aufrede. Das war ihr Fehler. Aufrede war Nazi durch und durch, das wußte bei uns jeder. Also rief ich bei den Amerikanern an. Das war gar nicht so einfach, weil es zum Teil ja nur Feldtelefonverbindungen gab. Aber es klappte. Bis zum obersten Militärgouverneur ging die Sache, und ruckzuck waren die Sozis und Willi Aufrede nach zwei Tagen wieder draußen. Wie es sich gehörte.“

Die alte Frau rieb sich vergnügt die Hände. Auf diesen Coup war sie heute noch stolz, das konnte man deutlich sehen.

„Schon stand Eschenbacher wieder im Büro, und da blieb er dann auch. Er bekam die Zeitungslizenz Nummer zwei in der englischen Zone, aber eigentlich war es die erste Lizenz. Jetzt durfte er eine Zeitung drucken. Wem die Druckerei gehörte, war erst mal allen egal. Hauptsache, es konnte wieder losgehen. Es gab so einen Hunger nach Informationen, das können Sie sich nicht vorstellen. Aus den Händen wurde uns die Zeitung gerissen, regelrecht aus den Händen gerissen. Wir konnten gar nicht genug drucken.“

„Wer war denn damals Chefredakteur?“ wollte Gerlach wissen.

„Na, Eschenbacher jedenfalls nicht. Er hatte keine Ahnung, außer vom Geschäft. Eckard Runger war der erste Chefredakteur.“

Damit hatte Gerlach nicht gerechnet. „Ach“, sagte er nur. Er konnte sich noch vage an Rungers Rundfunksendungen erinnern. Adenauer hatte mehrmals versucht, Runger abzuschießen, aber das war selbst dem alten Knacker nicht gelungen.

„Wissen Sie, wo Runger heute lebt?“ fragte er ins Blaue hinein. Der Mann hatte sich resigniert verzogen, kein Mensch wußte, wohin.

„Er hat mir mal eine Postkarte geschickt, als Erinnerung an die alten Zeiten, schrieb er, ich glaube, aus Norwegen. Warten Sie mal, Wendy?“

Wie der Blitz war Mrs. Lawrence da.<para160>

„Holen Sie mir bitte mein Album?“

Die Pflegerin kam zurück mit einem braunen Photoalbum, in das Postkarten, Schnipsel, Eintrittstickets, Fahrkarten, Familienbilder eingeklebt waren. Nicht viel, dachte Gerlach, was von einem Leben so bleibt.

Sabine Gross blätterte. Sie schniefte leise. Dann sagte sie: „Hier, das ist es: In Irland ist er, Toreen. Muß ein ganz kleiner Ort an der Küste sein.“

Gerlach sah sich die Karte an. Ein Haus war darauf zu sehen, ein Stück Fels, und dahinter nichts als Himmel und Meer. Runger mußte ganz schön schwindelfrei sein, auf seine alten Tage.

„Haben Sie mal mit ihm gesprochen?“

„Nein, ich könnte mir vorstellen, er hat gar kein Telefon. Er war schon damals ein bißchen menschenscheu.“

<Kapitel XIII>

Die Sonne war gesunken und warf ein warmes Licht auf die Holzveranda. Sabine Gross balancierte ihr Album auf den Knien, und schlug die Seiten um.<para160>

„Hier, sehen Sie, das war 194? auf der ersten Industriemesse nach dem Krieg. Paul Eschenbacher und seine Frau Ruth, seine erste Frau, die Jüdin.“

Gerlach beugte sich hinüber und betrachtete das Bild. Augenblicklich mußte er an Kartoffelsuppe denken. Die Nase war schon ein komisches Organ: Nichts hatte er in seiner Kindheit mehr gehaßt als den muffigen Geruch aufgewärmter Kartoffelsuppe. Paul Eschenbacher war damals schon nicht mehr auf Kartoffelsuppe angewiesen, das sah man deutlich: Zweireiher, hochglanzpolierte Schuhe, ein tadelloser Hut und eine Brille, die ganz bestimmt nicht von der Krankenkasse bezahlt worden war. Er machte einen unternehmungslustigen Eindruck -- unter dem rechten Arm trug er eine Aktentasche, mit dem linken hatte er seine Frau untergehakt. Sie sah nicht ganz so vergnügt aus.

„Wie gingen denn die Geschäfte?“ fragte Gerlach.

„Sie gingen sogar glänzend. Wir hatten ja das Monopol für den gesamten Raum.“<para160>

„Da war er Ihnen sicher dankbar, der Eschenbacher, daß sie ihn geholt hatten.“

Die alte Frau schnaufte böse durch die Nase. „Wenn er ein anständiger Mensch gewesen wäre, ja. War er aber nicht. Wissen Sie, was er mit mir gemacht hat? Er hat mich entlassen. Einfach rausgeschmissen hat er mich.“

„Und warum?“„Das hat er mir nie gesagt. Ein Jahr später hat er mich wieder eingestellt, aber nicht als Verlagsleiterin, ach bewahre. Als kleine Maus in der Anzeigenabteilung. Das war die Dankbarkeit des Verlages, bei allem, was ich getan hatte. Stattdessen kam der Herr Haßmann aus Sachsen. Der war Zahlmeister gewesen und angeblich hatte er die Regimentskasse mitgehen lassen, als der Krieg vorbei war. Jedenfalls hatte er Geld. Der hat immer Geld gehabt, auch später. Keiner wußte genau, woher. Wie alt mag der jetzt sein? Kennen Sie ihn?“

Gerlach hatte von ihm gehört. Er war der Vorgänger von Oelkers gewesen, so weit er wußte. Er schüttelte den Kopf.

„Das war vor meiner Zeit. Wo steckte denn eigentlich die ganze Zeit über die Familie Wolff.“

„Sehen Sie, das wollte ich Ihnen schon vorhin erzählen. Das war nämlich das Merkwürdige: Der Haßmann erzählte überall herum: Der Herr Eschenbacher ist hier nur Geschäftsführer. Und Eschenbacher war sich auch nicht so ganz sicher, ob ihm die Zeitung rechtmäßig gehörte. Da war doch immer die Rede von Vergesellschaftung und Enteignung. Den Engländern war das am Ende egal. Jedenfalls war der alte Kommerzienrat tot. Und der Konsul saß in Oberursel im Internierungslager. Das war Eschenbacher nur recht. Er stachelte den Colonel vom Nachrichtendienst auf, einen Brief zu schreiben und um eine harte Strafe zu bitten. Die beiden waren sowieso ein Herz und eine Seele, der Colonel und Paul Eschenbacher. Die fuhren ständig zusammen weg, nach Berlin, ins Ruhrgebiet, nach München, und wenn sie dann zurückkamen, waren sie verkatert und hatten ein paar Tausender auf den Kopf gehauen. Das war damals viel Geld. Von Weibergeschichten wurde erzählt, ganz genaues wußte man nicht, aber daß der Eschenbacher hinter jeder Schürze her war, fiel nun wirklich auf. Und zu Hause saß seine arme Frau. Die Frauen sind immer die Dummen, das habe ich gelernt.“

Gerlach blickte so neutral wie möglich. Das kam ihm bekannt vor. „Und die Wolffs?“

„Ja richtig, die Wolffs. Ich erinnere mich genau. Das war vielleicht eine komische Sache. Im Juni neunundvierzig rauschte plötzlich die Charlotte Wolff über den Flur. Bißchen weniger schick sah sie aus, vielleicht, aber die wußte, was sie wollte. Manche Frauen sind gar nicht so dumm, sehen Sie?“

Gerlach verkniff sich jede Bemerkung. „Haben Sie zufällig ein Bild von Ihr?“ fragte er.

Sie kramte eine Weile. „Nein, aus der Zeit nicht, erst von später, da hat sie das Verdienstkreuz bekommen. Hier, das ist sie.“

Gerlach griff nach dem Album. Er sah eine Frau mit einem Sektglas in der Hand. Sie hielt es fest, als wollte sie ein für alle mal klar stellen: Dieses Glas war ihr Glas. Das würde ihr niemand wegnehmen. Und auch sonst nichts. Alles ihrs, alles hart erworben, auch die Ringe an den Fingern, die sie zierlich spreizte. Sie sah so aus, daß Gerlach, wäre er bei dem Empfang dabeigewesen, es gar nicht erst versucht hätte, ihr zu nahe zu kommen. Über ihrem Arm baumelte eine solide Handtasche. Wahrscheinlich trug sie darin einen Barren Blei aus der Setzerei mit sich herum, um ihn jedem, der frech werden sollte, jederzeit über den Kopf ziehen zu können. Sie zeigte ihre zahlreichen Zähne, und das war kein Wunder, denn der Ministerpräsident hatte ihr soeben einen Orden verliehen. Ein kleiner Zeitungsausschnitt klebte daneben. Gerlach studierte ihn:

„Wir ehren in Charlotte Wolff“, hatte es in der Laudatio geheißen, „nicht nur eine Unternehmerin, die über Jahrzehnte hinweg eine bedeutsame Rolle im Pressewesen und in der Verlagswirtschaft gespielt hat. Wir wollen zugleich das Werk der Verlegerfamilie Wolff würdigen.“

Irgendwie waren Gerlach die bedeutsamen Aktivitäten der Verlegerfamilie Wolff nie aufgefallen. Sie mußten sich sehr im Hintergrund gehalten haben.

„... nach ihrer Übersiedlung in den Westen“, hieß es weiter, „nahm sie tatkräftigen Anteil an der Gestaltung der Firmengruppe, die heute aus der Druckerei sowie einem Fachzeitungsverlag gebildet wird. Es war ihr eine besondere Genugtuung, zu erleben, wie durch das weitgehende unternehmerische und finanzielle Engagement ihrer Familie hier die Zukunft des Verlages dauerhaft gesichert werden konnte. Sie empfand sich stets als Glied in einer der Familientradition verpflichteten Kette, wobei ihr Vater Gottlieb Paul Leonberger ihr stets Vorbild war.“

Bißchen wenig Schwung, fand Gerlach. Der Verlag hatte sich, wie aus dem Artikel hervorging, im großen und ganzen mit der Herausgabe eines Fachblattes für den Blumengroßhandel begnügt. Man hatte nach Verdiensten förmlich gekramt. Jedenfalls keine Rede von Paul Eschenbacher. Er gab das Album zurück.

„Was ist denn bei diesem denkwürdigen Besuch passiert?“ erkundigte er sich.

„Das hat nie jemand erfahren. Sie haben endlos getagt. Und dann verschwand sie wieder. Kurze Zeit später bezog ihr Sohn ein kleines Zimmerchen ganz oben unterm Dach. Was der da gemacht hat, wußte auch keiner. Aber er hatte ständig Unterredungen mit Haßmann.“

„Und Runger?“

„Der mußte gehen. Traurig war er nicht, er hatte ja bessere Angebote. Eschenbacher wurde Chefredakteur, offiziell. Geschrieben hat er nie eine Zeile, und die Arbeit mußten andere machen, aber wenn er von seinen Ausflügen zurückkam, dann hatte er immer noch das Recht, alles zu ändern. Er stellte Alfred Naumann als Stellvertreter ein, ausgerechnet. Das war für uns alle eine Überraschung. Sein Handwerk verstand er ja. Aber er war doch mit den Engländern gekommen!“

Gerlach war verblüfft. Was hatte denn das eine mit dem anderen zu tun? Diese Deutschen würde er nie begreifen, auch wenn er bis zum Lebensende selbst einer bliebe.

Sabine Gross mußte husten. Es klang beängstigend. Der Anfall schüttelte sie. Gerlach hatte ein schlechtes Gewissen. Er schaltete sein Diktiergerät aus. „Wollen Sie ins Haus?“ fragte er.„Nein danke, es geht schon, mir macht es Freude, und außer Ihnen interessiert sich ja doch niemand mehr für diese alten Geschichten.“

„Das ist wohl wahr“, stimmte Gerlach zu.<para160>

Eine Weile schwiegen sie beide. Der Himmel färbte sich karminrot. Darüber stand schon die Nacht. Gerlach kniff die Augen zusammen und versuchte, den Farbübergang zu finden. Es war unmöglich. Von hier oben mußte man den Orion sehen können, ganz bestimmt.<para160>

„Stört es Sie sehr, wenn ich mir eine Zigarette anstecke?“

„Nein, ganz im Gegenteil. Mein Mann hat auch geraucht. Manchmal vermisse ich den Geruch sogar, können Sie das verstehen?“

Kommt drauf an, wie er war, dachte Gerlach. Er angelte murkste mit dem Tabak herum, bis er sich eine Art Tüte zusammengedreht hatte. Manche Leute machten so etwas mit einer Hand. Es war vollkommen windstill geworden, und als er den Rauch von sich blies, hing er wie ein Spinnennetz in der Abendluft.<para160>

„Was ist mit Ihrem Mann?“ fragte er.<para160>

„Er liegt da hinten auf dem Friedhof, hinter den Bäumen. Als er damals aus der Kriegsgefangenschaft kam, hatte er sich verändert. Er fand keine Arbeit, wissen sie, die Nerven. Eine Zeitlang habe ich uns beide ernährt. Dann wollte er unbedingt auswandern. So sind wir hier gelandet. Wir haben nicht viel Glück gehabt, kann ich Ihnen sagen. Es war hart.“<para160>

„Hatten Sie noch Kontakt zur Zeitung?“

„Ein paar Freunde haben mir immer mal geschrieben. Das letzte, was ich noch weiß, war der große Krach zwischen Eschenbacher und Naumann. Es war Mitte des Jahres, an einem Sonntag. Die Rotation sollte gerade anlaufen, da kam Eschenbacher von einer seiner Touren zurück. Seine Frau, die Ruth meine ich, war dabei. Sie waren in der Mettage, er schwankte so, daß er beinahe die Setzkästen umgeworfen hätte. Er ließ sich einen Bürstenabzug von der Seite eins geben, und stierte drauf. Ich weiß nicht, ob er was erkennen konnte, aber er wollte unbedingt den Aufmacher ändern. Dabei hat er selbst nie eine einzige Zeile zu Papier gebracht. Naumann stand daneben. Sie brüllten sich an. Ruth zerrte an ihrem Mann, Naumann haute mit der Faust auf die fertigen Schiffe, die Metteure standen verlegen drum herum und wußten nicht, was sie machen sollten. Da nahm Eschenbacher ein Tintenfaß und wollte es nach Naumann werfen. Verrückt, nicht?“

Gerlach nickte. Das waren Geschichten, die in der Redaktion von Generation zu Generation weitergeben wurden. Selbst in den Außenredaktionen gehörte es zum festgefügten Ritus, daß jeder Neuling spätestens am zweiten Tag zu hören bekam, wie das damals gewesen sei, als der Eschenbacher dem Chef der Magirus-Werke wutschnaubend das Abonnement gekündigt habe, weil der sich in einem Leserbrief über einen Artikel beschwert hatte. Ein toller Verleger, Vollblutjournalist, sowieso. Der ließ sich von niemandem etwas vorschreiben. Kinder, was waren das noch für Zeiten. Und nun stellte sich heraus, daß er praktisch weder lesen noch schreiben konnte. Naja, das konnten viele nicht.<para160>

„Am nächsten Morgen hat Naumann gekündigt. Eschenbacher hat ihn zurückgeholt, aber Naumann war krank. Er bekam einen Nervenzusammenbruch. Der Verlag hat ihm nicht mal eine Abfindung gezahlt.“

Gerlach zog an seiner Zigarette, und ließ sie unter dem Absatz verschwinden. Den Rest der Geschichte kannte er. Nach Naumann war Flebbe gekommen, nach Flebbe Didier, nach Didier Leberecht, nach Leberecht Klapphoff, und es war wie eine Würstchenprozession gewesen, einer blasser als der vorangegangene.

„Und Grete Eschenbacher, wie kam die dazu?“ fragte er.

„Paul Eschenbacher hat es immer offener getrieben. Mit jeder Sekretärin hat er was gehabt. Jeder hat er was versprochen, nie hat er was gehalten. Rosa hieß eine, zum Beispiel. Meine Rose, hat er immer zu ihr gesagt, meine Rose. Und dann hat er sie sitzengelassen. Eines Tages ist sie bei uns im Büro durchgedreht. Als er vorbeikam und nicht mal guten Tag sagte, ist sie aufgesprungen, hat die Arme hochgerissen und ist durchs Zimmer getanzt. Paul, ich bin ein Buschwindröschen, hat sie gesungen, ich bin ein Buschwindröschen. Sie haben sie ab in die Klappsmühle gebracht. Ruth Eschenbacher fanden sie dann bewußtlos auf der Damentoilette in einem Lokal in der Innenstadt. Sie hatte Beruhigungstabletten geschluckt. Wenig später war sie tot. Woran sie gestorben ist, wurde nie bekannt.“

Das waren reichlich viel Nervenzusammenbrüche in Eschenbachers Umgebung, dachte Gerlach. Es mußte damals in den fünfzigern wild zugegangen sein.

„Eine hat dann doch das Rennen gemacht“, hörte er Sabine Gross, „Das war eben die Grete. Sie war auch nur Sekretärin, aber sie war clever. Manche Frauen sind nicht so dumm.“<para160>

Das war offenbar ihr Refrain. Gerlach knackte mit den Fingern. Die Dunkelheit hatte eingesetzt, und man sah Sterne, doch die Sternbilder kamen Gerlach anders vor. Vielleicht war die Perspektive in Neu Mexiko einfach anders.<para160>

„Ich muß mich, glaube ich, langsam auf den Weg machen.“

„Wollen Sie schon gehen? Mrs. Lawrence kann uns was zu essen machen.“

„Nein, vielen Dank, ich bin ziemlich müde, der lange Flug, wissen Sie.“

„Es hat mich sehr gefreut. In meinem Alter kommt irgendwann der letzte Besuch.“

„Ich war bestimmt nicht der letzte“, sagte Gerlach. „Um das Haus hier sind Sie zu beneiden.“

„Das ist das einzige, was mir in meinem Leben geblieben ist.“

Manche haben nicht mal das, dachte er.

„Wendy?“

Von drinnen ging die Tür auf und Licht fiel heraus. Im Türrahmen stand die Silhouette der Pflegerin.<para160>

„Bringen Sie Mr. Gerlach zum Wagen.“

„Sofort, Mrs. Gross.“ Sie kaute auf irgendetwas herum.

„Sie haben mir sehr geholfen“, sagte Gerlach und verstaute sein Diktiergerät. „Ich werde Ihnen schreiben, wie der Fall Eschenbacher ausgegangen ist.“

„Ach das wäre nett. Grüßen Sie meine Heimatstadt.“

„Mache ich bestimmt.“

Hinter ihm tauchte die Gestalt von Wendy Lawrence auf. „Hier entlang, bitte.“ Das hätte ich auch ohne dich noch gefunden, ärgerte sich Gerlach ohne erkennbaren Grund. Der Gedanke, die ganze Zeit diese Lauscherin in der Nähe gehabt zu haben, war ihm unangenehm.<para160>

Er schloß die Wagentür auf, drehte sich noch einmal um und rief „Wiedersehen“ zur Veranda hoch, obwohl er sich sicher war, daß es ein Wiedersehen nicht geben würde. Mrs. Lawrence ignorierte er. Sie sah ihm ohne erkennbaren Gesichtsausdruck nach, als er wendete und den gleichen Weg zurückfuhr, den er gekommen war.

<Kapitel XIV>

Im Radio schluchzte ein spanischer Sänger, als Gerlach die Serpentinenstraße zurückfuhr. Der Weg schien im Dunkeln länger zu sein. Heute war Donnerstag. Nächsten Mittwoch mußte er wieder in der Firma sitzen. Blieb nicht allzuviel Zeit. Wenn einer wußte, was Paul Eschenbacher und Charlotte Wolff miteinander verhandelt hatten, dann war es Eckart Runger.<para160>

Alamogordo sah bei Nacht entschieden eindrucksvoller aus als am Tag. Das machten die Reklameschilder. Hier ein Inn und dort eine Mall -- selbst die Tankstelle sah im künstlichen Licht nach etwas aus. Gerlach sah zur Tankuhr. Er hatte genug Benzin.<para160>

Auf dem Highway gab er mehr Gas, als die Polizei erlaubte. Sie hatten hoffentlich genug damit zu tun, illegale mexikanische Einwanderer zu fangen. Er schaffte die Strecke nach El Paso in anderthalb Stunden.<para160>

An der Rezeption lag ein dicker Packen Kopien für ihn. Hanno hatte geliefert, was er konnte. „Können Sie mal nachschauen, ob morgen ein Flug nach Irland geht?“ bat Gerlach. Der Portier blätterte. „Um dreizehn Uhr dreißig nach Dallas. Von da aus weiter mit Delta Air, Ankunft Shannon Airport acht Uhr fünfundfünfzig“, sagte er, „soll ich einen Platz buchen?“

„Ja bitte“, sagte Gerlach, „und schicken Sie ein Telegramm los.“

Er kritzelte vier Zeilen auf einen Block. „Recherchiere im Mordfall Grete Eschenbacher. Möchte Ihnen ein paar Fragen stellen. Hoffe, ich komme nicht ungelegen. Gerlach.“ An Eckart Runger, Toreen, Republik Irland. Mochte die irische Post sehen, wie sie das an den Mann brachte. Irland war schließlich nicht so groß. Gerlach griff sich die Faxkopien und ging auf sein Zimmer. Ihm fiel nichts ein, was er hätte unternehmen können.

Nachts und allein in einem Hotelzimmer in El Paso, das war nichts, wovon man unbedingt träumen konnte. Gerlach sah sich um: Bett, Fernseher, Sessel, Minibar. Die Hotelzimmer dieser Welt, sie hatten alle etwas Deprimierendes. Er kannte Vertreterhotels und Schauspielerhotels, kalte Schuppen und brüchige Buden, und es war alles der gleiche Käse. Diese Tapeten. Diese Teppichböden. Und dann die Duschen, die stets in die falsche Richtung spritzten. Nie bekam man die richtige Mischung zwischen heiß und kalt hin. Nie konnte man die Fenster öffnen -- entweder war es dann höllisch laut oder die Klimaanlage begann nach fünf Minuten, verückt zu spielen. Hatte je ein Mensch die Zahl aller Möglichkeiten berechnet, den Lichtschalter zu verstecken?

Gerlach öffnete die Minibar. Dosenbier, Saft und Schnaps. Soweit war alles in Ordnung. Der Fernseher hatte Fernbedienung. Er ließ sich aufs Bett fallen und öffnete ein Bier. Jetzt fehlten nur noch die Kartoffelchips. Das Programm schien ihm hektisch. Alle drei Sekunden eine neue Einstellung, alle drei Minuten ein Werbespot, das konnte ja kein Mensch aushalten. Er schaltete so lange um, bis er die Übertragung einer Golfmeisterschaft aus Florida ins Bild bekam.<para160>

Florida, Honolulu, Neu Mexiko - die Welt war ziemlich klein. Und wo man auch hinkam, überall gab es Holiday Inns und Heineken-Bier. Das war einerseits beruhigend, aber andererseits fragte man sich: warum überhaupt durch die Gegend reisen?. Gerlach kam sein Ausflug plötzlich albern vor. Wenn er sich jetzt nicht zusammenriß, würde er eine gepflegte Depression entwickeln. Das hatte er nun davon. Er versuchte, sich vorzustellen, wie das wäre, dort oben auf dem Paß zu leben und in die Fichten zu gucken, falls das Fichten waren, die da wuchsen. Er würde sich ein großkariertes Holzfällerhemd zulegen müssen und eine alte Remington-Schreibmaschine, auf der er ein paar Kurzgeschichten runterhacken könnte. Und für die einsamen langen Abende müßte er sich nach einem langhaarigen Collegegirl umsehen. Wahrscheinlich würde sie große, weiße Zähne haben und ständig zu laut lachen. Machte nichts, das war gut gegen Depressionen.<para160>

Die Golfer drehten immer noch ihre Runden. Gerlach sah zu Hannos Papierpacken hinüber. Das Ergebnis der Recherche konnte <para160>bis morgen warten. Auf Flughäfen herumzusitzen und in wichtigen Papieren zu blättern, das machte Eindruck, auch wenn Gerlach nicht hätte sagen können, auf wen. Er merkte, wie sein Magen knurrte und langte nach der Mappe mit dem Hotelprospekt. Das Restaurant wurde in den höchsten Tönen gepriesen. Also gut, dachte er sich, und knipste den Fernseher aus.

Der Speiseraum war in schreienden Farbtönen gehalten und praktisch leer bis auf eine amerikanische Großfamilie, die schon beim Dessert angekommen war und riesige Eisbecher vor sich stehen hatte. Gerlach bestellte ein Steak und dazu einen Wein, der den merkwürdigen Namen Zinfandel trug. Beides war gar nicht einmal so schlecht.

Als er gegessen hatte, war er der letzte Gast im Restaurant. Die Bar hatte noch geöffnet. Gerlach bestieg einen Hocker und bestellte einen Whisky. Der Hocker war unbequem wie alle Barhocker dieser Welt. Es dauerte eine Weile, bis er dem Barmann klar gemacht hatte, daß er wirklich und wahrhaftig nur einen einzigen Eiswürfel wünschte. Hinter dem Tresen lief der Fernseher. Es war immer noch die Golfübertragung. Kein Spiel war für eine Fernsehübertragung weniger geeignet als Golf.

<Kapitel XV>

Schlaf war wunderbar. Gerlach wäre jederzeit bereit gewesen, als freiwillige Testperson an der Entwicklung einer Drei- Monats-Pille für den Winterschlaf teilzunehmen. Als am nächsten Morgen die neumexikanische Sonne ins Zimmer drang, fühlte er sich wie einer dieser amerikanischen Helden, die den Tag mit einem kleinen Boxtraining anfangen, daraufhin einen halben Ochsen verzehren und zwei Liter Kaffee dazu trinken. Stattdessen bestellte er sich ein Müsli. Das gab es jetzt auch schon überall auf der Welt.<para160>

Als er zurück auf sein Zimmer kam, hing seine Wäsche sauber, gebügelt und gestärkt auf dem Haken. Sie paßte flach wie ein Brett in den Koffer.

Gerlach putzte sich die Zähne und trug sein Gepäck hinunter.<para160>

„Sie können den Wagen drüben am Flughafen abgeben“, sagte der Portier, „guten Flug.“

„Vielen Dank“, sagte Gerlach, und machte sich davon.<para160>

Nachdem er den Wagen losgeworden war, ließ er sich entspannt in einen Sessel sinken. Er hatte jetzt reichlich Zeit. Niemand wußte, wo er war, und das gab ihm ein Gefühl von Freiheit. In der Ecke stand ein Fernseher und sendete vor sich hin. Man sah einen Werbespot, startende Flugzeuge, landende Flugzeuge, smarte Piloten, glückliche Passagiere, hart arbeitende Techniker: Trans Air is people, working for people, dedicated to professional transport undsofort. Flughäfen waren überhaupt eine Welt für sich. Man konnte sein Leben auf Flughäfen verbringen: Sauber, angenehm klimatisiert, viel Platz. Immer war was los, dort hinten zum Beispiel eine dieser aufregenden Frauen, wie man sie nur auf Flughäfen sah, im knappen Kostüm, die Haare kunstvoll zur Mähne frisiert, die Beine übereinandergeschlagen. Meine Güte, dachte Gerlach und kam sich ganz klein und häßlich vor.<para160>

Er zog den Packen Kopien hervor. So eine Dokumentation war unbezahlbar. Andere Leute für sich arbeiten zu lassen, das hatte was für sich. Dieses Rumgerenne nach einem Mordfall war das letzte: Von der Polizei zum Staatsanwalt zu den Nachbarn zu den Zeugen und immer so weiter. Schön, daß die Kollegen das machen mußten. Und sie hatten in den paar Tagen eine Menge herausgefunden. Gerlach blätterte und las, und danach schien der Fall auf den ersten Blick sonnenklar.<para160>

Siegmar Verkojen hieß der Mann, geboren am 21. Mai 194? in Leipzig, evangelisch, verheiratet, österreichischer Paß, zur Zeit im Untersuchungsgefängnis unter dem Verdacht, die Verlegerin Grete Eschenbacher aus Habgier ermordet zu haben. Verdacht war nicht ganz das richtige Wort. Er hatte bereits gestanden, allerdings nur in dürren Worten und unter Verweigerung jeder weiteren Aussage.

Dafür hatte seine Freundin umso haltloser geplaudert, mit der Presse und mit der Polizei, genau in dieser Reihenfolge. Ulla Wingart hieß die Dame, die eine ganz reizende Person war, wenn man den Beschreibungen glauben durfte. Richtig süß lächelte sie auf den Fotos. Ulla kannte Siegmar Verkojen noch aus Leipzig. Sie hatte dort mit mäßigem Erfolg als mathematisch-technische Asssistentin studiert. Etwas erfolgreicher war sie im Umgang mit Männern gewesen, aber ihre wahre Gunst hatte sie Siegmar geschenkt. Als sie dann beide Ende der sechziger Jahre in den goldenen Westen flüchteten, hatten sich ihre Wege für eine Weile getrennt. Verkojen durfte als osterreicher nach wie vor ungehindert in die DD“ ein- und ausreisen. Gerlach wunderte sich. Das war bis vor kurzem noch ein seltenes Privileg gewesen. Weiß der Himmel, wie er dazu gekommen war. Auf den Fotos, die von ihm veröffentlicht wurden, sah er wie ein gemeiner Killer aus. Das hatten die Polizeifotografen raus. Doch es mußte ein paar Leute geben, die Verkojen wohlgesonnen waren und sich einiges von ihm versprochen hatten.

Die Wingart hatte ein Kind bekommen, studierte Sportpädagogik und lebte in Klanxbüll. Weiter weg ging es nicht. Gerlach kannte Klanxbüll. Da war nicht mehr viel zwischen der Haustür und der nächsten Sturmflut. Nur ein paar Schafe, Kühe und chronisch unzuverlässige Deiche. Wenn man da Besuch bekam, konnte man ihn drei Stunden vorher schon sehen, so flach war die Gegend. Genau das richtige für unternehmungslustige junge Sportstudentinnen.

Verkojen lebte in Dingolfing bei München, war verheiratet und ging allerhand undurchsichtigen Geschäften nach. Er handelte unter anderem mit alten Vorkriegskarossen, die er in mecklenburgischen Scheunen aufstöberte und in den Westen verschob. Manche waren ganz versessen auf diese alten Autos. Gerlach konnte das verstehen. Er hätte selbst gern einen alten Adler gehabt, oder einen Horch, schon allein wegen des schönen Namens. Im Gegenzug kaufte Verkojen Westwagen auf, vorzugsweise der Marke Opel, brachte sie in die DDR, fuhr sie eine Weile mit einem Zollkennzeichen herum und verkaufte sie dann unter der Hand. Manche drüben waren froh, wenn sie außer dem Trabi oder Wartburg mal etwas anderes zu sehen bekamen. Außerdem hatte Verkojen seine Finger im Antiquitätengeschäft. Und gelegentlich fiel sein Name im Zusammenhang mit dem Verkauf teurer Steine. Das war ein dickes Ding, fand Gerlach. Das hätte auch sein Chef so gesehen. Wer vertraute denn einer derart zwielichtigen Gestalt Juwelen an?<para160>

Gerlach ließ seine Papiere sinken und blickte auf die Uhr. Noch eine Stunde bis zum Abflug. Die Frau mit den aufregenden Beinen zündete sich eine Zigarette an und sah herüber. Gerlach kratzte sich an der Nase. Er hatte für solche Fälle einfach nicht das richtige Verhaltensmuster parat. Wahrscheinlich hätte er hinübergehen und ihr ein goldenes Feuerzeug unter die Nase halten sollen. So wäre man immerhin ins Gespräch gekommen. Anschließend hätte er sie für ein Wochenende nach Honolulu einladen können, auch wenn ihn die Deutsche Bank dann endgültig auf die schwarze Liste gesetzt hätte. Die Frau musterte ihn aus der Entfernung, ohne daß man in ihren Blick etwas hätte hineinlegen können. Gerlach merkte, wie er unsicher wurde. Dieses Spiel würde er nie beherrschen.

Er widmete sich wieder seinen Akten. Irgendwann hatte Verkojen es zu bunt getrieben mit seinem Autohandel. Vielleicht hatte ihn auch ein Funktionär verpfiffen, der seinen versprochenen Benz nicht bekam. Jedenfalls verpaßte das Kreisgericht Leipzig Verkojen wegen Zollkriminalität eine Bewährungssstrafe. Das einzig interessante an diesem Fall war, daß als Verteidiger der damals prominenteste Anwalt der DD“ überhaupt agierte: „Papa Paul“, hieß er allgemein. Paul hatte, wie Gerlach einfiel, eine sehr unsozialistische Schwäche für englische Sportwagen gehabt, für Autos, die das Tempolimit auf den Autobahnen der DD“ notfalls auch im zweiten Gang bewältigten. Wenn er im Westen verteidigte, und das tat er gern und oft, dann war er der Schrecken aller Autofahrer zwischen Ammergau und Aachen. Paul hatte es geschafft, daß Verkojen eine äußerst milde Strafe erhielt, und nach kurzer Zeit war er wieder draußen.

Die Frau gegenüber stand auf und kam herüber. Herrje, dachte Gerlach. Ihm wurde siedendheiß. „Would you please watch after my suitcase for a moment“, sagte sie mit einer Stimme, die ebenfalls nur auf Flughäfen zu finden war.<para160>

„Yes please“, sagte Gerlach, und kam sich vollkommen dämlich vor. Weg war sie. Er musterte das Gepäck. Es wirkte elegant. Mondän, fiel ihm ein, mondän war das richtige Wort. Wo sie wohl hinflog? Und was sie jetzt machte? Wahrscheinlich mußte sie sich die Nase pudern. Alle Frauen puderten sich unentwegt die Nase, vor allem dann, wenn sie es eilig hatten. Gerlach nahm sich vor, das zu überprüfen. Doch jetzt paßte er erst einmal auf das mondäne Gepäck auf.

Nach einer Weile kam sie zurück. Aus der Nähe betrachtet wirkte sie noch aufregender. Sie benutzte ein Männerparfüm, hatte mahagonifarbene Haare und grüne Augen, mit denen sie Gerlach nachdenklich studierte. Auch das noch, dachte er, und rang nach Worten. „Würden Sie ein Glas Zinfandel mit mir trinken?“

Sie blickte ihn gelassen an. „Ja, warum nicht?“<para160>

So einfach war das also. Man mußte nur gut geschlafen haben, schon ging alles wie von selbst. Gerlach organisierte einen Gepäckwagen, einträchtig lagen ihre Koffer nebeneinander, und als sie an der Bar saßen, hätten sie fast schon als gute alte Bekannte durchgehen können. Sie hieß Laurien, wie sich herausstellte, und war auf dem Weg nach Dallas, wo sie irgendein neues Softwarepaket unter die Leute bringen sollte. Gerlach fiel vor Verblüffung fast vom Hocker. Als Programmiererin hatte er sie sich eigentlich nicht vorgestellt. Eher als Kosmetikberaterin. So konnte man sich irren. Er brachte sie mit der Geschichte zum Lachen, wie er einmal versucht hatte, ein Kabel an seine Stereoanlage zu löten. Ob er die Sonate Nummer zehn in C-Dur von Mozart kennen würde, wollte sie von ihm wissen. Nein? Die müsse er sich unbedingt besorgen, in der Aufnahme von Glenn Gould. Gerlach war noch verdatterter. „Wieso? Was ist damit?“

„Das paßt zu ihnen.“

„Was meinen Sie damit?“

„Sie sind so, ich weiß nicht, still?“

Das fand Gerlach nun seltsam. Hatte er nicht soeben ein Musterstück an Konversation hingelegt?<para160>

„Kommen Sie manchmal nach Deutschland?“ wollte er wissen.

„Ost oder West?“

„Das ist so gut wie egal heutzutage.“

„Ja, hin und wieder bin ich in Leipzig. Findet die Frühjahrsmesse noch statt?“

Woher soll ich das denn wissen, dachte Gerlach. Ich hoffe doch stark. „Wenn Sie nach Leipzig fahren, müssen Sie mich besuchen“, sagte er, „Die Platte da von Mozart, die kann ich besorgen.“

„Ja“, sagte sie, „Das läßt sich vielleicht machen.“

Gerlach wäre ihr am liebsten um den Hals gefallen. Aber das ging nun wirklich zu weit. „Haben Sie schon eine Bordkarte?“ fragte er. Die hatte sie gottseidank nicht. So kam es, daß sie, als die Maschine nach Dallas pünktlich von der Piste abhob, nebeneinander saßen, nur getrennt durch einen freien Platz. Gerlach mußte sich zwingen, nicht allzu schmachtend in ihre grünen Augen zu blicken. Sie amüsierte sich. Macht nichts, dachte er, wenigstens lacht sie dich nicht aus. Wenn er an diese Beine dachte. Er seufzte.

„Was ist?“

„Ach, nichts“, sagte er, „oder doch: Sie und ich in Honolulu ...“

Jetzt lachte sie ihn doch aus: „Das Geschäft geht vor.“ Vernünftig war sie auch noch.<para160>

Sie stupste ihn in die Seite: „Kommen Sie, schauen Sie nicht so trübe. Was machen Sie eigentlich?“

Gerlach sagte es ihr. Er war gerade dabei, ihr seine halbgaren Theorien über den Eschenbacher-Mord zu erläutern, da leuchtete das Zeichen zum Anschnallen auf. Er hätte tagelang so mit ihr weiter fliegen können. Draußen in der Flughafenhalle tauschten sie ihre Visitenkarten, eine Prozedur, die Gerlach nicht ausstehen konnte, weil er sich dabei wie ein Staubsaugervertreter vorkam. Sie blinzelte ihm zu, gab ihm die Hand und war verschwunden. Verdammt, dachte er. Man würde sehen.<para160>

Raus ging es aus Amerika leichter als rein. Der Paßbeamte winkte nur gelangweilt mit der Hand, als Gerlach ihm seinen Ausweis präsentieren wollte. Die Maschine der Delta Air stand schon bereit. Diese Jumbos sahen alle aus wie Dinosaurier: dick und dumm. Drinnen saßen die meisten Passagiere schon auf ihren Plätzen. Papa und Mama und Kind waren darunter und eine erstaunlich große Anzahl von Priestern. Vielleicht fand eine irische Wallfahrt statt, das konnte man nie wissen. Alle waren guter Dinge.

Gerlach hatte einen Platz in der Mitte am Gang. Kotztütchen, Sicherheitsbelehrung und Bordzeitung - wie gehabt. Dann konnte es ja losgehen. Er nahm sich seine Papiere wieder vor. Grete Eschenbachers mutmaßlicher Mörder Siegmar Verkojen hatte anscheinend ein aufreibendes Leben geführt. Womit er sein Geld verdiente, war unklar. Als Berufsbezeichnung wurde mal dies, mal das genannt. Das Wort Geschäftsmann traf es wohl am besten, dachte Gerlach. Das Adjektiv ehrbar dagegen hätte er sich verkniffen. Bei der Gerichtsverhandlung würden sie es schon herausfieseln. Zwei Tage vor dem fraglichen Sonntag, also am Freitag, war Verkojen von Dingolfing aus nach Klanxbüll aufgebrochen. Eine größere Entfernung zwischen Frau und Geliebte konnte man in Deutschland kaum legen. Nach Ulla Wingerts Aussage war er gegen zehn Uhr abends angekommen. Man hatte getrunken, geschmust und war miteinander im Bett gelandet. Am nächsten Morgen, so hatte die Sportstudentin ausgesagt, sei er früh aus dem Haus -- er habe noch etwas zu erledigen, hätte er gesagt, und er wäre mittags wieder zurück. Auf ihre Frage, was das denn Dringendes sei, hätte er nur gesagt: Nichts für kleine Mädchen. Gerlach mußte grinsen. So redeten sie in den alten Edgar-Wallace-Filmen. Das Fernsehen färbte ab. Jedenfalls sei Verkojen erst am späten Nachmittag wieder aufgekreuzt, und er sei ganz verändert gewesen. Ganz blass habe er bei ihr auf der Couch gesessen und gemurmelt, es sei etwas schief gegangen. Dann habe er zweimal telefoniert. Beim ersten Gespräch hätte er irgendwas von „geänderten Plänen“ geredet und davon, daß jetzt alles auf einen Schlag erledigt sei. Das zweite Gespräch habe er mit seiner Frau geführt. Auf ihre Fragen hin, was denn passiert sei, habe er sich ihr anvertraut: Er hätte bei einer reichen, älteren Dame etwas auskundschaften sollen. Man habe ihm versichert, sie sei nicht zu Hause. Und dann sei sie auf einmal doch in der Tür gestanden und habe angefangen zu schreien, Da habe er ihr ein Kissen aufs Gesicht gedrückt, damit sie still sei -- sie sei umgefallen und habe plötzlich ein ganz schiefes Gesicht gehabt. Da sei er Hals über Kopf verschwunden. Nach diesem Geständnis hatte Verkojen nichts weiter gesagt und war zurück zu seiner Frau nach Dingolfing gefahren. Als dann die Zeitungen von dem Eschenbacher-Mord berichtet hätten, habe sie ihn angerufen und ihn gefragt, ob er in die Sache verwickelt sei. Schließlich habe er doch mit Juwelen zu tun, und die Tatzeit stimme auch. Er habe es sofort zugegeben und ihr zwanzigtausend Mark angeboten, damit sie schweige. Sie Hätte das aber nicht fertiggebracht. Schließlich müßte doch alles irgendwann herauskommen, und dann sei sie wegen Mitwisserschaft dran. Ja, dachte Gerlach, da hatte sich nicht nur ihr Rechtsempfinden gemeldet. Einhunderttausend Mark Belohnung waren nicht zu verachten. Wollten die nicht endlich mal starten? Gerlach spähte den Gang entlang nach vorne. Die Stewardessen hatten sich angeschnallt. Also mußte es gleich losgehen. Tatsächlich setzte sich der Jumbo in Bewegung. Kurz darauf standen sie wieder hinter einem Dutzend anderer Maschinen in Warteposition. In Dallas war was los, das wußte man ja schon aus dem Fernsehen. Ein Flugzeug nach dem anderen zog davon in den texanischen Himmel, und als Gerlach spürte, wie die Turbinen Schub gaben, atmete er tief durch. Wenn Gott gewollt hätte, daß der Mensch fliegt, dann hätte er ihm Flügel gegeben, dachte er. Doch es ging alles reibungslos.<para160>

Kostenlose Drinks wurden angeboten. Gerlach bat um einen doppelten Bourbon. Dazu gab es Salzmandeln. Vornehmer Laden, keine Frage. Ein Drink in der Luft wirkt wie drei Drinks am Boden, hatte er mal gelesen. Dann hätte er jetzt also sechs intus gehabt - nicht schlecht. Schon schleppten sie die Plastikkisten durch die Gänge.<para160>

Die gründlichste Arbeit hatte wie immer das bekannte Hamburger Nachrichtenmagazin geleistet. Neben all dem anderen Kram über Verkojen hatten sie ein paar störende Details aufgestöbert. So war bei der Wohnungsdurchsuchung auf dem Nachttisch der Verflossenen ein gerahmtes Photo gefunden worden, welches eindeutig eine Spitzenkraft des Nachrichtendienstes darstellte. Gerlach war einmal an dem Laden vorbeigefahren und hatte schon damals herzhaft gelacht. Das saßen sie in Pullach sie hinter Videokameras und Zäunen und spielten Spion. Der deutsche Nachrichtendienst war wirklich eine Gurkentruppe, und überflüssig wie ein Kropf noch dazu. Meist war er mit seinen eigenen Skandalen vollauf beschäftigt. Was hatte nun dieser Spion auf dem Nachtttisch von Grete Eschenbacher verloren, wo sie doch drauf und dran war, den Schwindelbaron zu heiraten? Sehr seltsam. Außerdem hatten Bekannte übereinstimmend versichert, die Verlegerin habe regelmäßig Besuch von einem geheimnisvollen Amerikaner namens Tom Collins erhalten, der sich mit dem Hubschrauber bringen ließ. Der Schmuck war noch nicht aufgetaucht. Und die Zeitangaben von Ulla Wingert paßten ebenfalls nicht ganz zusammen. Danach wäre Verkojen immerhin achthundert Kilometer quer durch die Bundesrepublik gefahren, hätte maximal vier Stunden geschlafen, sei dann wieder durch die halbe Republik hin und zurück, hätte in Windeseile die Verlegerin ermordet, den Schmuck an sich gerafft und vergraben, und sei ohne jede Pause wieder zurück an den heimatlichen Herd in Dingolfing geeilt. Wenn das stimmte, hatte er eine erstaunliche Kondition. Schließlich waren an der Wohnungstür der Eschenbacher keinerlei Einbruchsspuren zu finden gewesen -- also mußte Verkojen einen Schlüssel gehabt haben. Gerlach packte die Papiere zusammen und stopfte sie in seine Aktentasche. Der Fall war auf den zweiten Blick nicht ganz so sonnenklar, wie es zunächst den Anschein hatte.

Als das Bordkino losging, hing er entspannt in seinem Sessel, den kostenlosen Hörer auf dem Ohr, und verstand Bahnhof. Es war ein französischer Film, amerikanisch synchronisiert, und anscheinend ging es um ein kompliziertes Vier- oder Fünfecks-Verhältnis. Vor allem wurde pausenlos geredet: „...das Gefühl, was ich in jenen Tagen für dieses Mädchen empfand, war das Gefühl der Neugierde, denn sie hatte ihr Ziel erreicht, falls es ihr Ziel war, was ich, wie ich zugebe, bereitwillig annahm ...“ umständlicher ging es kaum. So viel Lärm und das bißchen Fortpflanzung, dachte Gerlach amüsiert. Laurien fiel ihm ein. Im Flirten war er völlig ungeübt. Das alte Rein-Raus-Spiel, hatte es mal jemand genannt. Ein Wunder, daß er mit den Jahren nicht zum Mönch geworden war. Bei Licht betrachtet hatte es dann doch hin und wieder geklappt. Allerdings war, das stimmte schon, immer eine Menge Gerede vorweg gegangen.

Was Verkojen betraf, so gab es einige offene Fragen. Erstens: Hatte er einen Auftraggeber oder handelte er auf eigene Faust? Was wollte er überhaupt in der Wohnung? Und falls er einen Auftraggeber hatte: Hatte dieser sich geirrt, als er davon ausging, daß Grete Eschenbacher nicht zu Hause war, oder hatte er Verkojen verladen wollen?<para160>

Was die Eschenbacher anging: Was hatte sie mit dem Mann aus Pullach am Hut? Wer erbte? Das waren alles sehr gute Fragen, fand Gerlach, und nickte ein.

<Kapitel XVI>

So eine Nacht in einem Flugzeug war auch nicht das Wahre. Als Gerlach aufwachte, zeigte seine Uhr gerade Mitternacht. Das galt für El Paso. In Irland war es jetzt früh am Morgen. So stahlen sie einem glatt eine ganze Nacht. Er fühlte sich entsprechend. Das Frühstück lehnte er dankend ab, und schlürfte stattdessen drei Tassen voll Delta-Airline-Kaffee. Das einzige, was ihn tröstete war die Tatsache, daß die Piloten auch nichts anderes vorgesetzt bekamen.<para160>

Auf dem Shannon-Airport war es noch dunkel, als sie runterkamen. Trotzdem rannten schon jede Menge Familien und Pilger durch die Gegend auf der Suche nach Gepäck, Verwandten oder was auch immer. Mißmutig wartete Gerlach auf seinen Koffer, noch mißmutiger verhandelte er mit einem verschlafenen Menschen über einen Mietwagen. Es war, wie er erst auf dem Parkplatz feststellte, ein überaus scheußlicher weißer Ford Escort mit Spoilern und anderem Schnickschnack. Zu allem Überfluß saß das Steuer auf der falschen Seite. Daß er links fahren mußte, damit hätte er sich abgefunden. Daß er aber mit links schalten sollte, das war dann doch zuviel. Natürlich regnete es. Das gehörte nun mal dazu. An der Flughafenausfahrt hatte er schon den ersten Bürgersteig geschrammt und die Felge ruiniert. Macht nichts, dachte er grimmig, das haben sie nun davon.<para160>

Erstaunlich, was in Irland zu so früher Morgenstunde schon unterwegs war. Richtung Süden mußte er sich halten, so viel war klar. Gerlach war den gleichen Weg schon einmal gefahren und hatte eine dunkle Vorstellung, welchen Wegweisern er Glauben schenken durfte. Was sich in den fünf Jahren, seit er zum letzten Mal in Irland gewesen war, geändert hatte, waren die Verkehrssitten. Man überholte, man hupte, man schnitt sich. Früher war er nachts gern durch die Landschaft gefahren, allein mit sich, dem Nachtprogramm im Radio und seinen Gedanken. Heute nervte ihn die Dunkelheit. Kurz hinter Limerick, das ein einziges Verkehrschaos war, wurde es endlich richtig hell. Lastwagen schlichen über die Straßen. Es war keine Freude. Zum zweiten Mal auf seiner kurzen Reise fragte sich Gerlach, was er da eigentlich trieb. Kurzentschlossen wegfahren - das war eine Sache. In aller Herrgotsfrühe auf Irlands nassen Landstraßen unterwegs zu sein - das war die andere Seite der Medaille. Und ob der alte Runger ihn überhaupt empfangen würde, stand auch nicht fest. So schmiß man sein Geld zum Fenster raus. Er hätte in Dallas bleiben sollen, oder besser gleich zu Hause. Irgendeine Geschichte über das Fliegen im allgemeinen und im besonderen mußte er wohl oder übel zusammenschmieren und an irgendeine Münchner Hochglanzgazette verkaufen. Das würde einen Teil der Unkosten wieder hereinbringen.<para160>

Durch die nassen Scheiben warf er hin und wieder einen Blick auf die vielgerühmte irische Landschaft. Grün war sie, feucht war sie, tausende von Schafen standen darin herum und ließen sich eine Tweedjacke wachsen, die man ihnen unbarmherzig wieder abscheren würde. Es wurde hügelig, als Gerlach nach Kerry kam. Als er Killarney erreichte, hatte der Regen aufgehört, und es war Zeit für den Lunch. Die gleiche finstere Kneipe, die er vor Jahren entdeckt hatte, war die gleiche finstere Kneipe geblieben. Er aß ein Käsesandwich und trank ein Bier dazu und fühlte sich wieder als Mensch.<para160>

Um diese Jahreszeit waren kaum noch Touristenbusse unterwegs, die sich über die Paßstraßen quälten. Gerlach kam zügig vorwärts, auch wenn ihm die Kurbelei bald leid wurde. Es half alles nichts, da mußte er jetzt durch. Oben auf dem Paß blies ein strenger Wind, der den Himmel aber nicht auflockerte, sondern eine geschlossene Wolkendecke vom Atlantik vor sich herschob. Gegen vier Uhr kam er in Bantry an. Der Parkplatz am Hafen lag verlassen da, und der Wind hatte spürbar zugenommen. Ächzend stieg er aus. Die nächste Bar quer über die Straße hatte drei Eingänge. Gerlach wählte den, vor dem ein Zentner gebündelter Kohlen aufgestapelt war, und fand sich sechs Männern gegenüber, die schweigend in ihre Gläser blickten. Eine Bedienung war nicht in Sicht. Man hörte sie nebenan wirtschaften.

Gerlach fühlte sich zerschlagen und außerstande, auch nur einen Meter weiter zu fahren. Als er sich eine Zigarette anstecken wollte, zitterten ihm die Finger. Einer der Männer sah herüber. „Weiten Weg gehabt?“ fragte er.

„Von Amerika.“

„Weit genug. Gibt nichts anstrengenderes, als zu reisen.“

Die Bedienung kam. „Der einzige Weg, herumzukommen“, sagte Gerlach, dessen Nerven sich beim Anblick des schwarzen Biers beruhigten.„“

„Wo wollen Sie hin?“

„Sheeps Head.“

Der Mann überlegte: „Noch eine Stunde. Passen Sie da draußen auf, es kann windig werden.“

Das war nicht übertrieben. Als Gerlach wieder auf der Straße stand, kam eine feuchte Zeitungsseite quer über den Platz auf ihn zugeflogen und schlang sich um seine Füße.<para160>

Von der Straße nach Cork bog er ab auf eine schmalere Straße, die durch Felder ging und bald die Bucht berührte. Gerlach kam durch ein aufgeräumtes Straßendorf und verpaßte fast den Wegweiser. Ein finsterer, unter Efeu begrabener Speicher auf der anderen Seite der Bucht war undeutlich zu erkennen. Trotz des Windes zogen Nebelschleier über das Wasser. Neuneinhalb Meilen, hatte Gerlach auf dem letzten Schild gelesen. Es waren irische Meilen.<para160>

Die letzten Häuser kamen ihm vor wie die letzten Lichter eines Hafens vor der Fahrt hinaus auf den Atlantik, der am Fuß der Steilklippen lag. Die Straße ging bergan und wurde immer schlechter. Außer Felsen und kleinen Moorseen konnte Gerlach nichts mehr erkennen. Eine ungewöhnlich steile Kurve ließ in jäh auf die Bremse treten. Der Weg schien kein Ende nehmen zu wollen. Und dann kam plötzlich, am höchsten Punkt der Steigung, ein Wendeplatz, gerade groß genug, den Wagen abzustellen, und ein Schild: „Please turn here.“ Gerlach wußte, er war angekommen.<para160>

Vorsichtig öffnete er die Wagentür. Sie wäre ihm fast aus der Hand gerissen worden. Was unten ein böiger Wind gewesen war, tobte hier oben als Sturm, der darauf aus schien, alles waagerecht vor sich herzutreiben. Gerlach spähte über den Rand der Klippe und sah es: Ein weißes Haus, gegen den Felsen gebaut, am äußersten westlichen Punkt dieser Halbinsel, die von der irischen Insel wie eine Kralle in den Atlantik gestreckt wurde, das letzte feste Stück Land zwischen hier und Amerika, von Europa so weit entfernt, wie es in Europa gerade noch möglich war. Hierher hatte sich Runger also zurückgezogen.

Gerlach kämpfte sich vornübergebeugt den Weg zu dem Haus herunter. Ein schwacher Rauchgeruch trieb ihm entgegen. Als er den Türklopfer betätigte, hörte er durch den Sturm einen Hund anschlagen. Die Tür öffnete sich einen Spalt, und Gerlach blickte in ein paar halbrunde Brillengläser, durch die ein Paar hellgraue Augen ihn studierten.

„Sie haben nicht zufällig das Schild dort oben gelesen?“, fragte eine Stimme, die Gerlach aus dem Radio kannte.

„Ich habe Ihnen ein Telegramm geschrieben.“

„Sie sind das.“ Der Alte schien gar nicht zu registrieren, daß Gerlach sich beinahe am Türpfosten festklammern mußte, um nicht fortgeweht zu werden. Aber das Telegramm war anscheinend angekommen.

„Wenn Sie schon hier sind, kommen Sie wenigstens rein.“

Gerlach schlüpfte durch die Tür und stand dem Mann unmittelbar auf den Füßen. Der enge Vorraum roch durchdringend nach Kohle und Torf.

„Hier entlang.“ Eine Art Spitz sprang Gerlach entgegen, wedelte mit dem Hinterteil und musterte ihn aus schwarzen Knopfaugen. „Setz dich“, sagte der Alte. „Entschuldigen Sie, wir sind fremden Besuch nicht gewöhnt.“

Gerlach sah sich verlegen im niedrigen Wohnzimmer um <para160>und wußte nicht, ob er sich eingeladen fühlen sollte. „Bitte hier“, zeigte der Alte auf einen tiefen Sessel. Ein zweiter, ausladender Ohrensessel stand in der anderen Ecke des Zimmers, ein Plaid war darüber geworfen, dazwischen schwelte ein Feuer im Kamin und füllte den Raum mit Torfrauch. Der Alte sank in seine Ecke. Der Raum war ringsherum mit Bücher tapeziert.<para160>

„Wenn Sie originelle Unterhaltung wünschen, dann ist es besser, sie sprechen mit sich selbst“, sagte der Mann. „George Bernard Shaw“, fügte er entschuldigend hinzu.<para160>

„Weshalb sind Sie gekommen?“ Er hatte das Telegramm nicht gelesen, oder er tat so, als ob er es nicht gelesen hätte.

Gerlach zupfte sich am Ohrläppchen. „Ich hatte das Gefühl, sie könnte mir weiterhelfen. Ich versuche, die Wahrheit über Grete Eschenbachers Tod herauszubekommen.“

„Das einzige, was niemand wissen will, ist die Wahrheit. Es lohnt sich nicht.“

„Nichts lohnt sich, außer was ernste Folgen haben kann“, sagte Gerlach. „Das ist auch Shaw.“

Der Alte sah kurz herüber.<para160>

„Ich will ihnen mal was sagen: ich bin vor sieben Jahren hierhergekommen, nachdem ich ein Leben lang gebraucht habe, um herauszufinden, daß mir an den Menschen nicht viel liegt. Offengestanden: Ich mag sie nicht. Wie ist das bei Ihnen?“

Gerlach war sich seiner Antwort nicht sicher. „Ich habe das vor kurzem eine Frau kennengelernt...“„Das meine ich nicht“, unterbrach ihn der Alte. „Na ja, Sie sind jung und spät geboren. Vielleicht haben sie Glück.“

Der Hund hatte sich vor dem Feuer zusammengerollt und den Kopf auf die Pfoten gelegt. Er blinzelte zwischen Gerlach und dem Alten hin und her. Auf dem Dach klapperte der Sturm mit einem losen Dachziegel. Es war direkt gemütlich an diesem Ende der Welt. Der Hund schnaufte, und der Alte faßte einen Entschluß.

„Zurück kommen Sie heute doch nicht mehr. Oben ist Platz. Allzu große Ansprüche dürfen Sie nicht stellen. Ich werde Ihnen eine Geschichte erzählen. Es ist eine lange Geschichte, und sie wird Ihnen nicht gefallen, und sie ist alles, was ich Ihnen erzählen kann. Aber deswegen sind Sie wohl gekommen, oder nicht?“

„Genau“, sagte Gerlach.<para160>

„Also gut. Zu seiner Zeit lebte ein König in Sachsen, so würde die Geschichte anfangen, wenn sie hier in Irland spielte. Sachsen war im letzten Jahrhundert früh industrialisiert. Überall gab es Kohlegruben, Webstühle, Papierfabriken. Man nannte das, wie Sie wissen, das Biedermeier.“

Gerlach hatte eine vage Vision vom Poeten in der Dachkammer.

„Mit Spitzweg hatte das Ganze nicht das Geringste zu tun“, fuhr der Alte fort, als könnte er Gedanken lesen. „Da gab es in Leipzig den Kommerzienrat Leonberger.<para160>

Leonberger hatte ein beachtliches Imperium in der Holzverarbeitung zusammengebracht. Ihm gehörten Papiermühlen und Sägewerke, und weil das alles noch nicht genug war, arrondierte er seinen Besitz mit Kohlegruben. Und mit Zeitungen. Was lag näher? Er hatte die Rohstoffe.

Dieser Kommerzienrat gründete Zeitungen in Leipzig überall. Er schlug drei Fliegen mit einer Klappe: Er konnte für seine ureigensten Geschäftszwecke inserieren, auf Papier, das er selbst herstellen ließ, und er konnte den näheren und weiteren Kundenkreis in jeder gewünschten Weise beeinflussen. Selbstverständlich waren seine Zeitungen stramm gegen jede Form von Sozialdemokratie. Für König, Volk und Vaterland, hieß die Richtung.

Wo Sie herkommen, in dieser Stadt, da waren die Dinge damals weniger weit. Der Kleinstaat krepelte, wenn man so will, vor sich hin, und erst um die Jahrhundertwende war es interessant, dort zu investieren. Der Kommerzienrat kaufte sich, weitschauend und still, in zwei Druckereien ein. Beide brachten Zeitungen heraus, die allerdings fast ausschließlich Verlautbarungen vom Hofe druckten. Leonberger krempelte sie zum Generalanzeiger um.„

Der Alte machte eine Pause. Eine Möwe schrie ihren Unmut in den Sturm und der Kamin spuckte einen Rauchschwall ins Zimmer. Gerlach hatte keine Kommerzienräte mehr kennengelernt. Das alles klang so weit entfernt, als hätte es sich in Minnesota abgespielt.

„Ich bin 1900 geboren“, sagte der Alte. „Können Sie sich vorstellen, wie das damals <para160>zuging? Diese Enge, diese Verbohrtheit? Diese mittelalterliche Provinzialität?“<para160>

„Da hat sich nicht viel geändert“, sagte Gerlach.„Daran wird sich nie etwas ändern. Leonberger hatte jedenfalls die veröffentlichte Meinung unter Kontrolle, auch wenn er sich persönlich kaum einmischte. Er residierte auf seinem Rittergut und setzte seine Satrapen ein. So sah er sich: Als einen türkischen Großmogul, der seine Statthalter gewähren läßt. Sie waren Komplementäre, und er behielt sich die Mehrheit vor.<para160>

Der eine Satrap bei Lauer war Karl Eschenbacher, der Vater von Paul. Leonberger kannte ihn als Handelspartner aus Sachsen. Eschenbacher gab die Neuesten Nachrichten heraus, nationalliberal im Ton.

Der andere Satrap bei wurde Henry Wolff, der Konsul. Konsul klang gut. Er hatte sich den Titel in irgendeinem südamerikanischen Staat zugelegt, und das gab ihm den Anstrich eines Mannes von Welt. Außerdem hatte er ein gewisses Vermögen mit Jagdwaffen zusammengebracht, und er hatte es geschafft, das Herz von Charlotte Wolff, der einzigen Tochter des Kommerzienrates, zu erobern. Ihre Mitgift bestand aus der Druckerei, und Wolff setzte sich in ein gemachtes Nest.

Wolff gab zwei Zeitungen heraus: Den Allgemeinen Anzeiger, ein Blatt für die kleinen Leute, das mittags erschien und sich auf Sensationen aus aller Welt kaprizierte, und die Landeszeitung, ein Blatt für die gehobenen Stände, die sich beim Frühstück an staatspolitischen Betrachtungen erbauen wollten.

Einer meiner Mitschüler war damals Paul Eschenbacher, der Sohn des Satrapen Karl. Er war keine große Leuchte. Alles, was irgendwie ein bißchen logisches Denken erforderte, überforderte ihn: Algebra und Grammatik, Latein und jede Art von Naturwissenschaften waren ihm ein Greuel. Dafür war er umso mehr interessiert an den dunklen, aufregenden Seiten des Lebens: Mädchen im besonderen.„

Der Alte machte eine Pause. „Wollen Sie was zu trinken?“

Gerlach nickte.

Da drüben steht eine Flasche. Irischer Whiskey. Nehmen Sie sich ein Glas. Danke, ich nicht.„

„Als der Weltkrieg ausbrach“, fuhr Runger fort, „waren wir alle wie besoffen. Ich habe mich als Freiwilliger gemeldet, zusammen mit Paul Eschenbacher und den meisten anderen. Man bekam das Abitur geschenkt dafür. Paul war das recht. Er hätte es kaum bestanden. Als wir nach nicht einmal einem dreiviertel Jahr zurückkamen, war die Welt eine andere.

Am Abend des sechsten November 191? reisten zurück. Die Abteile waren voll mit Matrosen aus Kiel. Alle redeten von der Revolution, die jetzt nicht mehr zu verhindern sei. <para160>

Der Generalstreik stand unmittelbar bevor. Das war der heiße Atem der Geschichte. Wir besetzten die Druckerei der Sozialdemokraten gegenüber vom Schloß, weil wir meinten, daß uns das <para160>rechtmäßig zustände.

Was waren wir ahnungslos. Um Leonbergers Zeitungen haben wir uns nicht geschert. Wir waren harmlos wie die Schafe.„

Der Alte verstummte. Es wurde still. Vom Wind war nichts mehr zu hören. In der Küche brummte der Kühlschrank. Gerlach lag mehr im Sessel, als daß er saß, und sah dem Rauch seiner Zigarette hinterher, der zögernd Richtung Kamin schwebte. Runger gähnte. „Lassen Sie uns einen Moment an die frische Luft gehen. Er führte ihn durch die Hintertür hinaus. Noch immer fegte ein beachtlicher Wind, aber die Wolken hatten sich fast vollständig verzogen. Gerlach konnte eine Wiese erkennen, die an das Haus grenzte. Dahinter zog sich ein kahler Bergrücken hin, und geradeaus glänzte silbern bis zum Horizont der Atlantik.<para160>

In seinem Rücken hörte Gerlach den Alten hüsteln. „Das Wetter ändert sich hier rasch. Eben hat man noch Angst um sein bißchen Leben, und mit einem mal ... Sehen Sie da oben den Orion?“ fragte der Alte, „gleich daneben steht der Sirius, und das alles ist ein Teil dieser Milchstraße.“ Mit ausholender Geste beschrieb er einen Bogen über den Nachthimmel.

„Das alles wird noch da sein, selbst wenn die Menschheit es schaffen sollte, diesen Planeten in die Luft zu sprengen. Ich bezweifle, daß sie dazu wirklich imstande ist. Sicher, die Bombe. Die Menschen werden verschwinden, und mit ihnen die Schafe und die Kühe und vielleicht sogar die Seemöwen. Die Schaben und die Ratten werden übrig bleiben. Aber diese Steine hier, die kennen nur den Sturm und den Regen und die Sonne und die Kontinentaldrift.“

Gerlach war kalt. Innerlich zitterte er. Der Hund schnüffelte um die Ecke und hob das Bein.<para160>

„Dieses Haus hier und diese drei Häuser dort drüben und diese kleinen Schafsweiden waren einmal ein richtiger Ort. Toreen hieß er. Wissen Sie, was das angeblich heißt? Kleine grüne Wiese, heißt das, auf der man die Wäsche bleicht. Und wissen Sie, was mein Wunsch ist? Daß meine Knochen hier einmal bleichen werden.“

<Kapitel XVII>

Gerlach mußte sich schütteln. In was für eine Sache war er hier hineingeraten?

„Kommen Sie wieder rein“, sagte der Alte, „zum Sterben ist immer noch Zeit.“

Drinnen war es warm und der Kaminrauch hing unter der Decke. Runger schien überhaupt nicht müde zu werden. In seinem Alter brauchte man vielleicht keinen Schlaf mehr. Je später es wurde, desto mehr schien der alte Mann aufzublühen. Gerlach ging es umgekehrt. Was das betrifft, dachte Gerlach, bin ich ein junger Hüpfer.

„Sie fragen sich vielleicht“, sagte Grunger, „was das alles mit dem Tod von Grete Eschenbacher zu tun hat? Ich sagte schon, es ist eine lange Geschichte, aber hätten wir damals die Besitzverhältnisse anders geregelt, dann wäre sie anders verlaufen. Aber die Kommerzienräte und die Generäle und die Konsuln dachten nicht daran, sich geschlagen zu geben. Von Berlin aus schickten sie den General Truppen, und die machten schnell ein Ende mit der Sozialistischen Republik. Ich blieb. Paul Eschenbacher auch. <para160>Er war kurz vor mir aus dem Krieg zurückgekehrt und hatte sich entschlossen, nichts und niemanden mehr auf der Welt ernst zu nehmen. Bei seinem Vater konnte er in die Firma eintreten -- pro forma absolvierte er ein vierwöchiges Praktikum bei einer Provinzzeitung in Heidenheim an der Brenz. Das mußte, wie er fand, als Ausbildung reichen. Ansonsten stürzte er sich in das Nachtleben, so weit davon die Rede sein konnte. Er amüsierte sich mit Offizieren und Schauspielerinnen vom Staatstheater, machte Landpartien, kleidete sich nach französischer Art. Er stieg den Frauen nach und interessierte sich wenig für das, was die Redakteure in seinem und seines Vaters Blatt schrieben. Selbst als Hitler eine große Kundgebung veranstaltete, war ihm das egal. Er machte sich sogar lustig über den Kerl. Im Hause Wolff dagegen begann man, unverhohlen für Hitler zu schwärmen -- Henry Wolff hielt ihn für den größten lebenden deutschen Redner, <para160>Und er setzte auf das richtige Pferd. Wer sich jetzt Hitler anschloß, machte später Karriere. Ich kann ihnen ein paar Beispiele nennen: Der Studienrat Bernhard Rust - einen Steißtrommler, nannte ihn Goebbels - wurde später Reichserziehungsminister. Der Kreisleiter Hanns Kerrl - ein philosophischer Quatschkopf, wie Goebbels fand - wurde Reichsminister für Kirchenfragen. Dietrich Klagges, der Mittelschullehrer aus dem Ostharz, wurde 1931, zwei Jahre vor der eigentlichen Machtergreifung Ministerpräsident. Und Henry Wolff, der Satrap, war so fasziniert, daß er beschloß, in die NSDA– einzutreten und seine beiden Zeitungen in die neue Richtung zu trimmen.“

Ein leuchtender Mond war aufgegangen und schien Gerlach über die Schulter. Der Hund stand von seinem Platz auf und kroch hinter den Sessel des Alten. Gerlach kämpfte mit dem Schlaf.<para160>

„Henry Wolff witterte die Macht und das Geld. Er sorgte dafür, daß seine Zeitungen auf stramm nationalen Kurs gingen, nicht etwa im Sinne der verfaulten Systemparteien, sondern in einer härteren Gangart. Das war ohne weiteres möglich. Die Nazis wurden gesellschaftsfähig, und Hitler deutscher Staatsbürger.

Der Konsul hatte dabei zusammen mit einigen anderen Geschäftsleuten hinter den Kulissen ein bißchen an den Fäden gezogen. Resultat war, daß Hitler versicherte, er werde für den Fall seines Sieges der schwer kämpfenden Industrie lebensrettende Aufträge vermitteln. Offen ergriffen daraufhin die beiden Wolff'schen Zeitungen Partei für Hitler. Die Führer der Sozialdemokraten, so schrieben sie, seien allesamt Verbrecher und Teufel, vor denen man die Allgemeinheit schützen müsse, indem man sie hinter Schloß und Riegel brächte. Das Judentum und der Marxismus hätten Deutschland zugrundegerichtet. Na ja, Sie kennen diese Sprüche. Seine Zeitungen, darauf war Wolff stolz, waren die ersten bürgerliche Blätter im Reich, die offen über den Nationalsozialismus jubelten.<para160>

Aus dieser Zeit rührt auch die tiefe persönliche Feindschaft zwischen den Familien Wolff und Eschenbacher her. Paul Eschenbacher, leichtsinnig wie er war, verkündete irgendwann im Suff in einer Kneipe in der Innenstadt, die Nazis wären Arschlöcher. Nach dreiunddreißig hätte er deswegen beinahe ernste Schwierigkeiten bekommen. Nur Lothar Schinckel, der große Immobilienhändler, konnte mit seinem Einfluß dafür sorgen, daß der alte Eschenbacher mit einer Geldspende davon kam. Sie bauten dafür ihre Parteizentrale in der Hannoverschen Straße aus.„

Gerlach fiel Bodo Schinckel ein. Das mußte dann der Sohn sein. Und natürlich mußte er auch in Immobilien machen. Und die traditionelle Familienfreundschaft war offenbar vom alten Eschenbacher auf den Sohn und dann auf seine Witwe vererbt worden. Er mußte gähnen, hielt sich aber gerade rechtzeitig noch die Hand vor den Mund.

„Zum Dank für seine Verdienste holten sie den Konsul nach Berlin. Er wurde Stellvertreter von Ernst Hanfstaengl, genannt Putzi, der Clown. Der spielte Hitler immer auf dem Klavier vor. Und auf Wolff fiel ein Teil dieses Glanzes. Erst als der Krieg anfing, war es damit vorbei. Und danach erst recht. Der alte Kommerzienrat hat die Schande nicht überlebt. Sind Sie sehr müde?“

Gerlach nickte.<para160>

„Oben ist ein Bett. Ich bringe Sie hinauf. Den Rest erzähle ich Ihnen morgen. Einverstanden?“

Gerlach nickte noch einmal.

<Kapitel XVIII>

Er stieg hinter dem Alten die Treppe hoch und nahm kaum noch war, wie er in eine Kammer geführt, auf ein Bett gepackt und zugedeckt wurde. Halb bewußt spürte er noch, wie der Sturm an dem Haus zerrte, dann war er vollends hinüber.

Er mußte mehr als zehn Stunden geschlafen haben, als er am nächsten Tag die Augen aufschlug. Es herrschte vollkommene Stille. Er zog die Gardinen zurück. Der Sturm hatte sich gelegt, tief am Himmel stand eine strahlende Wintersonne. Geradeaus fiel der Blick auf eine endlose Wasserfläche, die glitzerte und am Horizont mit dem Himmel eins wurde. Es war ein Anblick, an dem es nicht viel auszusetzen gab. Gerlach verstand auf einmal, warum der Alte dieses Haus gewählt hatte. Unten rumorte er in der Küche herum. Als Gerlach herunter kam, bot er ihm einen Tee an und konnte sich eine Merkung nicht verkneifen: „Sie sehen aber ganz schön verknittert aus.“

„Das macht diese verdammte Rumfliegerei“, sagte Gerlach.

„Wissen Sie, was ich Ihnen vorschlagen würde?“ meinte Runger. „Gehen Sie eine Stunde spazieren. Am Ende der Landzunge steht ein Leuchtturm. Von da aus können Sie sehen, wo Sie gerade herkommen. Und bleiben Sie von den Klippen weg. Das ist brüchiges Gestein. Wenn Sie wiederkommen, erzähle ich Ihnen den Rest.“

„Gute Idee“, sagte Gerlach, „ich hole nur meine Zahnbürste aus dem Auto.“

Der Spaziergang tat ihm gut. Es gab nichts zu sehen außer Schafen, Gras, abenteuerlich steilen Klippen und dem endlosen Atlantik. Als Gerlach den Leuchtturm erreichte, setzte er sich ins Gras und spähte eine Weile in die Richtung, in der er Boston vermutete. Nichts war zu hören außer der Brandung am Fuß der Felsen. Einen vollkommeneren Frieden gab es nirgends. Er wußte, daß hier mit dem Golfstrom gelegentlich Delphinschwärme vorbeikamen und ganz selten auch mal Orkas, und er hätte eine Menge drum gegeben, einmal in seinem Leben einen Orka aus dem Wasser springen zu sehen. Es sprang keiner, und so machte er sich auf den Rückweg.

Der Alte saß nach Süden an der Hauswand und wärmte sich in der Sonne. Gerlach setzte sich dazu. „Ziemlich ruhig, was?“ meinte Runger.<para160>

„Kann man sagen.“

„Ich bin jetzt neunzig. Ich habe zwei Kriege überlebt, den Faschismus, die Berliner Mauer und all den Kram und ich habe eine Menge zäher Verleger kennengelernt. Ich halte mich selbst für einen zähen Knacker. Aber eins kann ich Ihnen sagen: So eine zähe alte Krähe wie Charlotte Wolff habe ich nur einmal getroffen. Ihr Vater hatte sich erschossen oder aufgehängt, ihr Mann war als Nazibonze unmöglich geworden, der Familienbesitz in Leipzig war ausgebombt, aber das hat sie alles nicht erschüttert. Bei Kriegsende muß sie sich geschworen haben, solange zu leben, bis sie alles wieder zusammen hatte. Dummerweise hatte nun Paul Eschenbacher die Finger bei der Zeitung drin, und es sah nicht so aus, als wenn man ihn so einfach loswerden könnte. Also ist sie ihm auf den Pelz gerückt. Neunundvierzig stand sie schon in der Tür. Eschenbacher hatte die Lizenz, aber die Besitzverhältnisse waren alles andere als klar. Ursprünglich wollte er den Wolffs ein Abfindungsangebot machen. Aber die Alte muß ein paar Druckmittel in der Hand gehabt haben. Wahrscheinlich wußte sie Bescheid über Eschenbachers Affären, über seine Kungeleien mit Häusern und Grundstücken, über das Geld, das er aus dem Betrieb zog und heimlich in Südamerika investierte, über all diese unsauberen Geschäfte. Herausgekommen ist bei dem ganzen Gezerre ein überaus dubioser Vertrag. Die Wolffs nannten ihn den Heimfallvertrag. Eschenbacher hat ihn immer als Schachtelvertrag bezeichnet, vielleicht, weil er die alte Schachtel nicht ausstehen konnte. Verschachtelt waren die Anteile an Druckerei und Zeitung. Die Druckerei, die übrigens ziemlich veraltet war, gehörte danach zu achtzig Prozent den Wolffs. Eschenbacher bekam einen Anteil von zwanzig Prozent und mußte sich verpflichten, seine Zeitung dort drucken zu lassen. Im Gegenzug wurden die Wolffs mit zwanzig Prozent stille Teilhaber an der Zeitung. Eschenbacher hielt mit sechzig Prozent die Mehrheit, weitere zwanzig Prozent besaß eine Schwester von ihm, eine stille Frau, die geschäftlich nie in Erscheinung trat. An dem Vertrag ist in den darauffolgenden Jahren mehrmals herumgestrickt worden. Vor allem, als Paul Eschenbacher die Grete heiratete. Kinder schienen weder er noch sie bekommen zu können. Also zwang die Wolff den Eschenbacher, eine Klausel aufzunehmen, nach der nach seinem Tod und für den Fall, daß seine Ehefrau ihn überleben sollte, das gesamte Paket an die Familie Wolff zurückfallen sollte, wenn sich Grete Eschenbacher wiederverheiraten sollte. Und natürlich auch dann, wenn sie sterben sollte.“

Der Alte machte eine Pause. Gerlach blickte in den Himmel und sah hoch oben eine Möwe kreisen. „Das ist aber eine ziemlich kitzlige Klausel“, bemerkte er.

„Sie haben es erfaßt. Ich könnte mir vorstellen, daß sich die Trauer im Hause Wolff zur Zeit in Grenzen hält.“

Gerlach nickte mit dem Kopf. „Kannten Sie eigentlich Karl- Sebastian Vogelsang noch?“ fragte er.

„Nur vom Hörensagen. Die Wolffs haben ihn lanciert. Er ging immer auf die Jagd mit dem älteren der beiden Söhne. Sie haben eine Reihe von Leuten in den Betrieb eingeschleust. Aber immer auf die stille Tour. Mich haben sie auch nicht direkt gefeuert. Ich bin freiwillig gegangen, und das war dann das Ende meiner Geschichte.“

Gerlach sah den buschigen Vogelsang vor sich, wie er im Jägerwams durch den grünen Tann schlich. Jetzt war die Bahn frei für ihn und die Wolffs. „Wirklich eine rührende <para160> Familiengeschichte“, gab er von sich.

„Nicht wahr?“ meinte der Alte, „wie die Buddenbrooks, nur nicht so lustig. Blut, sagt man immer, ist dicker als Wasser. Aber Besitz kann auch ganz schön verbinden. Irgendwie kann man Frauen wie Charlotte Wolff schon fast wieder bewundern. So viel Ausdauer, so viel Schläue. Wie eine Glucke hat sie ihr Nest verteidigt, und das alles für ihre beiden Küken.“„Habichte“, sagte Gerlach.

„Wie bitte?“

„Astur palumbarius, der Habicht, ein gefürchteter Räuber unserer heimischen Wälder. Hat einen ausgeprägten Brutpflegeinstinkt. Greift alles, was er kriegen kann.“

„Ja, so kann man das auch sehen.“

Der Alte reckte sich und stand auf. „Mehr kann ich Ihnen nicht bieten. Den Mörder müssen Sie schon selber fangen.“

„Ach, den haben sie bereits“, sagte Gerlach.

„So? Die tüchtige deutsche Polizei. War sie schon immer. Was wollen Sie jetzt machen?“

„Ich muß nach Hause. Wissen Sie, wie ich am besten zurückkomme?“

„Sie können von Cork aus nach Dublin fliegen und dann weiter nach Deutschland. Ich weiß aber nicht, wann. Ich habe nicht vor, das auszuprobieren. Drüben in der Stadt wird man es Ihnen sagen können.“

„Ich muß mich bei Ihnen bedanken“, sagte Gerlach.

„Wofür?“ fragte Runger zurück. „Machen Sie's gut.“

„Sie auch.“ Gerlach erhob sich und machte sich auf den Weg zu seinem Wagen. Oben auf dem Parkplatz drehte er sich noch einmal um und winkte hinunter. Runger winkte zurück und ging ins Haus. Gerlach kam ein dummer Spruch in den Sinn: Wenn Menschen auseinandergehen, dann sagen sie Auf Wiedersehen.

Als Gerlach am Hafen ankam, wurden gerade die letzten Marktstände zusammengepackt. Ein kleines Reisebüro hatte noch geöffnet. Der einzige tägliche Flug von Cork nach Dublin ging um zehn nach zwei, also würde er ihn heute nicht mehr erwischen. Ihm war es auch recht. Vom Fliegen hatte er langsam die Nase voll. Morgen konnte er den Rückflug am Nachmittag nach Düsseldorf bekommen, und so eilig hatte er es nun auch wieder nicht. Die Sonne schien, die Leute zeigten zufriedene Gesichter, und Gerlach beschloß, sich zu freuen. Im Stehen aß er eine Portion Fish and Chips. Am Ortseingang war ihm ein viktorianischer Kasten aufgefallen, der offenbar als Hotel diente. Als er mit seinem weißen Halbstarkenmietwagen die Kiesauffahrt hochfuhr, fühlte er sich kurzfristig deplaziert, aber das legte sich, als er anstandslos ein Zimmer bekam. Es gab eine Menge knarzender Antiquitäten, einen Park um das Haus und einen Wintergarten, der sich sehen lassen konnte. Gerlach verbrachte den Rest des Nachmittags mit ausgedehntem Nichtstun. Dabei genehmigte er sich verschiedene Getränke, und das Resultat war, daß er am Abend sehr beschwingt in die Stadt ging. Er geriet in eine Bar, in der drei Herren irisches Liedgut zum Besten gaben. Eine größere Anzahl von Landwirten aus der Umgebung prostete ihnen zu. Er klemmte sich in eine Ecke und prostete mit. Bald hatte er einen Zustand erreicht, in dem ihm alle Wolffs dieser Welt im Mondschein begegnen konnten. Nur angeborene Schüchternheit und mangelnde Textkenntnis hielten ihn davon ab, das Lied von Kuno, dem Obergefreiten anzustimmen. Noch zufriedener als Gerlach, der gegen halb zwölf zu seinem Hotel schwankte, konnte kaum ein Mensch sein.

<Kapitel XIX>

Der Sonntagmorgen brachte ausgiebigen irischen Landregen. Gerlach kam spät zum Frühstück herunter und widmete sich seinen Spiegeleiern, gebratenen Würstchen und der Irish Times. Was ihn als Ausländer auf ewig von den Iren unterscheiden würde: Er war nicht imstande, auch nur den Ansatz zu einer Lösung des Kreuzworträtsels hinzubekommen. Allerhand wichtige Dinge waren in der Welt passiert. Unter anderem war es in Donegal zu fünf ernsten Fällen von Lebensmittelvergiftung durch verdorbenen Haselnußjoghurt gekommen. Das Pfund stand schwach und die Mark war stark. Nordic Sparkle hatte in Mallow nur den dritten Platz belegt, was für viele eine herbe Enttäuschung bedeutete. Und dem deutschen Bundeskanzler war wieder mal eine Peinlichkeit unterlaufen. Letzteres war im streng journalistischen Sinne keine echte Neuigkeit.<para160>

Die Kanne Tee war leer, und Gerlach fühlte sich blendend. Lässig bezahlte er mit seiner Kreditkarte und machte sich auf den Weg. Die Straßen entlang der Küste waren gut ausgebaut und breiter, als er es in Erinnerung hatte. Ihm konnte es recht sein. Bis Cork regnete es zuverlässig vor sich hin.

Der Flughafen von Cork wirkte gegen alles, was Gerlach bisher gesehen hatte, wie ein Legohäuschen. Die freundlichen Iren hatten einen Freundlichkeitswettbewerb veranstaltet und die freundlichsten von ihnen arbeiteten jetzt bei der Fluggesellschaft. Wo sie bei all dem Regen diese Freundlichkeit hernahmen, das war schon erstaunlich. Die kleine Maschine brummte los, ein bißchen kam sich Gerlach vor wie Victor Laszlo in der Schlußszene von Casablanca, nur ohne Ingrid Bergmann, und dann ging es durch dicke Regenwolken ohne Umschweife nach Dublin. Gerlach lungerte eine Stunde herum und erstand eine Flasche Whyskey im Duty Free Shop. Immer noch hing ihm der Geruch von Torffeuer in der Nase.

Im Flugzeug nach Düsseldorf ging es aufgeräumt zu. Die Stewardessen hatten nicht viel zu tun und behandelten die wenigen Passagiere mit ausgesuchter Kumpelhaftigkeit. Gerlach hätte sich nicht gewundert, wenn ihm eine auf den Rücken geklopft und gesagt hätte: Na Mac, geht's wieder nach Hause, wird langsam auch Zeit, oder was?<para160>

Kurz vor sieben flogen sie über Düsseldorf ein. Es war längst finster, und auf dem kurzen Weg vom Flugzeug in den Bus überfiel Gerlach nasse Kälte. Das war wieder typisch: Zum Schneien reichte es nicht, dafür kroch es ungemütlich in alle Ritzen. Eine Stunde später saß er im Intercity. Die Bundesbahn hatte sich inzwischen etwas Neues einfallen lassen und den Speisewagen in Bordrestaurant umgetauft. Gerlach las kopfschüttelnd die Speisekarte, die wie eine Zeitung aufgemacht war. Was es da alles gab: Vorbei die Zeiten von Bockwurst und Hühnerfrikassee. Stattdessen Hummersüppchen und Pastrami-Sandwich. Er konnte sich noch erinnern, daß sie französischen Landwein, rot, ausgeschenkt hatten. Jetzt gab es niedliche kleine Champagnerfläschchen, und rauchen durfte man auch nicht mehr. Die Kellnerin zuckte bedauernd mit den Schultern. „Gehen Sie doch in den Bistro- Treff nebenan“, schlug sie vor.

„Bitte was?“ fragte Gerlach zurück.

„Da gibt es sogar Bier vom Faß“, warb sie.

„Na dann“, sagte Gerlach und ging hinüber. Die Wände waren in altrosa und lüster gehalten, und man saß auf Hockern. Sieh an, dachte Gerlach, man hat sich um ein Interieur bemüht. Leider hatte die Deutsche Bundesbahn vergessen, auch das Publikum auszuwechseln. Grölende Soldaten waren grölende Soldaten, ob sie nun im Bistro-Treff standen oder an der Würstchenbude. Die Kellnerin war um ihren Job nicht zu beneiden. Gerlach bestellte sich ein Bier und lauschte zwei Geschäftsleuten zu, die am Nebentisch ihre Spesenrechnung aufpolierten. „Schampus“, orderte der eine. Der andere war dem Dialekt nach eindeutig aus Sachsen.<para160>

„Also ein Drehbuch gab es keines“, hörte Gerlach mit einem Ohr, „Das ist dann Take für Take gebaut worden.“ Von Gegenschüssen war die Rede. „Und dann gab es nicht mal ein Auflösungsgespräch mit dem Kameramann.“ Was um alles in der Welt war das denn? Jetzt ließ der Mann schon wieder den Wessie raushängen: „Setzen Sie den ganzen Schlamassel auf eine Rechnung“, gab er der Kellnerin jovial zu verstehen. Nun ja. Raffhälse gab es hüben wie drüben.

Die Soldaten hatten genug gelärmt, die beiden Filmfreunde verschwanden, und Gerlach hatte wieder seine Ruhe. Nur ein Jüngling mit speckigen Turnschuhen und Plastikjacke saß noch in der Ecke. Er hatte einen Walkmanhörer auf. Zischelzischel, machte es. Aus seiner Richtung waren das sicher beeindruckende Bässe. Merkwürdig, daß in Hannos Unterlagen kaum etwas über die drei Herren zu finden war, die die Leiche entdeckt hatten. Vielleicht waren sie über die Grenzen der Stadt hinaus nie in Erscheinung getreten. Von Schintzel, dem guten Freund der Familie Eschenbacher, wußte Gerlach immerhin, daß er schon in zweiter Generation mit Immobilien handelte. Von Oelkers wußte er nur, daß der sich in den vergangenen Jahren als Experte für neue Technik ausgegeben und dem Verlag ein teures System aufgeschwatzt hatte. Im Pressehaus existierte angeblich sogar eine Art Entwicklungsredaktion unter seiner Leitung, die sich mit Lokalfunk und solchem Kram befaßten. Niemand hatte jemals einen von denen zu Gesicht bekommen. Vielleicht war das alles auch nur ein Gerücht. Eyerkauffer schließlich betrieb eine hochseriöse und hochpompöse Anwaltspraxis an der Nikolaikirche. Er hatte ein knappes Dutzend Kompagnons und tauchte überall dort persönlich auf, wo es um viel Geld ging.<para160>

Geld, Geld und nochmals Geld. Das Trio paßte schon zusammen.

Wenn Grete Eschenbacher versucht hatte, Charlotte Wolff aufs Kreuz zu legen, indem sie den ganzen Laden verkaufte, dann waren die drei genau die richtigen.<para160>

Gerlach betrachtete sein Spiegelbild in der Scheibe. Er sah ziemlich müde um die Augen aus, fand er. Manchmal gab es das, daß man anderen in die Augen sah, und stattdessen seine eigenen Augen sah, und daß das, was man da sah, einem nicht gefiel. Aber hier war nur er es, der sein müdes Gesicht betrachtete. Gegen halb elf würde er auf dem menschenleeren Bahnhof stehen, und außer seiner Katze würde ihn niemand erwarten. Halb elf war genau die richtige Zeit für das Lindeneck. Gerlach bestellte sich noch ein Bier, holte sein Notizbuch hervor und versuchte, ein bißchen Ordnung in die ganze Geschichte zu bringen.

Zwei Stunden später stand er mit seinem Koffer tatsächlich allein auf dem trostlosen Bahnsteig und fragte sich ernsthaft, warum er nicht in Dallas geblieben war. In Dallas gab es <para160>kein Lindeneck. Das war es wohl. Zuhause war man da, wo man eine Stammkneipe hatte. Der Taxifahrer gab sich so maulfaul, daß Gerlach, hätte er den geringsten Zweifel gehabt, spätestens jetzt wußte: er war wieder zurück.

Fritz hantierte wie üblich mit den Gläsern, in der Ecke saß das übliche Skattrio, und Gerlach war getröstet. Er war sicher, wäre er zwei Jahre unterwegs gewesen, alles genauso vorgefunden zu haben. Henry Duhn stand am Tresen. Er hatte seinen Arm um eine Frau gelegt, die Gerlach nicht kannte, die er aber sofort als Lehrerin einstufte, Ende dreißig, Mann und Kinder aus dem Haus, auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Die Weihnachtsferien würde sie entweder beim Skilaufen verbringen oder im Club Mediterrane in Kenia, falls es ihr bis dahin nicht gelang, Henry zu einem Ausflug auf die Malediven zu überreden. Gerlach gönnte es ihr von Herzen. Er stellte seinen Koffer in die Ecke und schob sich an den Tresen. „Diesmal bist du dran“, sagte er.<para160>

Henry drehte sich um: „Wo kommst du denn her?“

„Aus Amerika.“

„Ha ha“, machte Henry. Hätte Gerlach gesagt: Aus Krefeld, hätte er das gleiche von sich gegeben.

„Darf ich dir Sonja vorstellen, Sonja, das ist Gerlach, die Edelfeder.“

Gerlach schüttelte Sonja die Hand: „Nur weil ich im Gegensatz zu ihm mir und mich nicht verwechsle. Das kann er nicht fassen.“ Sie hatte einen festen Händedruck. Wahrscheinlich unterrichtete sie Sport und Gesellschaftskunde. War auch Zeit, daß Henry in feste Hände kam.<para160>

„Was macht die Zeitung?“ erkundigte sich Gerlach.

„Die Zeitung, die Zeitung, wen interessiert das denn schon?“

„Na, mich.“

„Die Zeitung gibt's noch und die wird es immer geben.“

„Wem gehört sie denn jetzt?“

„Der Eigentümer wird noch gesucht. Angeblich soll eine Stiftung gegründet werden. Laß mich doch in Ruhe mit der Zeitung, ich bin nicht im Dienst.“

„Tschuldigung“, sagte Gerlach, „ich wollte nicht stören.“

„Tust du auch nicht, solange du nicht wieder von der Zeitung anfängst.“

Er hatte recht. Es gab auch noch andere Dinge im Leben.<para160>

„Willst du ein Bier?“

Jetzt ging das wieder los. „Ein Glas Sekt wäre nicht schlecht.“

Die Lehrerin freut sich: „Sekt, au ja.“ Schon hatte er bei ihr einen Stein im Brett.<para160>

„Wenn das so ist“, sagte Henry und bestellte.<para160>

Jetzt war Fritz an der Reihe, sich zu freuen. „Gibt es was zu feiern?“ fragte er überflüssigerweise. Was war an Sekt eigentlich so besonderes, wenn sogar die Bundesbahn mit Champagner kam? Hier im Lindeneck gab es Sekt nur, wenn einer der Gäste seinen Führerschein verloren hatte.

„Prost“, sagte Gerlach, „auf das, was wir lieben.“

„Auf uns“, sagte Henry, und blickte der Lehrerin tief in die Augen. Schade, dachte Gerlach, daß er keine Verlobungsringe dabei hatte. Es sah ernst aus.<para160>

„Was macht Ihr Weihnachten“, fragte er taktlos. Die beiden dachten angestrengt nach.<para160>

„Keine Ahnung“, sagte Henry, „und du?“

„Ich weiß es nicht“, mußte Gerlach einräumen. Weihnachten servierte Fritz Feuerzangenbowle und stellte Kekse auf den Tisch, für alle, die sonst auf die Bescherung der Heilsarmee angewiesen gewesen wären. Er war immer sehr gemütlich, dieser Heiligabend der einsamen Herzen.

Die beiden waren wieder miteinander beschäftigt. Gerlach klemmte seinen Fuß unter die Leiste des Tresens und blickte sich um. Keine Laurien war in Sicht. Nicht einmal eine Lehrerin.<para160>

Dafür war der Betrunkene von neulich nicht zu übersehen. Er hatte seinen Hintern auf dem Tresenhocker festgeschraubt und nippte an seinem Bier. Anscheinend war er Dozent. „Der Essistenssialismus iss tot“, konnte Gerlach vernehmen, „mausetot. Ssartre war ein Schwädsser, könnt ihr mir glauben.“<para160>

Keiner wollte etwas von Sartre hören. Fritz verschwand im Keller, um irgendeinen verborgenen Bierhahn zu öffnen. Gerlach goß sich Sekt ins Glas. Das ärgerte den Betrunkenen.

„He“, rief er über den Tresen, „wer biss du denn?“

Gerlach sah ihn wütend an. „Gerlach“, sagte er.

Der Betrunkene wollte sich ausschütten vor Lachen. „Das iss gut. Das iss wirklich gut. Der Eingeschlossene aus Altona. Ich, Franz Gerlach, hier in diesem Ssimmer, ich habe das Jahrhundert auf meine Schultern genommen ...“

Gerlach stand auf und ging zu dem Witzbold hinüber.

„Hat dir eigentlich schon mal jemand was aufs Maul gegeben?“ erkundigte er sich höflich.

„He, laß sein“, rief Henry. Der Betrunkene verschüttete sein Glas. „Iss doch wahr“, plapperte er vor sich hin, und malte mit dem Finger in der Bierpfütze umher. Es war Zeit, nach Hause zu gehen.<para160>

„Ich laß Euch allein“, sagte Gerlach zu dem frischgebackenen Pärchen, „ehe ich hier anfange, mich zu streiten.“

„Tschühüß“, machte Sonja. Henry wedelte nur mit der Hand.<para160>

Als Gerlach die Tür zu seiner Wohnung aufschloß, schlug ihm kalter Staubgeruch entgegen. Sparsam, wie sie nun mal war, hatte die Vermieterin die Heizungen abgedreht. Von der Katze war weit und breit nichts zu sehen. Sie hatte sich zu den Nachbarn verzogen und würde eine Weile sehr beleidigt sein. Gerlach drehte alle Heizungsventile auf und holte die zollfreie Flasche hervor. Er goß sich ein Glas ein und setzte sich in seinen Lieblingssessel. Manchmal stellte das Leben ziemliche Ansprüche.

<Kapitel XX>

Am nächsten Morgen war die Katze noch immer nicht aufgetaucht. Gerlach dachte beim Rasieren darüber nach, was er zu erledigen hatte. Der Kühlschrank war leer, der Wein alle, das Fahrrad brauchte eine neue Beleuchtung, Rechnungen waren zu bezahlen, Glühbirnen auszuwechseln und der Mantel mußte dringend zum Schneider. Auf dem Weg dahin könnte er die Wäsche zur Reinigung bringen, einen Abstecher in die Bibliothek machen, außerdem mußte die Wohnung dringend gereinigt werden und Katzenfutter fehlte auch. Diese Dinge des täglichen Lebens nervten ihn von Jahr zu Jahr mehr. Manchmal wurde ihm das alles zu viel. sogar zu viel. Wenn dann auch noch das Telefon klingelte und der Nachbar seinen Rasenmäher anwarf, war der Tag gelaufen.<para160>

Im Supermarkt schob er schlecht gelaunt seinen Einkaufswagen durch die Gänge. Diese Zwangsberieselung mit Musik war normalerweise schon eine Zumutung, aber jetzt vor Weihnachten steigerten sie den Terror noch und spielten kling, Glöckchen, klingeling in allen Variationen. Fünfundneunzig Prozent von dem, was angeboten wurde, war absolut überflüssig. Er konnte die aus der DD“ verstehen, wenn sie große Augen machten, aber er persönlich wäre gut und gern mit einer einzigen Sorte Toilettenpapier ausgekommen. Dieser ganze Schund, den sie den Kindern in den Weg legten. Und dann die Videokassette für den Vati und eine Dose Lackpflegemittel obendrauf und Mutter bekam zum Trost eine hübsche Häkeldecke aus hundert Prozent Viskose. Nur wenn man das Salz suchte, konnte man hunderte von Metern zurücklegen. Manchmal war Gerlach glatt versucht, in der Hobbyabteilung eine Schlagbohrmaschine zu kaufen und noch an Ort und Stelle auszuprobieren.Allerdings hatte er sich schon vor Jahren geschworen, nie wieder eine Bohrmaschine in die Hand zu nehmen, seit er beim Versuch, einen Spiegel zu befestigen, zielsicher die Wasserleitung getroffen hatte.<para160>

Er schleppte den ganzen Kram nach Hause und reagierte seine Wut mit dem Staubsauger ab. Zum Friseur könnte er auch mal wieder gehen, fiel ihm ein. Er packte die Wäsche in eine Tüte und fuhr mit der Straßenbahn in die Stadt.<para160>

Der Schneider war ein Armenier, der schon ewig im Westen lebte, aber ein paar liebenswerte Eigenschaften aus seiner Heimat beibehalten hatte. Dazu gehörte, wie er die beschädigten Stücke in Empfang nahm. Er wendete Gerlachs Mantel hin und her und jammerte: „Oioioioioi.“ Das gute Stück, sollte das heißen, wie furchtbar. Der Kunde bekam dann immer einen kleinen Schreck.<para160>

„Meinen Sie, das kriegen Sie noch mal hin?“ fragte Gerlach.

Der Mann schlenkerte mit der Hand: „Kein Problem. Der wird wieder wie neu.“<para160>

Auf dem Weg zum Friseur fiel Gerlach auf, wie schäbig diese Stadt eigentlich war. Alles hatten sie dem Verkehr geopfert. <para160> Der Fußgänger hatte sich gefälligst in die Fußgängerzonen zu scheren, wo er möglichst viel Geld zu lassen hatte. Der Rest gehörte den Autos. Breite Schneisen hatten sie kreuz und quer geschlagen, trostlose Fassaden hochgezogen und die Postmoderne nur zum Anlaß genommen, jeden eventuell vorhandenen Rest von architektonischem Feingefühl über Bord zu werfen.<para160>

Harry war viel zu gut für diese Stadt. Er hatte sein Handwerk in Frankreich gelernt, und jetzt schnipselte er an diesen Provinzköpfen herum. Gerlach ging gern zu Harry. Man mußte keinen Termin abmachen, irgendwann kam man eben dran.<para160>

„Wie sieht's aus?“ fragte er. Harry war mit einer sonnenbankgeschädigten Blondine beschäftigt und klapperte mit der Schere: „Halbe Stunde. Geh'doch inzwischen was besorgen.“

„Nein danke“, sagte Gerlach. Er setzte sich in die Ecke mit den Modezeitschriften und bekam prompt einen Kaffee angeboten. Das hatte es früher beim Friseur auch nicht gegeben. Harrys Zeitschriftenecke war Gerlachs wichtigste Informationsquelle in allen Modefragen. Interessant, was der Herr von heute für Unterwäsche trug. Die Unterhemden hatten in dieser Saison unter allen Umständen den Bauchnabel freizulassen. Die Unterhosen schienen ihm etwas gewagt. War so etwas nicht schrecklich unbequem? Sexy konnte man es jedenfalls nicht nennen, dieses Gewürge. Überhaupt fand er, daß Frauen in Unterwäsche ganz objektiv die bessere Figur machten. Und auch ohne Unterwäsche, wenn man es recht bedachte. Sie hatten einfach die besseren Proportionen.<para160>

Harry zupfte die letzte Locke an ihren Platz und vollendete sein Werk. Die Blonde drehte den Kopf von links nach rechts und bewunderte sich im Spiegel. „Gekonnt“, sagte sie. Harry verneigte sich geschmeichelt. „Auf bald.“

Er verschwand mit ihr zur Kasse, und Gerlach nahm Platz. Er grinste in den Spiegel und zog eine Grimasse. Mit der Blonden konnte er nicht mithalten.

„Waschen?“ fragte Harry, als er wiederkam. Gerlach nickte.<para160>

Das warme Wasser floß ihm über den Kopf, Harry massierte irgendein Spezialshampoo hinein, brauste, spülte und legte ihm ein Handtuch um die Schultern. Anschließend zog er mit dem Kamm mehrere denkbare Scheitel. „Weißt du“, sagte er, „Du solltest wirklich mal eine Reaktivierungskur für deine Haare machen.“

„Quatsch“, sagte Gerlach.

„Aber es werden immer weniger.“

„Das weiß ich selber.“

„Ich werde sie am besten ganz kurz schneiden.“

„Nur zu.“

Harry fing an. „Was gibt's neues in den besseren Kreisen?“ erkundigte sich Gerlach.

„Ach Gott, diese schreckliche Geschichte, du weiß davon?“

„Nichts genaues.“

„Wenn ich nur daran denke, wie grausam. Ich habe sie manchmal zu Hause frisiert. Sie ließ sich immer ein bestimmtes Rotblond färben.“

„Du warst bei ihr zu Hause?“

„Ein paar mal, ja.“

„Wie sah es da aus?“

„Es stand alles voll mit alten Möbeln und Vasen. Sie hatte mehr Schränke als man sich vorstellen kann. In manchen war gar nichts drin, nur zusammengeknülltes Papier.“

„Wie war sie sonst so?“

„Ein bißchen unsicher.“

„Ängstlich?“

„Das kann man wohl sagen. Ich mußte telefonisch ein bestimmtes Klingelzeichen ausmachen, sonst hätte sie mir gar nicht geöffnet. Schrecklich unordentlich war sie. Und ich glaube, auch ein bißchen depressiv.“

„Wann hast du sie zum letzten Mal frisiert?“

„Das ist schon über ein halbes Jahr her. Die meiste Zeit war sie im Ausland. Ich glaube, sie hat sich in der letzten Zeit kaum noch hier blicken lassen.“

„Und ist dir da irgend etwas aufgefallen?“

„Sie war aufgeregt. Nervös, aber nicht unglücklich. Wenn sie jünger gewesen wäre, hätte ich gedacht, sie wäre frisch verliebt.“

„Verlieben kannst du dich in jedem Alter.“

Harry ließ die Schere sinken. „Meinst du wirklich?“

Harry war erzschwul, wie die meisten Friseure, und als alternder Schwuler hatte man heutzutage nicht viel zu lachen. Trotzdem fand Gerlach, daß er die Dinge zu pessimistisch sah: „Sieh zum Beispiel mich an.“

„Du?“

Gerlach erzählte ihm von seinem Amerikaausflug.

„Du mußt sie unbedingt anrufen“, meinte Harry. „Laurien, was für ein schöner Name. Vielleicht wird da was draus.“

„Ich glaube kaum“, sagte Gerlach. Aber Harry hatte recht. Anrufen sollte er.<para160>

Voller Hingebung bearbeitete Harry jetzt seine Nackenhaare.<para160>

„Kennst du eigentlich die Familie Wolff?“ wollte Gerlach wissen. Wenn Harry sie nicht kannte, dann kannte sie keiner.<para160>

„Meinst du hier bei uns?“

„Ja, wo denn sonst?“

„Drüben die Druckerei gehört einer Familie Wolff. Sie leben nicht alle hier. Die alte Frau Wolff lebt im Taunus, so viel ich weiß. Ein Sohn lebt in Hamburg. Der andere hat ein hübsches Haus in den Wallanlagen. Warum willst du das wissen?“

„Ich hab'kürzlich von ihnen gehört. Haben Sie Geld?“

„Keine Ahnung“, sagte Harry.

Er hatte nicht übertrieben, als er den Schnitt als kurz bezeichnete. Er war sehr kurz. Als Harry Gerlachs zweifelnden Blick sah, beruhigte er ihn: „Du kannst das tragen. Bringt Deine Ohren besser zur Geltung.“

„Na wenn du meinst.“ Jedenfalls brauchte er das nächste Vierteljahr nicht zum Friseur zu gehen.<para160>

„Laß dir einen Bart stehen“, gab ihm Harry mit auf den Weg, „Das kompensiert.“ Für einen Friseur war er ganz schön direkt.

Gerlach machte sich auf in die Bibliothek. Im großen Hörsaalgebäude sah er Licht. Selbst die Vorlesungen waren überfüllt. Er hätte keine Lust gehabt, noch einmal zu studieren. Ein halbes Leben lang fütterten sie einen mit mehr oder weniger abstraktem Wissen, und in den allermeisten Fällen war es zu nichts zu gebrauchen. Kleine Grüppchen kamen ihm entgegen. Die Studenten wurden von Jahr zu Jahr jünger, kam es ihm vor, fusselige Milchbärte und Mädchen, die so alt waren wie seine Tochter, wenn er eine Tochter gehabt hätte. Das war natürlich Unsinn. Er kam eben langsam in die Jahre.<para160>

Der Geschichtslesesaal der Bibliothek war oben unter dem Dach. Gerlach suchte eine Weile zwischen den Nachschlagbüchern. „Wer war wer im Dritten Reich?“ schien ihm eine gute Quelle. Unter Wolff gab es eine kurze Eintragung: Verleger und Konsul, Stellvertreter von Hanfstaengl, Ernst, genannt Putzi, persönlicher Freund Adolf Hitlers und in den ersten Jahren Leiter des Auslandspresseamtes der NSDAP. Mit Putzi Hanfstaengl verband Gerlach ein paar vage Erinnerungen. Der war fast hundert Jahre alt geworden, wie überhaupt ein paar von den Nazigrößen ein beachtliches Alter erreicht hatten. In München hatte Hanfstaengl in bestimmten Kreisen als ulkige Nudel gegolten -- er hatte es sogar zu einer kleinen Sendung im Bayerischen Fernsehen gebracht, in der er sein Leben in den leuchtendsten Tönen ausgemalt hatte. Und Wolff war also der Stellvertreter dieses schrägen Vogels gewesen. Keine schlechte Position, jedenfalls in den ersten Jahren, als die Nazis sich noch um ihren Ruf im Ausland sorgten. Später war ihnen ihr Ruf vollkommen egal gewesen.<para160>

In der Kartei fand Gerlach ein paar Arbeiten über die Organisation der Pressearbeit der NSDA– und Putzis Memoiren: „Erinnerungen eines politischen Außenseiters“, hatte er sie getauft. Er füllte einen Leihschein aus und ging um die Ecke in die Cafeteria. Eine halbe Stunde später hatte er die Bücher.Zu Hause zog er sich seinen Sessel ans Fenster und schaltete die Leselampe ein. So ließ sich das Leben aushalten. Im Auslandspresseamt war es offenbar lustig zugegangen. Man war den angenehmen Seiten des Lebens gegenüber aufgeschlossen und immer auf der Suche nach einem guten Geschäft. Hanfstaengl war ein treuer Freund der Bewegung und hatte Hitler angeblich sowohl das Leben gerettet als ihm auch Geld gepumpt und sein Haus zur Verfügung gestellt. Dichter dran konnte man damals kaum sein. Konsul Wolff hatte sich eine schicke Paradeuniform schneidern lassen und fuhr mit schwerem Mercedes, Standarte und Chauffeur durch die Gegend. Damit schund er eine Menge Eindruck. Kurz und gut: Die Familie Wolff saß mittendrin im gesellschaftlichen Leben. Das ging bis kurz vor Kriegsbeginn gut. Dann fiel Putzi Hanfstaengl wegen seines losen Mundwerks in Ungnade und setzte sich überraschend nach England ab. Himmler ließ nach ihm fahnden, aber vergeblich. Und der Konsul wurde ebenfalls abserviert. Auf ein Auslandspresseamt konnten die Machthaber verzichten. Wolff verschwand in der Versenkung und widmete sich wieder dem Familienbesitz. Sein Schwiegervater Leonberger sah es mit Wohlgefallen. Daß Deutschland den Krieg auch verlieren konnte, damit hatten sie <para160>alle nicht gerechnet.<para160>

Gerlach hörte, wie es plumps machte. Dann machte es tickelditickel, dann kracks. Die Katze hatte sich gnädig entschlossen, nach Hause zu kommen, war auf dem Vordach gelandet und an ihr Trockenfutter gegangen. Kurze Zeit später saß sie auf ihren Hinterpfoten in der Tür und äugte in seine Richtung. Noch war sie nicht entschlossen, ihm zu verzeihen. Gerlach ließ die Hand vom Sessel baumeln und wackelte mit den Fingern. Das war ein Signal. Sie erhob sich, streckte die Glieder und näherte sich soweit, daß er ihr den Rücken kraulen konnte. Nachtragend war sie nur in Maßen.

Gerlach klappte das Buch zu und machte sich in der Küche einen Kaffee. Dann setzte er sich an den Schreibtisch und betrachtete das Telephon. Er holte Lauriens Karte und wählte die Nummer. Sie war zu Hause.<para160>

Gerlach wußte nicht recht, was er sagen sollte: „Hi there“, brachte er hervor. Sie schien sich zu freuen.<para160>

„Hat es geklappt in Dallas?“

„Ja sicher, und bei dir?“<para160>

„Es geht so.“

„Wie ist das Wetter in Deutschland?“

„Grauenhaft.“ Gerlach gab sich einen Ruck. „Was machst du Weihnachten?“ fragte er ohne Umschweife. Wer dumm fragt, kriegt auch eine dumme Antwort, dachte er und irrte sich.<para160>

„Meinst du, ich sollte Weihnachten in Eurem komischen kleinen Land feiern?“

„Unbedingt“, rief Gerlach.

„Ich soll ohnehin nach Leipzig. Die haben da eine ganz erstaunliche Produktion von Vier-Megabit-Chips, heißt es.“

„Das stimmt, das stimmt“, versicherte Gerlach enthusiastisch. Endlich hatte die Krise des Sozialismus auch mal etwas gutes. „Was denkst du, wann du kommst?“„Ich sage dir rechtzeitig Bescheid. Zeig mir ein bißchen was von Deutschland.“

„Ich zeige dir Deutschland, wo es am deutschesten ist“, versprach Gerlach.<para160>

Sie versicherten sich gegenseitig, wie sehr sie sich freuten, und hängten auf. Gerlach schnappte sich die Katze, warf sie ein Stück weit gegen die Decke und fing sie wieder auf. Sie machte einen fragenden Gesichtsausdruck. „Das verstehst du nicht“, sagte er, und setzte sie ab.<para160>

Er holte das Telefonbuch. Neuer Wall 31. Das mußte es sein. Ruhige Gegend, große Grundstücke, repräsentative Häuser. „Bei Wolff“, meldete sich ein Mann. „Mein Name ist Gerlach“, sagte Gerlach, „ich hätte gern den Senator gesprochen.“

„Er ist sehr beschäftigt. Ich fürchte, er hat im Moment keine Zeit.“

„Sagen sie ihm, es geht um die Zeitung“, schlug Gerlach vor.

„Einen Augenblick.“

Was immer der Senator wichtiges zu tun hatte, er opferte sich und kam ran. „Wer sind sie“, fragte er, ohne sich vorzustellen. Er hatte eine energische Stimme.

„Mein Name ist Gerlach“, wiederholte Gerlach.

„Ja, und?“

„Ich bin Journalist.“

„Was wollen Sie?“

Der Mann hatte offenbar wenig Geduld. „Ich würde gern wissen, was Sie jetzt mit der Zeitung vorhaben.“

Am anderen Ende trat Schweigen ein. Begriffsstutzig war er auch noch. Das war schlecht, wenn er so wenig Zeit hatte.

„Welche Zeitung?“ wollte der Senator wissen. Nun wurde es zu dumm.

„Sie wissen doch genau, wovon ich rede“, sagte Gerlach. „Vielleicht sollten wir das nicht am Telefon besprechen.“

„Was wollen Sie denn mit mir besprechen?“

Meine Güte, dachte Gerlach, der Mann ist wirklich schwer von Begriff. „Na, wie das jetzt mit dem Heimfallrecht steht und so weiter. Schließlich lebte sie doch mehr in Frankreich als in Deutschland.“ Jetzt schien es dem Senator langsam zu dämmern. Jedenfalls wollte er nicht wissen, von wem hier die Rede war.<para160>

„Also gut“, rang sich Wolff zu einer Entscheidung durch. „Wann hätten Sie denn gedacht?“

„Morgen Nachmittag“, schlug Gerlach vor, „zum Tee, bei Ihnen daheim.“

„Lassen Sie ihr Tonband gleich zu Hause“, sagte der Senator, „aufgezeichnet oder aufgeschrieben wird bei mir nichts.“

„Auf Wiedersehen“, sagte Gerlach. Höflich konnte man immerhin bleiben.

<Kapitel XXI>

Der nächste Tag war noch trüber als der vorangegangene. In dieser Jahreszeit war es besser, spät aufzustehen, damit man umso früher ins Bett zurückkriechen konnte. Gerlach hätte noch weiter nördlich nicht leben können: Den ganzen Winter über Finsternis, da mußten die Leute ja Depressionen entwickeln, von Skorbut, Rachitis und anderen Krankheiten ganz zu schweigen. Die Katze dachte gar nicht daran, das Bett zu verlassen.<para160>

Gerlach entschloß sich, in die Sauna zu gehen. Besser konnte er die Zeit bis zum Tee beim Senator nicht nutzen. Er stopfte Handtücher und Badehose in eine Tasche und machte sich auf den Weg.<para160>

Um ihre Saunen beneidete er die Skandinavier denn doch. Bei denen war das Teil des nationalen Erbes. Die Deutschen hingegen hatten die Sauna erst in den frivolen siebziger Jahren entdeckt, als im Kino Filme von den blonden Schwedenmädels liefen. Also dachten sie, das Ganze habe etwas mit Freikörperkultur zu tun. Hatte es aber keineswegs. Gerlach kannte kaum einen schlimmeren Anblick als den von dicken, nackten Männern, die ihren Bauch ungeniert durch die Gegend schoben und wie selbstverständlich annahmen, ihr baumelndes Geschlechtsteil würde die Damenwelt beeindrucken. In Wirklichkeit kicherten die Damen, das wußte Gerlach aus zuverlässiger Quelle.

Die älteste Sauna der Stadt war im Gesundheitsverein untergebracht. Dort herrschte weitgehende Geschlechtertrennung, und das entkrampfte die Atmosphäre. Kein Schielen und kein Starren, nur Schwitzen, wie es Sinn und Zweck der Sauna war. Jetzt am Vormittag waren ein paar alte Männer dabei, ihre rituellen Waschungen zu absolvieren. Einer hatte sich zu diesem Zweck sogar ein spezielles Handtuch angeschafft. Eine Kelle und ein Holzzuber waren darauf abgebildet, darüber stand in Kursivschrift: „It's saunatime“. Nicht schlecht, fand Gerlach.<para160>

Vier Stunden lang schaltete er so gut es ging ab, nickte im Ruheraum ein, ließ sich den Rücken massieren, schwamm ein paar Runden. Das Gute an Harrys Kurzhaarfrisur war, daß man keinen Kamm brauchte und die Stoppeln auch ohne Fön auf der Stelle trockneten. Von der Seite sah sie gar nicht einmal so schlecht aus. Er fühlte sich beinahe so energisch wie ein Senator am Telefon, der keine Zeit hat.

Gerlach hatte nur ein unklare Vorstellung darüber, wann es Zeit für die Teestunde war. Drei Uhr, beschloß er, war so gut wie jede andere Uhrzeit. Durchaus möglich, daß sie ihn in Großbritannien dafür unter die Barbaren eingestuft hätten.

Er bat den Bademeister, seine Tasche für ein paar Stunden aufzuheben und schlug den Weg durch die Wallanlagen ein. Das waren Überreste eines mittelalterlichen Festungsringes, die ein vorausschauender und kluger Architekt im vergangenen Jahrhundert zu Parks umgestaltet hatte. Hier an Grundstücke oder Häuser heranzukommen war praktisch unmöglich, es sei denn, man hieß Bodo Schintzel. Alte, ehrwürdige Bäume säumten die Straßen, schmiedeeiserne Gitter und hohe Mauern schirmten die Gärten von zudringlichen Blicken ab. Dahinter floß still ein kanalisierter Flußseitenarm. Rechtsanwälte wohnten hier, Zahnärzte, Stadträte und sogar ein ehemals bekannter Fußballspieler hatte es geschafft, sich einen Zipfel zu sichern, allerdings nur in ungünstiger Randlage. Hier und da lugte eine Videokamera hervor -- Gerlach hatte seine Zweifel, ob das potentielle Diebe tatsächlich abschrecken würde. Aber möglicherweise hatten sie hier alle eine Standleitung zur Polizei. Warum hatte Grete Eschenbacher so etwas nicht gehabt?<para160>

Von Nummer 31 war nicht viel zu sehen außer einer Mauer und einer dichten Hecke. Gerlach drückte auf einen Klingelknopf aus Messing, der in die Mauer eingelassen war. Er hörte einen Gong. Es war kurz vor drei.

Auf ein Summen hin öffnete sich das Tor. Dahinter führte ein Kiesweg zu einem modernen Haus in Flachbauweise, das so geschickt gebaut war, daß es kaum auffiel. In der Tür stand ein mittelgroßer, mittelalter, mittelschwerer Mann in unauffälliger Kleidung. Neben ihm saß ein aufmerksamer Schäferhund. Beide hatten einen Gesichtsausdruck, als wollten sie sagen: Entschuldigung, daß wir da sind, aber wenn wir schon mal hier sind, dann bitte keine Scherze.<para160>

„Gerlach“, stellte sich Gerlach vor.

Der Mann hielt es für unangebracht, seinen Namen zu nennen. Der Hund tat es ihm nach. „Senator Wolff wartet schon“, sagte das Mittelgewicht.<para160>

Der Hund trollte sich hinein, und Gerlach folgte ihm. Er kam durch eine Diele, wurde nicht aufgefordert, seinen Mantel abzulegen, sondern in einen großen, hellen Raum dirigiert, der auf eine Veranda hinausging, die ihrerseits an einen parkähnlichen Garten grenzte, hinter dem der Fluß lag. Am Fenster stand eine lange, hagere Gestalt und sah hinaus.<para160>

„Senator?“ fragte Gerlach, obwohl ja völlig klar war, wer hier wohnte.<para160>

Die Gestalt drehte sich um: „Sie sind also Herr Gerlach“, stellte Wolff fest. Er klang nicht so, als wenn er Widerspruch sonderlich geschätzt hätte. Er trug einen dunkelblauen Anzug und einen korrekten Schlips. Über dem schmalen Mund ragte eine Raubvogelnase in den Raum. Die Stirn war recht licht -- Harry, dachte Gerlach, würde ihm eine Kurzhaarfrisur verpassen. Das bemerkenswerteste war jedoch, daß der Senator zwei völlig unterschiedliche Augen besaß. Eines blickte lächelnd und durchaus nicht unsympathisch in die Welt, das andere taxierte Gerlach kalt ab. „Darf ich Ihnen meine Mutter vorstellen?“

Ein Sessel schwenkte herum, und Gerlach bemerkte erst jetzt, daß sich noch jemand im Raum befand. Die alte Charlotte Voigt mußte in den letzten Jahren stark abgenommen haben. Sie sah aus wie Anfang neunzig: faltig, dünn und mit unübersehbaren Altersflecken auf den gekrümmten Händen. Aber sie blickte durchaus nicht müde. Hinter ihrer Brille steckten ein paar hellwache Augen. „Was haben Sie da meinem Sohn für einen Unfug erzählt?“ fragte sie.<para160>

„Gnädige Frau“, sagte Gerlach, und hob beschwörend die Hand, „ich rede niemals Unfug.“<para160>

„Das werden wir ja sehen“, ließ sich der Senator vernehmen. „Ernst, nehmen Sie Herrn Gerlach den Mantel ab.“ Ernst kam von der Tür herbei, blickte, wie es seinem Namen angemessen war und zog mit Gerlachs Mantel wieder ab.<para160>

„Also bitte“, sagte die Alte, „setzen Sie sich und sagen Sie, was Sie wollen. Und tun Sie mir den Gefallen: Fassen Sie sich kurz. Ich habe keine Lust, mir lange Vorträge von Ihnen anzuhören.“

Gerlach setzte sich. Laura Ashley mußte bei der Inneneinrichtung ihre Hand im Spiel gehabt haben. Sessel und Sofa, Vorhänge und Teppich, alles war geblümt und gerüscht und gerafft. Der Senator blieb am Fenster stehen. Tee gab es keinen.<para160>

Gerlach betrachtete aufmerksam seine Fingernägel. Sie waren ausnahmsweise einmal sauber. „Ich frage mich“, sagte er dann, „wie Sie es all die Jahre geschafft haben, daß niemand von diesem Vertrag wußte.“

„Von welchem Vertrag?“ kam es vom Fenster. Der Mann war wirklich keine Geistesgröße.

„Sie wissen, was ich meine“, sagte Gerlach zu der Alten. Sie sah ihn an, ohne mit der Wimper zu zucken. „Mein Vater hat mir beigebracht, daß man im Geschäftsleben nicht zu viele Worte verlieren soll.“

Gerlach blickte zurück: „Bedauern Sie den Tod von Grete Eschenbacher?“

Charlotte Wolff hob die Augenbrauen: „Was für eine Frage. Natürlich! Jeder Tod eines Menschen ist bedauernswert. Falls Sie jedoch fragen wollten. ob wir etwas damit zu tun haben, kann ich Ihnen versichern: In keinster Weise hat die Familie Wolff mit dem tragischen Tod der Verlegerin Grete Eschenbacher auch nur das geringste zu tun. Merken Sie sich das gut: In keinster Weise.“<para160>

„Was wäre denn passiert, wenn sie nicht ermordet worden wäre, sondern geheiratet hätte?“ hakte Gerlach nach.

„Dann wäre die Zeitung ebenfalls an uns zurückgefallen“, sagte die Alte mit Nachdruck in der Stimme, „wie ich es mit Paul Eschenbacher vereinbart habe. Da gab es gar keinen Zweifel. Die Zeitung war rechtmäßig unser Eigentum, und daß sie nach dem Krieg kurzfristig in andere Hände überging, läßt sich nur mit den Wirrnissen jener Zeit erklären. Juristisch war die Lage stets völlig eindeutig. Paul Eschenbacher hätte allen Grund zur Dankbarkeit gehabt, daß wir ihn - sozusagen als Wiedergutmachung für das Unrecht, welches seiner Frau geschehen war - so lange am geschäftlichen Erfolg der Zeitung partizipieren ließen. Er hat sie ja auch fast heruntergewirtschaftet, zum Schluß.“

Geschliffen formuliert, fand Gerlach. Die Alte war plietsch. Er dachte an die juristische Expertise, die ihm Hanno besorgt hatte. So klar, wie die Alte das darstellte, waren die Verhältnisse nun doch nicht. „Was hätten Sie denn gemacht, wenn Grete Eschenbacher zu Lebzeiten verkauft hätte?“

„Das durfte sie nicht“, tönte der Senator dazwischen, „Das hätten wir anfechten lassen.“

Also doch, dachte Gerlach. Die Wolffs wären machtlos gewesen. „Was liegt Ihnen eigentlich so viel an der Zeitung?“<para160>

Charlotte Wolff faltete die Hände. „Erzähl es ihm, Karsten“, sagte sie. „Warum machen Sie nicht einen kleinen Spaziergang durch den Garten?“

„Kommen Sie“, sagte der Senator, und schob die Verandatür auf. Gerlach erhob sich und folgte ihm. Die Dämmerung hatte eingesetzt, und in der Luft hing der Rauch von gut abgelagerten Birkenholzscheiten. Ringsherum sorgten Büsche und Bäume für eine ungestörte Privatsphäre. „Ich will Ihnen etwas zeigen“, sagte der Senator und führte Gerlach hinunter zum Fluß. „Hier, diese Anlage habe ich nach eigenen Plänen gestalten lassen.“

So sah sie auch aus, dachte Gerlach. Wolff hatte offenbar die Anlage eines japanischen Teegartens im Auge gehabt, aber das war ihm auf gründliche Art und Weise mißlungen. Zur Not hätte man das ganze als Kinderspielplatz benutzen können, aber auch nur zur Not. In der Mitte war ein kleiner Teich mit Waschbeton eingefaßt. Schon das allein hätte einigen japanischen Herrschern Anlaß genug gegeben, den Senator ultimativ zum Seppuku aufzufordern. „Sehr schön“, sagte Gerlach, „sind da im Sommer Goldfische drin?“<para160>

„Natürlich“, sagte der Senator stolz. „Im Winter bringen wir sie in den Keller in ein Aquarium.“

Piranhas, dachte Gerlach, das hätte mir imponiert. Aber Goldfische. Nein, Karsten Wolff hatte von seiner Mutter nicht viel geerbt.<para160>

„Sehen Sie“, sagte der Senator, „es ist eine schwere Verantwortung, die ich da auf mich nehme. In Zeiten wie diesen komt es darauf an, eine nicht parteigebundene Heimatpresse zu erhalten. Der Markt ist umkämpft, und wie rasch könnte ein Konkurrent in die Lücke stoßen und auf diese Weise ein Monopol schaffen, welches die Meinungsvielfalt in unserer Region beeinträchtigt. Unser Raum ist durch seine Randlage wirtschaftlich benachteiligt, und so muß alles dafür getan werden, daß eine standortnahe und leserorientierte Berichterstattung objektiv und den Grundsätzen des demokratischen Gemeinwesens verpflichtet über alle Geschehnisse informiert.“

Krauseren Unsinn hatte Gerlach selten vernommen. Vielleicht übte der Senator schon für seine Rede vor der Belegschaft.<para160>

„Meine Familie“, fuhr der Mann fort, „verfügt über gewisse Mittel, die es uns erlauben, in dieser schwierigen Situation weitreichende Investitionen zu tätigen, welche den Fortbestand und die Existenz der Zeitung bis ins nächste Jahrzehnt hinein sichern sollen. Es wird ein schmerzliches Opfer sein, aber es ist notwendig. Ich bin entschlossen, es zu bringen.“

Gerlach war versucht, sein Taschentuch hervorzuziehen. Er ließ es dann doch lieber bleiben. Für Ironie hatte Wolff sicher kein Verständnis. „Ist die Zeitung denn so auf dem Hund?“ fragte er.

„Die technischen Gegebenheiten sind völlig veraltet“, behauptete der Senator, „es kommt darauf an, sich für den Wettbewerb besser zu rüsten.“

Von Wettbewerb hatte Gerlach, seit er in dieser Stadt lebte, nicht viel gespürt. Die Zeitung hatte ein unangefochtenes Monopol, und jeder zaghafte Versuch, eine Alternative zu schaffen, war stets mit geballter Einschüchterung beantwortet worden. Selbst das klägliche Stadtblättchen, das von einer Handvoll Unentwegter herausgegeben wurde, galt im Pressehaus als Verkörperung des Bösen, das bei Strafe der Exkommunizierung mit keinem Wort erwähnt werden durfte. Versuche zur Gründung von Anzeigenblättern hatte es genug gegeben, aber sie waren alle von der Anzeigenabteilung der Zeitung weggebissen worden. Nur eine größere Verlagsgruppe von außerhalb hätte etwas bewegen können, doch nach Gerlachs Informationen hatten die Verleger schon vor Jahrzehnten ein Stillhalteabkommen geschlossen, nach dem keiner in den Gewässern des anderen fischte. Was der Senator da zusammensponn, war reine Phantasie. Kein Wunder, daß seine Mutter ihn in den Garten geschickt hatte, um diesen Kram zu verzapfen.<para160>

„Dann kann man ja froh sein, daß die Zeitung nicht in wildfremde Hände fällt“, sagte Gerlach.

Für Ironie hatte der Senator tatsächlich keinen Sinn. „Daß sie nichts von Verantwortung verstehen, daß habe ich mir gleich gedacht“, sagte er scharf. „Bei mir würden Sie nicht lange Redakteur bleiben, darauf können Sie sich verlassen.“

„Bei Ihnen würde ich auch nicht arbeiten wollen“, gab Gerlach zurück. Sie starrten sich beide an. Dann sagte der Senator: „Es ist verschwendete Zeit, mit Ihnen zu reden. Ich denke, unser Gespräch ist beendet.“

Er machte auf dem Absatz kehrt. Gerlach blieb nichts anderes übrig, als ihm zu folgen. Drinnen hatte die Alte mitbekommen, daß ihr Sohn als Verleger keine besonders überzeugende Figur abgab. Sie sah Gerlach durch ihre Brille an: „Glauben Sie nicht, daß Sie irgendwelche Gerüchte über uns in die Welt setzen können. Wie ich höre, schnüffeln Sie schon ein paar Tage herum. Wir werden uns zu wehren wissen.“

„Davon bin ich überzeugt“, sagte Gerlach, „Danke, ich finde hinaus.“Ernst überreichte ihm schweigend seinen Mantel. Gerlach nahm den Weg zurück, den er gekommen war.<para160>

<Kapitel XXII>

In der Firma war alles beim Alten geblieben. Wenn ein Unternehmen erst einmal ein kritisches Alter erreicht hatte, half kein Unternehmensberater und kein Facelifting mehr - verknöchert blieb verknöchert. Gerlach grüßte den Pförtner, bekam das übliche gravitätische Kopfnicken zurück und verschwand in seinem Büro.<para160>

Hanna las in der Zeitung. „Schön, daß man dich auch mal wieder sieht“, begrüßte sie ihn, „war's denn wenigstens erholsam?“

„Wie man's nimmt“, sagte Gerlach, „am besten erholt man sich wahrscheinlich, wenn man hier arbeitet.“

„Du ganz bestimmt“, sagte sie, „ich hingegen ...“

„Ja, ich weiß, du bist wahnsinnig im Streß“, sagte Gerlach, „jeden Monat ein ganzes Heft. Das ist anders als bei der Kalenderproduktion.“<para160>

„Übrigens will dich der Chef sehen“, gab Hanna zurück, „hoffentlich gibt er dir was zu tun.“

Gerlach versetzte seinem Stuhl eine leichte Drehung und ging hinüber.

Der Dicke saß hinter seinem Schreibtisch und winkte: „Gerlach, kommen Sie her und setzen sich.“

Gerlach setzte sich.<para160>

„Was machen Sie denn für Geschichten? Ich dachte, Sie wollten Urlaub machen?“

„Habe ich doch auch“, meinte Gerlach, „jedenfalls überwiegend.“

„Und in der übrigen Zeit graben sie schmutzige Geschichten aus, was?“

„Sie sind aber gut informiert, Chef.“

„Sie hätten mir wenigstens sagen können, daß sie in der Vergangenheit des alten Eschenbachers rumwühlen.“

„Wer hat es Ihnen denn gesagt?“

Der Chef legte seine Hände auf den Tisch und trommelte mit den Fingern eine kleinen Marsch: „Ich will es mal so formulieren: Mein Verlagsleiter hat vom Verleger gehört, daß dieser von seiner Mutter gehört hat, daß sie von einem anderen Verleger einen Tip bekommen hat, daß einer ihrer Angestellten dumm herumfragt und auf diese Weise das Andenken an einen verstorbenen, sehr ehrenwerten und mit dem Bundesverdienstkreuz sowie anderen Auszeichnungen bedachten Verleger der allerersten Stunde in den Dreck zieht. Dieser verstorbene Verleger habe in schwerer Stunde seine Pflicht getan und beim Aufbau des demokratischen Pressewesens in der Bundesrepublik Deutschlands an vorderster Front gestanden, weshalb man es nicht gerne sehen würde, wenn sein Werk Gefahr laufe, posthum beschädigt zu werden. Habe ich mich verständlich ausgedrückt?“

„Eigentlich nicht, Chef.“

„Dann will ich es anders sagen: Sie hören auf mit dieser Eschenbacher-Geschichte.“

„Aber Sie wollten doch einen Nachruf!“

„Einen Nachruf schmieren Sie in fünf Minuten zusammen und damit fertig. Das wissen sowohl Sie als auch ich. Deswegen müssen Sie doch nicht nach Amerika fliegen. Was haben Sie denn rausbekommen?“Gerlach sah, wie ihn die Neugier plagte. „Grete Eschenbacher ist umgebracht worden, weil sie die Zeitung verkaufen wollte. Es gibt da eine Familie Wolff, der die Zeitung vor dem Krieg und während der Nazizeit gehört hat. Nach dem Krieg waren sie weg vom Fenster, weil der alte Wolff ein Bonze war. Sie haben den alten Eschenbacher unter Druck gesetzt, vermutlich mit Weibergeschichten und krummen Geschäften. Also hat er ihnen den Laden quasi überschrieben für den Fall, daß er stirbt und seine Frau sich nach seinem Tod wiederverheiraten sollte. An Verkauf haben sie damals alle nicht gedacht. Wenn ich Ermittlungsbeamter wäre, würde ich sagen: Die Sache sieht nach einer Auftragsarbeit aus.“

Der Chef wiegte sein Haupt. „Können Sie das beweisen?“

„Nein.“

„Dann sagen Sie so

etwas besser nicht laut, wenn Sie in diesem Beruf bleiben wollen.“

„Chef, man müßte nur ein bißchen in der Vergangenheit dieses Siegmar Verkojen nachschauen.“

„Man müßte, man müßte. Das lassen Sie bleiben. Wir sind im Moment knapp besetzt. Der Reibold ist in Köln, und da muß jemand seine Geschichte über die Erben der Achtundsechziger- Generation betreuen. Das machen Sie, und nichts anderes.“

Gerlach holte tief Luft. Dann atmete er wieder aus. Dieses hundertmal aufgewärmte Ding über die Achtundsechziger. Aber da war nichts zu machen, wenn der Chef es sich so in den Kopf gesetzt hatte.<para160>

„Ich nehme an, ich kann dann gehen?“

„Sie haben es voll erkannt. Nehmen Sie sich das nicht zu Herzen. Wir sind hier kein politisches Wochenmagazin.“

„Das ist mir auch schon aufgefallen, Chef.“

„Dabei soll es bleiben. Seien Sie nicht so frech.“

Gerlach machte, daß er hinauskam.<para160>

Hanna sah zufrieden aus. „Hat er dir den Kopf gewaschen?“

Gerlach brummte. Das ging sie einen feuchten Dreck an.<para160>

„Hat irgendwer angerufen in der Zwischenzeit?“

„Ja, eine Loleen oder so ähnlich. Klang ziemlich weit entfernt. Wer ist das denn schon wieder?“

Das ging sie noch weniger etwas an. „Hat sie irgendeine Nachricht hinterlassen?“

„Du sollst sie unter dieser Nummer anrufen.“

Sie schob ihm mit spitzen Fingern einen Zettel über den Schreibtisch. Es war eine komische Nummer. Er wählte sie.

„Grand Hotel“, meldete sich eine Empfangsdame auf deutsch.

„Bitte geben Sie mir die Durchwahl fünf null null“, sagte Gerlach. Sie war dran. „He“, sagte er, „wo bist du?“

„Ich bin in Ostberlin. Auf dem Weg nach Leipzig.“

„Das ging aber schnell.“

„Kein Problem, mit dem Flugzeug.“

Da hatte sie wieder recht. „Wann sehen wir uns?“

„Ich kann Ende der Woche kommen.“

„Geht es nicht ein bißchen schneller.“

Sie lachte. „Nein wirklich nicht. Ich bin hier nicht zum Vergnügen.“

„Soll ich dich irgendwo abholen?“<para160>

„Ich komme am Freitag um kurz nach acht mit dem Zug an.“„Ich bin da.“

Gerlach legte den Hörer auf. „Wenn du dich jetzt sehen könntest“, sagte Hanna.

„Wieso? Ist irgendwas mit meinem Gesicht?“

„Du siehst vollendet dümmlich und selbstzufrieden aus.“

Gerlach fiel keine passende Antwort ein. Diesmal hatte sie das letzte Wort. <para160>

<Kapitel XXIII>

Auf seinem Schreibtisch hatte sich der übliche Müll angesammelt. Das Krebsforschungszentrum Karlsruhe, das Gerlach aus unerfindlichen Gründen in seinen weiträumigen Verteiler aufgenommen hatte, informierte darüber, daß neue Durchbrüche auf dem Weg zur endgültigen Ferndiagnose von Gebärmutterhalskrebs bevorstanden. Der Singkreis Oberursel kündigte eine Tournee an. Der Heimchen-Verlag wies für alle Fälle schon einmal auf sein sensationelles Frühjahrsprogramm <para160> hin. Und auch die ersten Weihnachtspräsente trudelten ein: Zwei Kalender und eine Trockenbeerenauslese Ortega von der Pfalz.<para160>

Armgart Schmölzer hatte ein Stück über die Wiener Kaffeehauskultur abgeliefert, das selbst nach großzügigsten Maßstäben nicht mehr zu veröffentlichen war. Der Pariser Korrespondent, ein Wichtigtuer vom Fernsehen, der sich trotzdem nicht zu schade war, jede erreichbare Mark mitzunehmen, schwadronierte über den Esprit, der nun wieder über den Champs Elysee wehe und im Bois de Boulogne gleichfalls anzutreffen sei, wenn <para160>man es nicht vorzöge, seine Abende in dem reizenden Bistro um die Ecke zu verbringen undsofort. Gerlach schob alles auf einen Haufen. Den Mitarbeiterbrief aus London konnte er auch nächste Woche noch öffnen. Sehr gespannt war er auf den Inhalt nicht.<para160>

Hanna hatte ein kleines Lächeln aufgesetzt, das ganz entzückend um ihre Mundwinkel spielte.

„Gut siehst du heute aus“, sagte Gerlach.

Sie kicherte. „Findest du?“

„Doch, doch, steht dir ganz ausgezeichnet, dieses, ähm, dieses Patchwork.“

„Patchwork?“

„Na, dieses Dings, dieses Tuch.“

Hanna drehte sich von links nach rechts und wieder zurück. „Ist ja auch von Jill Sander.“

„Tatsächlich“, wunderte sich Gerlach. „Das war sicher nicht billig.“

„Aber es ist seinen Preis wert, findest du nicht?“

„Unbedingt“, stimmte Gerlach zu, „lieber wenige Stücke, aber dafür gute Qualität.“

Hanna nickte. Das stammte von ihr selbst. Sie hätte schwerlich widersprechen können.<para160>

„Wie war es denn so in Amerika?“

Gerlach drehte seinen Stuhl so, daß er gleichzeitig die Beine auf die Ecke des Schreibtischs legen und die Grünlilie studieren konnte. „Heiß war es. Anstrengend. Stell dir vor, die essen da schon zum Frühstück Steaks. So groß.“ Er hielt die Hände einen halben Meter auseinander, und als er ihr Stirnrunzeln bemerkte, verringerte er den Abstand auf Tellergröße. „Na ja, so auf jeden Fall.“<para160>

„Ich würde so gerne mal hin. Das muß alles wahnsinnig aufregend sein. Der Grand Canyon. New York. Tiffany.“

„Genau“, sagte Gerlach, „Tiffany. Da mußt du hin.“

„Und Kalifornien erst ...“

„Auch nicht schlecht. Und Anchorage, das muß man auf jeden Fall gesehen haben.“

Hanna hörte nicht sehr aufmerksam zu. „Und wie ist das nun mit dem Jet-lag?“

„Das ist ganz einfach. du bleibst einfach wach. Kein Problem.“ Gerlach holte seinen Tabak und drehte sich weltmännisch eine Zigarette. In Wirklichkeit war er hundemüde. Sollten sie ihn doch gern haben, alle Chefs und Verleger dieser Welt. Da saß er hier und redete Schwachsinn, anstatt ein richtiges Blatt zu machen. Das war ganz simpel. Man mußte nur gute Texte drucken und ab und zu mal ein starkes Photo. Das simpelste überhaupt. Warum machte das keiner? Sechzigtausend Auflage, anständige Honorare, und keinen, der einem ständig dreinredete. Vor allen Dingen keinen Veranstaltungskalender. Das war der allerletzte Schwachsinn. Wenn ihnen gar nichts mehr einfiel, dann machten sie immer einen Veranstaltungskalender, warum, wußte der Himmel und wahrscheinlich nicht einmal der. Kein Mensch brauchte einen Veranstaltungskalender. Kein Mensch wollte diese abgeschmackten Kurznachrichten lesen. Aber wohin man auch blickte: Überall Veranstaltungskalender und Tips und Hinweise und verunglückte Kurzglossen.<para160>

Gerlach nahm die Füße vom Schreibtisch und stand auf. „Wo liegt eigentlich dieses Stück über die Erben der achtundsechziger?“ erkundigte er sich.

„Drüben bei Reibold auf dem Schreibtisch“, sagte Hanna. Sollst du das etwa betreuen?„

„Wie hast du das bloß erraten? Gibt es Bilder?“

„Vom Ullstein Bilderdienst.“

„Ach du lieber Himmel. Das soll ins Blatt?“

„Das soll ins Blatt. Und zwar so bald wie möglich.“„Wer hat es denn geschrieben?“

„Irgendein Schmidt-Schulze oder Schmidt-Sulze.“

„Doch nicht der aus Köln?“<para160>

Hanna nickte. Die Frage hätte er sich sparen können.<para160>

„Wenn jemand nach mir fragt: Ich nehm’ den Text mit nach Hause. Das muß man umschreiben.“

„Du Armer“, bedauerte ihn Hanna scheinheilig, „vergiß aber die Bildtexte nicht.“

Die Bildtexte, die Bildtexte. Die Bildtexte konnten sie sich sonstwohin hängen. Als Gerlach mit dem Achtundsechziger-Text und dem Layout unter dem Arm zur Bushaltestelle wanderte, wütete der Groll in ihm. Wie er dieses Vorspanngedichte haßte. Wie ihn diese unlesbaren Texte anödeten - es war kaum zu sagen. Redakteur, das war das allerletzte. Redakteur konnte jeder werden, der lesen und schreiben konnte. Nur durfte er dann nicht mehr lesen, was er wollte, und schreiben schon gar nicht. Stattdessen mußte er fremder Leut's Geschmiere umdichten.<para160>

Gerlach kickte einen Stein aus dem Weg. Er flog quer über die Straße und knallte in die Seitentür eines nagelneuen Sechszylinders. Das gab bestimmt eine häßliche Schlagstelle im Metalliclack. Gerlach legte einen Schritt zu. Hoffentlich hatte das keiner gesehen.

An der Bushaltestelle stand eine Handvoll müder Verkäuferinnen auf. Sie sahen alle nicht sehr glücklich aus. Wahrscheinlich warteten zu Hause ein Haufen ungebügelter Wäsche, die Schwiegermutter und ein übel gelauntes Kleinkind. An die Wand des Wartehäuschens war ein Plakat des deutschen Pelzinstitutes <para160>geklebt: „Soll denn allen alles gleich sein?“ fragte das Kürschnerhandwerk besorgt. „Ohne Extras? Wehren wir uns gegen den Trend zur Gleichmacherei!“

Das Pelzgeschäft schien in ernsten Schwierigkeiten zu stecken. „Pelzkauf ? Tiermord“, hatte jemand in roter Farbe über das Plakat gesprüht. Ja, die süßen kleinen Kuscheltierchen: Nichts konnte einen aufrechten Deutschen mehr erregen als der Massenmord an unschuldigen Nerzen. Das und die Hundescheiße auf den Bürgersteigen, das waren die beiden Themen, die die offentlichkeit erregten. Gerlach beschloß, seine miese Stimmung zu bekämpfen. Nach dem Anblick von Fritz und seiner Veteranenmannschaft war ihm heute nicht zumute. Er würde sich unter das Jungvolk mischen und den kämpferischen Geist der Jugend atmen, beschloß er. Es gab da eine Kneipe im Univiertel, die unbeirrbar an den Idealen vergangener Zeiten festhielt, als da waren: braune Häkellampen, ungewischte Tische, ostentativ zur Schau getragene Pullover aus kratziger Schafswolle und wackere Flugschriften aller Art. „Machtnix“ hieß der Laden. Er hätte längst unter Naturschutz gestellt gehört.

Der Bus kam, und Gerlach ließ den Verkäuferinnen höflich den Vortritt. Eine Bierreklame kam ihm in den Sinn: „Hart ist das Leben, doch härter sind die Männer, die es meistern.“ Vielleicht hatte er ja in der Werbung eine Chance. Sprüche zu klopfen, so in der Art wie „Zimbo ist kein Innenminister, sondern eine Wurst“, das traute er sich auch noch zu. „Seit ich meine neue Moulinette habe, macht mein Mann mir ganz tolle Komplimente“ - damit angelte man die kleinen, müden Verkäuferinnen. In Gerlachs Kopf zog es immer rabenschwärzer zusammen.<para160>

Am zoologischen Museum stieg er aus. Die fleißigen Studenten zählten jetzt noch die Fliegenbeine, die faulen saßen schon beim Bier. Im Machtnix saßen die, die das Fliegenbeinzählen ganz aufgegeben hatten. Gerlach war lange nicht mehr hier gewesen. Die Gegend hatte sich verändert. Wo früher Abbruchhäuser gestanden hatten, in denen Fachschaftsräte Streikstragien und Kampagnen zur Rettung der Fledermäuse entwickelten, war jetzt ein gläserner Laborpalast hochgezogen worden. Hinter hellerleuchteten Scheiben konnte er Menschen in weißen Kitteln erkennen, die an irgendwelchen Apparaten herumfummelten. Ein Abluftfilter stieß fauchend Luft aus. Die Wissenschaft kannte kein Pardon. Biotechniker bastelten an neuen, nie dagewesenen Molekülen, mit denen sie die Menschheit vor Krankheit und Hungersnot und nebenbei ihre überfällige Promotion retten konnten. Auch sie traf gelegentlich der Volkszorn. Neben den Eingang hatte ein zorniger Mensch das Anarchisten-A gemalt. „Hau wech den Scheiß“, hatte ein anderer danebengeschrieben. Wie die Wissenschaftler da in vollem Scheinwerferlicht ihre Experimente durchzogen, das fand Gerlach schon bewundernswert.<para160>

Das Machtnix war klein, schmuddelig und gut besucht für diese frühe Stunde. Gerlach sah sich nach einem Eckplatz um. Dort hockte ein dürrer Mensch mit Halbglatze und langen, zotteligen Strähnen, die ihm vom Hinterkopf auf den Kragen seines rotbraun karierten Hemdes herunterhingen. Darüber trutg er eine speckige schwarze Lederweste.<para160>

„Grüß dich Ralf“, sagte Gerlach. Ralf blickte von einem Stapel wichtiger Flugblätter hoch.<para160>

„Na sowas“, sagte er. „Traust du dich überhaupt noch hierher?“

Gerlach zeigte auf den freien Platz am Tisch. „Darf ich mich setzen? Wieso soll ich mich nicht hierher trauen?“

„Du gehörst eindeutig zum Schweinesystem“, antwortete Ralf. „Aber ich will mal nicht so sein. du kannst mir eine Altbierbowle ausgeben.“

„Altbierbowle?“

„Schmeckt ganz toll. Erdbeeren aus der Dose, mit Altbier übergießen und lange stehen lassen.“

„Na, wenn du meinst.“ Gerlach blickte sich um. Alternative Gaststätten erkannte man daran, daß es keine Bedienung gab. Wenn doch, dann war sie hoffnungslos überfordert und hatte obendrein etwas besseres zu tun, als die Tische leer zu räumen. Gerlach erhob sich brav und trug drei Kaffeetassen und zum Tresen. Dort wartete er geduldig, bis das Mädchen ein paar Gläser im Waschbecken zerbrochen, eine große Altbierbowle präpariert und mit einer gewissen Verächtlichkeit im Blick ein Glas französischen Landwein eingegossen hatte. Ohne zu kleckern busierte er das zurück an den Tisch zu Ralf.<para160>

Ralf spielte mit der Kerze herum, die in einer alten, strohumwickelten, über und über mit Wachs bekleckerten Chiantiflasche steckte. Gerlach hatte so etwas seit zwanzig Jahren nicht mehr gesehen -- strohumwickelte Chiantiflaschen waren wegen Gefährdung der Volksgesundheit aus dem Verkehr gezogen worden. Aber man konnte ja nie wissen.<para160>

Gerlach schob ihm die Altbierbowle hin. „Machst du immer noch dieses Stadtmagazin?“

Ralf fischte mit den Fingern eine dunkelbraune, klebrige Erdbeere aus dem Glas. „Und du, bist du immer noch bei diesem feudalistischen Unternehmen?“

Die Erdbeere verschwand in seinem Mund. Ralf mußte dringend zum Zahnarzt. Nichts als schwarze Löcher und ebenso schwarze Plomben. „Was soll ich denn sonst machen? Außer mir macht es ja keiner.“

Ralf gab das Stadtmagazin heraus. Es war ein heroisches Unterfangen, jeden Monat so ein Blatt selbst zu tippen, zu drucken und zu verteilen. Aber es war das einzige Presseerzeugnis in der Stadt, außer der Zeitung. Seine große Zeit hatte das Stadtmagazin anläßlich eines Sexualskandals in den Siebzigern gehabt. Ein stadtbekannter Neurotiker hatte sich seitenweise über seine Phantasien beim Besuch einer Peepshow ausgelassen, was diverse Frauengruppen zum Anlaß genommen hatten, Ralf zum Staatsfeind Nummer eins zu erklären. Ralf hatte das Blatt mit einem Aufkleber „garantiert frauendfeindlich“ versehen und vor der Mensa vertrieben. Es hatte Rangeleien gegeben, und die Auflage war vorübergehend auf fünftausend geklettert.<para160>

„Warum ziehst du das Ganze nicht ein bißchen professioneller auf?“ wollte Gerlach wissen.<para160>

„Professioneller“, höhnte Ralf. Er nahm einen langen Schluck Altbier. „Professioneller. Ha!“

Gerlach jagte in seinem Glas einem Stück Korken nach. „Ich meine ja nur. Die Marktwirtschaft hat gesiegt. Zeitungen brauchen Anzeigen. Ohne Anzeigen keine Zeitung. Keine Zeitung ohne Anzeigen. So einfach ist das.“

„Und wie soll ich deiner Meinung nach Anzeigen bekommen in dieser Stadt, kannst du mir das bitte mal sagen?“ Ralf klang verbittert. „Wenn ich von der Frauenbuchhandlung eine Anzeige nehme, dann muß ich das umsonst machen. Wenn der Körnerladen annonciert, dann gibt das fünfzig Mark. Aber nur so lange, wie ich biodynamisches Futter lobe und preise. Wenn die Christel vom Glasladen eine Anzeige schaltet, dann weiß ich nie, ob ich das Geld jemals sehe. Das sind meine Anzeigen. Die anderen gehen an die Zeitung. Alle. Ohne Ausnahme.“

Gerlach setzte entschlossen den Rotwein an die Lippen. Er schmeckte sauer. Wahrscheinlich aus biologischem Anbau, mit Hühnermist gedüngt. Ein Mädchen saß am Fenster und blickte durch ihre Brille herüber. Offenbar starrte sie schon eine Weile in diese Richtung. Ihr Mund stand halb offen, und als Gerlach zurücksah, merkte sie das und klappte ihn schnell wieder zu. Verschämt senkte sie ihren Blick in ihre Klausurunterlagen. „Ich meine, es gibt doch auch bei der Zeitung ein paar Unzufriedene. Hast du nicht mal versucht, einen aus der Anzeigenabteilung abzuwerben? Oder einen, der dir Tips gibt? Es gibt sogar unzufriedene Anzeigenkunden.“Ralf holte tief Luft: „Diese Mumien bei der Zeitung da, das ist ungeheuerlich, was die sich fürchten, wenn einer wie ich ein kleines Magazin macht, dann schwingen die schon das Kruzifix.“ Er fuchtelte wild mit den Armen über den Tisch. Gerlach hielt ein wachsames Auge auf Altbierbowle und Landwein. „Niemand darf mit mir reden, niemand darf überhaupt nur dran denken, etwas andres zu machen. Als wenn ich der Gottseibeiuns wäre.“<para160>

Ruckartig stieß Ralfs Hand zum Glas und wollte es umwerfen, aber Gerlach hielt es rechtzeitig fest. „Das verstehe ich nicht. Was kannst du ihnen schon schaden?“

„Gar nichts. Aber das ist eine Frage der Ideologie.“

Ralf senkte seine Stimme. „Wenn du mir noch einen ausgibst, erzähle ich dir was.“

„Immer“, sagte Gerlach. Ralf stand auf, und stellte sich am Tresen an. Gerlach betrachtete das Mädchen am Fenster. Sie hatte ein schmales, blasses Gesicht und eine Hakennase, auf der sie eine Eulenbrille trug. Ihre Schultern hielt sie gesenkt. Sicher hätte er stundenlang mit ihr reden können, und am Ende hätten sie sich verloren die Hände gestreichelt, in den französischen Landwein geweint und sich gegenseitig ihr Leid geklagt. Jeder stirbt für sich allein, dachte Gerlach. Vielleicht hatte sie einen Großvaterkomplex. Das war nun wieder zynisch.<para160>

Ralf schwankte heran mit den Getränken. Er rückte ganz nahe an Gerlach heran und sagte: „Paß auf!“

„Folgendermaßen“, unterbrach ihn Gerlach, „Die Sache ist die: Genossen, so geht das nicht! Das war immer die offizielle Einleitung.“

„Hör auf, mich zu verarschen. Ich habe da etwas herausgefunden, über den Mord an der Eschenbacher.“

Gerlach starrte Ralf an.<para160>

„Sie hat keine Erben. Die Zeitung fällt an eine Familie Wolff. Und jetzt halt dich fest: Denen hat die Zeitung schon vor dem Krieg gehört.“

„Da schau her.“

„Das Beste kommt noch. Ich habe herausbekommen, daß der alte Wolff ein Nazi war. Angeblich sogar ein hoher Nazi. Ist das nichts?“

Gerlach kippte einen großen Schluck Rotwein. Er setzte das Glas wieder hin. „Nein, das ist nichts. Das bedeutet heute nichts mehr. Die alten Nazis sind alle tot. Biologisch entnazifiziert. Das interessiert keine Sau mehr. Wir sind alle Demokraten. Es lebe die freie Marktwirtschaft!“ Er hob sein Glas zur Decke. „Auf die Familie Wolff. Einigkeit und Recht und Freiheit!“

An den Nachbartischen drehten sich die Köpfe. Das Mädchen am Fenster blickte fragend herüber. Ralf richtete sich auf. „Sag mal, bist du betrunken?“

„Nein, ist schon gut. Ich hol’ uns noch'ne Runde.“<para160>

Er machte, daß er zum Tresen kam. „Bitte nochmal dasselbe“. Die Sprache schien ihm zu entgleisen. Um die Mundwinkel herum verspürte er ein nervöses Zucken. Der Nebenmann an der Theke stieß ihm den Ellenbogen in die Seite. „Eh, is ja gut, Alter. Mach hier kein Wind. Rech dich ab. Halblang, eh.“<para160>Gerlach war irritiert. Irgendwie hatte er gegen die guten Sitten verstoßen.<para160>

„Komm, tu hier was in die Dose. Is für die Genossen. Na los, tu was rein.“ Gerlach sah den Mann zweifelnd an. „Zusammenlegung jetzt?“

„Ja eh, für den Kampf in den Knästen. Tu rein.“

Gerlach reichte der Bedienung einen Zehnmarkschein über die Theke und ließ das Wechselgeld wortlos in den Schlitz einer Metalldose fallen.<para160>

„Hier, lies dir durch, weißte Bescheid.“

Ralf sah ihm besorgt entgegen. „Willst du dich hier unbeliebt machen?“

„Ach was. Ich bin nur müde. Hau wech den Scheiß.“

„Na denn.“ Ralf schnappte mit den Zähnen nach den Erdbeeren, die alle obenauf schwammen. Soweit war alles wieder paletti. Zahle Ablaß, und deine Sünden sind vergeben.<para160>

„Dir ist das vielleicht egal, aber die Wolffs sind Agenten des Imperialismus. Sie verkaufen Waffen an die Contras. Sind in Kolumbien im Geschäft. Handlanger der Kontrarevolution. Schon immer gewesen.“

Gelüftet wurde im Machtnix nie. Die Luft war zum Schneiden. Gerlach nahm einen Schluck Rotwein. Garantiert das schlimmste, was er tun konnte. Wie gerne hätte er jetzt am Fenster gesessen und Händchen gehalten. „Kannst du das beweisen?“ fragte er.

„Beweisen, beweisen. Was braucht man groß zu beweisen. Ich sage dir, es ist so. Üble Schieber. Und jetzt gehört ihnen die Zeitung.“

„Ich denke, da wird so eine Stiftung gegründet.“

„Alles Tarnung, sage ich. Warte mal auf meine nächste Nummer. Ich mach'sie fertig.“ Ralfs Haarkranz flatterte erregt um seinen Kopf. „Mit der Geschichte komm ich ganz groß raus.“

Gerlach kippte den Rotwein hinunter. „Ralf mach's gut“, sagte er, „hat mich gefreut. Ich bin ein alter Mann, ich komme da nicht mehr mit.“

„Du bist wirklich betrunken“, stellte Ralf fest. „Du verträgst auch nix mehr. Laß'uns ins Lindeneck gehen. Runde Pool spielen. Los komm.“

Gerlach stand auf. „Also wirklich, ganz bestimmt nicht. Ich muß morgen früh raus. Ich ruf’ dich an.“

„Machst du sowieso nicht“, rief Ralf hinter ihm her, „Du bist völlig korrumpiert, weißt du das?“

Gerlach drehte sich an der Tür um. „Weiß ich“, sagte er, „ist mir völlig klar.“

Draußen stand ein Fahrrad an einer Laterne, und ein Mädchen pumpte Luft in den Hinterreifen. Gerlach schwankte. „Darf ich?“ fragte er. Sie richtete sich auf. Es war das Mädchen vom Fenster. „Bitte“, sagte sie, „wenn du unbedingt willst.“

Gerlach hockte sich vor das Rad und wollte die Luftpumpe ansetzen. Dabei verlor er die Balance. Schon saß er auf dem kalten Trottoir. „Ist dir nicht gut?“ wollte das Mädchen wissen. „Dochdoch“, murmelte Gerlach, „gehtschon, geht, ich bin Radfahrexperte.“ Die Straßenlampe spendete unfreundliches Licht, und da saß er nun auf dem Pflaster und bekam den Hintern nicht hoch. Plötzlich mußte er lachen. Es war schon zu komisch. Er blickte hoch. Das Mädchen blickte runter. „Komm, wir schieben das Ding“, sagte Gerlach, und mußte immer weiter lachen, „ist doch vollkommen egal.“

Sie half ihm hoch. „Bist du betrunken?“<para160>

Alle Welt war um ihn besorgt. Er war nicht wirklich betrunken. Nur egal war es ihm, vollkommen egal. „Ich heiße Gerlach“, sagte er, „wie heißt du?“

„Susanne“, sagte sie, „ich habe dich hier noch nie gesehen.“

<Kapitel XXIV>

Gerlach stand glücklich wieder auf den Beinen. Er tastete in seinen Taschen. Verdammt, jetzt hatte er das Manuskript über die Erben der Achtundsechziger verloren. Das mochte einen schönen Aufstand geben. „Gehen wir zu dir oder gehen wir zu mir?“ erkundigte er sich. Die dümmste Frage, die es gab.

„Wie kommst du darauf, daß wir irgendwohin gehen?“ Susanne sah ihn schräg an.<para160>

„Gehen wir nicht?“

„Weit kommst du nicht, in Deinem Zustand.“

Hoffentlich hielt sie ihm jetzt keinen Vortrag. Sie stand da mit dem Fahrrad an der Hand und schien zu überlegen. „Ich wohne hier um die Ecke. Aber bilde dir nichts ein.“

Sie schoben los. Gerlach stolperte ein paar Mal beim Gehen, aber es kam ihm vor, als wenn er es aus Absicht täte, nur um zu beweisen, daß er für sein Handeln nicht verantwortlich gemacht werden konnte. Von der Seite betrachtet hatte sie ein interessantes Profil.<para160>

Fünf Minuten später standen sie in einem Hausflur, der mit Rädern vollgestellt war wie eine Fahrradhandlung. Die Briefkästen trugen Aufkleber und eine verwirrende Anzahl von Namen. Manche waren aufgebrochen, und die Türchen hingen verbeult in ihren Scharnieren.<para160>

„Also paß auf“, sagte das Mädchen. Gerlach nickte ergeben.<para160>

„Ich mach dir oben einen Tee, und dann rufen wir dir ein Taxi.“

Die heilige Johanna des Univiertels. Las angetrunkene ältere Herren auf, und brachte sie wieder auf die rechte Bahn. Gerlach stieg hinter ihr her und die Treppe hinauf. Natürlich bis unter das Dach. Sie schloß auf. Selbst hier oben stand noch ein Fahrrad.<para160>

„Mach nicht so viel Krach“, sagte sie, „Die anderen schlafen schon.“ Es gab sie immer noch, die gute alte Studentenwohngemeinschaft. Hochbetten in jedem Zimmer, und jede Menge Stereoanlagen. In der Küche machte sie sich am Gasherd zu schaffen. Gerlach setzte sich. Es gab einen Holztisch, einen Kühlschrank, einen Stapel schmutziges Geschirr. Selbst der Abwaschplan war vorhanden. Danach wohnten hier eine Karin, ein Paul, Susanne und eine Bärbel. Wenn sie den Kerl rauswarfen, hatten sie eine Frauen-WG. Im Licht der Küchenlampe, die tief über dem Holztisch hing, wirkte Susanne weniger eulenhaft als vorhin in der Kneipe. Sie tunkte den braunen Teesockenschlauch in eine geblümte Kanne und setzte sich gegenüber an den Tisch.<para160>

„Wieso hast du mich einfach so mitgenommen?“ wollte Gerlach wissen.<para160>

„Ich weiß nicht“, sagte sie, „nur so. Ich habe ein bißchen von Eurem Gespräch mitbekommen. Woher kennst du Ralf?“

„Das ist lange her.“

„Bist du bei der Zeitung?“

„Nein. Sehe ich so aus?“

Sie zog den Teestrumpf aus der Kanne und goß zwei Henkelbecher mit Tee voll. Gerlach betrachtete das Getränk. Es schien ziemlich dünn zu sein. „Habt ihr hier zufällig etwas Rum?“ fragte er.

„Rum?“

„Ja, aber nur wenn ihr habt.“

„Du bist betrunken.“

„Nein, aber ich wäre es gern.“

Sie stand auf und kam um den Tisch herum. Knabenhaft schmal war sie gerade nicht. Gerlach blickte unbefangen in Richtung Kühlschrank. Die weiße Farbe blätterte. Susanne kramte in der Art Speisekammer und fand eine halbvolle Flasche Verschnitt. Sie beugte sich von hinten über seine Schulter. „Vielen Dank“, sagte er.<para160>

Sie setzte sich wieder hin. Sie sagte nichts. Gerlach goß sich großzügig Rum in den Becher und hielt die Flasche über den Tisch. Sie nickte.<para160>

Nachts in einer Wohngemeinschaftsküche zu sitzen, heißen Tee mit Rum zu trinken und absolut nicht durchzublicken - das kam Gerlach bekannt vor. Susanne griff in eine Dose und warf ein paar Kandisstücke in ihren Becher. Der Kandis knisterte.<para160>

„Studierst du?“ fragte er.

Sie nickte wieder: „Geschichte und Politik. Sechstes Semester.“ Gerlach mußte an staubige Institutsbibliotheken, Proseminare und strickende Studenten denken. Das Münzrecht unter Karl dem Großen und ähnlich aufregende Veranstaltungen. Zwei Drittel schliefen, ein Drittel hatten keine Ahnung, um was es überhaupt ging.<para160>

„Und du?“

„Ich schreibe“, sagte Gerlach, „jedenfalls wenn man mich läßt.“

„Was schreibst du?“

„Alles. Außer Gedichten.“<para160>„Hast du schon mal was veröffentlicht?“

Gerlach dachte an seine Berichte über Freiwillige Feuerwehren und Angelwettbewerbe. „Nicht viel“, sagte er.

„Ich würde auch gern schreiben“, sagte Susanne. „Ist das schwer?“

„Eigentlich nicht. Man muß nur anfangen. Den ersten Satz und dann immer so weiter.“

„Hört sich an wie stricken.“

„Genauso.“

Wieder saßen sie eine Weile stumm da. Der Tee wurde allmählich lauwarm. Gerlach räusperte sich. „Ich glaube, ich bestelle dann mal das Taxi.“

Susanne sah in ihren Becher. Dann sah sie ihn an. „Wenn du möchtest, kannst du heute nacht hierbleiben.“

„Möchtes du das?“

„Sonst würde ich dir das kaum vorschlagen, oder?“ Die Logik war zwingend. In Gerlach meldete sich ein kleiner hämischer Zwerg zu Wort. Das sieht dir ähnlich, lästerte der, eben noch die ganz große amerikanische Liebe, und schon ziehst du mit der erstbesten Studentin ins Bett. Halt's Maul, schimpfte eine zweite Stimme, wen geht das bitteschön etwas an. Und ein alter Graubart gab auch noch seinen Senf dazu: Drei Dinge darfst du niemals tun: Einen Rest Wein in der Flasche lassen, einen Grand Hand mit Vieren verlieren und einer schönen Frau einen Kuß verweigern. Der Zwerg wieherte laut. Es schien die reinste Kakophonie da drinnen zu herrschen.<para160>

Susanne stand auf. „Laß uns rüber in mein Zimmer gehen“, sagte sie.<para160>

„Ich wollte gerade das gleiche vorschlagen“, meinte Gerlach.<para160>

Ihr Zimmer ging zum Hinterhof hinaus. Auf den ersten Blick schien es ein Gewächshaus zu sein. Pflanzentöpfe standen auf den Fensterbänken, auf dem Boden, hingen an der Wand, und übrall rankten, schlangen und ringelten sich grüne Triebe. Neben der Heizung wuchsen vier auffällig gesund aussehende, buschige Stauden. Gerlach nahm ein Blatt zwischen die Finger und rieb daran. „Nicht schlecht“, sagte er.<para160>

„Ich hab'noch ein bißchen was vom letzten Jahr“, sagte Susanne. „Willst du was?“

Immer rein in die hohle Birne, dachte Gerlach. „Schaden kann es nicht“, sagte er. Er blieb am Fenster stehen und sah hinaus. Da stand eine kahle Pappel.<para160>

„Hier“, sagte sie und hielt ihm eine chinesische Lackdose hin, „kannst du drehen?“

„Kann ich“, sagte Gerlach und drehte sich um. Er hob die Hand und fragte: „Darf ich?“ Sie nickte. Er nahm ihr die Brille ab und küßte vorsichtig ihre Nase. Es war die Stelle, die am einfachsten zu erreichen war. Sie schien keine Einwände zu haben. Er gab ihr die Brille zurück und holte Tabak und Papier hervor. Mit einigem Geschick gelang es ihm, die getrockneten Krümel zu verteilen. Er drehte das Ganze zusammen, leckte die Gummierung an und klebte die Zigarette zu. Der erste Zug brannte wie der Inhalt einer Roßhaarmatratze. Man mußte ihn tief in die Lunge ziehen und so lange dort lassen, wie es ging. Das war der ganze Trick. Sachter Schwindel erfaßte Gerlach. Sie reichte ihm den glimmenden Stengel zurück. Der zweite Zug war schon einfacher.<para160>

„Ich leg'uns Musik auf“, sagte sie. Sie kniete sich vor einen Plattenspieler, der auf dem Boden stand, und wühlte in einem Haufen Schallplatten. Die Nadel setzte auf, es knackte und knisterte, und dann hörte man leise eine uralte Melodie zum Mitsummen, ein Tenorsaxophon, irgendein Stück von Stan Getz. Gerlach kam es vor, als vibrierte sein Zwerchfell.<para160>

Susanne richtete sich wieder auf und kam auf ihn zu. Er legte die Arme um sie, und sie begannen zu tanzen, ein Schritt links, ein Schritt rechts, ganz langsam und leise. Er spürte durch den Stoff des Pullovers hindurch ihre Brust. Weiter unten spürte er noch etwas, das mehr ihn selbst betraf. Wenn sie es auch spürte, dann waren keine Mißverständnisse mehr möglich.<para160>

„When she walks its like a samba“, summte eine Stimme. Gerlach kam es so vor, als würde das Zimmer größer und größer. Er hielt seine Hände auf ihren Schultern und sah ihr in die Augen. Schau mir in die Augen, wie kitschig. Ohne Brille hatte sie einen aufregenden Silberblick. Die Kerze warf groteske Schatten an die Wand. Ihre Pupillen glänzten. Gerlach war fasziniert.<para160>

Susanne machte einen Schritt zurück. Sie lächelte, wie man aben lächelt, wenn man selbst angebautes Gras geraucht hat. Dann zog sie sich mit einer einzigen Bewegung den Pullover über den Kopf. Gerlach fand eine alte These bestätigt: Frauen zogen sich Pullover anders über den Kopf als Männer. Sie griffen über Kreuz.<para160>

Unter dem rauhen, etwas kratzigen Pullover trug sie ein <para160> Unterhemd aus flauschigem Angora und darunter überhaupt nichts mehr. Es saß sehr eng und war erstaunlich weit ausgeschnitten. Ihre Augen glänzten immer noch. Gerlach wollte gar nicht wissen, was seine Augen gerade machten. Die Musik wollte kein Ende nehmen.

Susanne griff nach seiner rechten Hand und legte sie links auf das Angoraunterhemd. Es war sensationell. So ähnlich mußten sich die Assasinen im Haschischhimmel fühlen. Frauen hatten im Laufe der Evolution einfach besser abgeschnitten. Gerlach fing an, seine Finger auf Wanderschaft zu schicken. So ein Unterhemd war ganz schön lang, und bis er aus ihrer Hose heraus hatte, mußte er ein paar Mal ziehen. Sie hatte nichts dagegen. Schließlich stand sie ganz ohne Angorawolle vor ihm. Ein Satz fiel ihm ein, den ein kluger Kopf einmal geschrieben hatte: Selbst der flüchtigste Anblick einer weiblichen Brust ist imstande, ein Gefühl von Vergänglichkeit heraufzubeschwören. Genau genommen waren es sogar zwei, mit einem dramatischen Schlagschatten in der Mitte, hervorgerufen durch den Kerzenschein. Die Brustwarzen standen unbekümmert hervor, und Gerlach fühlte sich in seiner Kleidung wie ein gepanzerter, spätgotischer Ritter, auf jeden Fall unbehaglich.<para160>

„Komm her“, sagte sie, und zog ihn vom Fenster fort. Außer Grünpflanzen und Plattenspieler enthielt ihr Zimmer nicht viel mehr als einen Schreibtisch und eine große, mit schwarzer Bettwäsche bezogene Matratze, die am Boden lag. Diese Studentenbräuche würden nie aussterben, dachte er. In Nullkommanichts war sie aus ihren Hosen heraus und lag auf dem schwarzen Bett, keine Spur verschämt, und meilenweit entfernt von jener grauen Maus, für die er sie im Machtnix gehalten hatte. Verlegen fummelte Gerlach an seinen Kleidern herum. Er kam sich vor ein ein Tölpel. Einen vergleichbaren Anblick konnte er ihr jedenfalls nicht bieten. Außerdem war es ihm peinlich, so über ihr zu stehen.<para160>

„Setz dich doch“, sagte Susanne. Im Sitzen war es schon weniger aufdringlich. Trotzdem dauerte es eine Weile, bis Gerlach sich endlich von seinen Schuhen und seinen Jeans und dem ganzen anderen Kram befreit hatte. Wenigstens trug er weiße Shorts. Soweit stimmte die Kleiderordnung.

Stan Getz war am Ende angelangt, und es herrschte absolute Stille im Raum. Susanne zog ihn zu sich herab. Gerlach küßte sie, diesmal auf den Mund. Sie hielt eine Hand hinter seinem Nacken, und erkundete mit der anderen die Beschaffenheit seiner Unterhose. Da war wenig genug zu verstecken. Er wanderte mit dem Mund etwas tiefer und küßte ihren Hals. Es schien ihr zu gefallen. Gerlach wanderte noch tiefer. Auch dagegen erhob sie keine Einwände. Er wanderte wieder nach oben und stützte sich mit dem Ellenbogen auf. „Was machen wir jetzt?“

„Du kannst Fragen stellen“, sagte sie.<para160>

„Ich meine, wie ist das, einfach so?“

„Natürlich nicht“, lächelte sie. „Wie alt bist du eigentlich?“

„Ziemlich alt“, gab Gerlach zu.<para160>

„Es kann auch so sehr schön sein“, sagte sie. Gerlach kam sich uralt vor. „Ich drehe mal die Platte um“, sagte er mutig. Mit einer ausgewachsenen Erektion quer durch ein fremdes Zimmer zu gehen, dazu gehörte ein gewisser Mut. Aber die Zeiten, in denen man damit kleine Mädchen erschreckte, waren vorbei. Er schaffte es ohne größeres Malheur. Als er zurückkam, hatte sie sich auf den Bauch gedreht.<para160>

„Und jetzt?“ fragte er.

„Ich fände es toll, wenn du mir den Rücken massierst. Da steht eine kleine Flasche mit ol. Machst du das, bitte?“<para160>

„Ich bin kein besonders geübter Masseur.“

„Das macht nichts. du wirst es schon richtig machen.“

Gerlach griff gehorsam nach der Flasche. Massageöl von Weleda.<para160>

Er verrieb ein paar Tropfen zwischen den Händen und begann, ihre Schultern einzuölen. Es fühlte sich großartig an. Stan Getz blies in sein Saxophon. Die Pflanzen sahen aufmerksam zu. Bildete er sich das nur ein, oder raschelten die Hanfstauden mit den Blättern?

Susannes Rücken dehnte sich unter seinen Fingern. Früher im Freibad war das die äußerste Form der Annäherung gewesen: Seiner Angebeteten das Sonnenöl auf den Rücken zu reiben. Gerlach arbeitete voller Hingebung. „Hm“, machte Susanne, „weiter unten.“

Pflichtschuldig machte er sich auf den Weg. Einer bestimmten Stelle am Oberschenkel widmete er besonders viel Aufmerksamkeit. Sie brummte zustimmend. Als sie von Hals bis Fuß eingeölt war, forderte er sie auf, sich umzudrehen. Das gleiche Spiel von vorne war etwas kitzliger. Er brachte es mit Anstand hinter sich.<para160>

Susanne streckte sich wie eine Katze. „Jetzt du“, schlug sie vor. Gerlach legte sich gehorsam auf den Bauch, was gar nicht so einfach war. Die Bettlaken würde sie anschleßend wechseln müssen, so viel stand fest. Die Haut bekam durch das ol etwas unpersönliches. Susanne war mit seinen Füßen beschäftigt. Astrud Gilberto sang. „Soll ich mich wirklich umdrehen“, fragte er.

„Na klar, das ist doch der Witz dabei“, sagte sie. Gerlach drehte sich auf den Rücken. Sie schüttelte etwas ol aus der Flasche. „Entspann dich“, sagte sie. Das war leicht gesagt. Er konnte es sich nicht verkneifen, sie aus halbgeöffneten Augen zu betrachten. Sie saß über ihm, und ihre bewunderungswürdige Brust schwang im Rhythmus ihrer Bewegungen mit. Gerlach liebte sie.<para160>

Mehr schläfrig als entspannt lag er später neben ihr und streichelte ihren Bauch. „Wer hätte das gedacht“, murmelte er.<para160>

„Mach dir keine Sorgen“, sagte sie.

„Ich mag dich sehr gern, weiß du das?“ Das war der flaueste aller Sprüche.<para160>

„Ich dich doch auch.“

„Könnten wir noch etwas von dem Zeug da rauchen?“

„Bedien dich.“

Gerlach stand auf und trug die Lackdose zum Bett. Nackt kam er sich jetzt weniger deplaziert vor. Er drehte eine zweite Zigarette und zündete sie an. Beim zweiten Mal war es mehr wie eine Anästhesie. Susanne zog einmal und winkte dann ab. „Ich muß früh raus.“

„Das sagen alle“, sagte Gerlach.

„Es stimmt aber. Es ist nett mit dir.“

Gerlach stupste die Kippe aus. „Laß uns schlafen.“

Er stieg zu ihr unter die Decke. Sie war warm, sie war jung, und sie war ihm fremd. Er schmiegte sich eng an ihren Rücken und streichelte ihren Oberarm. Nach einer Weile fand er eine andere Stelle, und sie verlagerte ihre Haltung. Ihr Atem beschleunigte sich. beschleunigte, war es ihm, als ob die Grünpflanzen den Atem anhielten. Dann spürte er, wie sie zitterte. Einen Moment lang war die Welt verschwunden. Die Müdigkeit kam. Beide schliefen ein.

Gerlach fuhr mit einem schnellen Wagen durch Frankreich. Es war Frankreich, so viel war klar. Eine Baumallee streckte sich bis in die Ferne. Alte Alleebäume, die der ADA? schon längst hätte abholzen lassen, wegen Gefährdung des Straßenverkehrs. Die deutsche Grenze war nicht weit. Keine Spur von diesen französischen Mehrzweckbauten. Gerlach bog mit annähernd einhundertzwanzig in das nächste Dorf ein. Ein Straßendorf. Voll von westfälischen Bauernhöfen, Fachwerk unter alten Eichen. Keine Menschenseele war zu sehen. Keine Hunde. Keine Kühe. Nicht auszudenken, wenn ihm jetzt ein Hund vor den Kühler lief. Die Dorfstraße wurde immer kurvenreicher. Gerlach versuchte, den Fuß vom Gaspedal zu bekommen. Keine Chance. Die Höfe und Bäume rasten an ihm vorbei. Am Dorfausgang kam eine Ausweichstelle, irgendein Kiesweg. Gerlach lenkte den Wagen scharf hinein und stieg auf die Bremse. Schlingernd kam er zum Stehen. Geschafft. Wieso waren das hier westfälische Höfe mitten in Frankreich? Die Uhr zeigte halb zwei. Zeit für ein Mittagessen. Die Grenze konnte nicht mehr weit sein. Rechter Hand lag ein Wald. Drei Waldarbeiter kamen den Weg entlang, zwei im blauen Drillich und mit Motorsäge und gelber Gitane im Mund, der dritte im feinen Cordsamt und weißem Schal um den Hals, wahrscheinlich der Waldbesitzer. Gerlach stieß die rechte Beifahrertür auf. Es roch nach Pilzen und frisch geschlagenem Holz. „Ho“, rief der mit dem Schal, „laßt uns vespern!“ Sehr gut, dachte Gerlach, hier spricht man westfälisch. Guter Mann, war er versucht zu fragen, wo gibt es hier ein anständiges Mahl? Aber wie er da saß, in seinem fremden Wagen, die rechte Tür offen, war er nicht die Zerrfigur eines Touristen, ein Eindringling in dieser waldreichen Gegend, dieser in Jahrzehnten gewachsenen Dorfgemeinschaft? Ab zogen die drei auf einem Holzfälletraktor, ohne daß sie einen Fingerzeig gegeben hätten. Gerlach machte sich auf den Weg.

Steil ging die Straße nach oben -- kein Auto, geschweige denn ein Mensch kam ihm entgegen. Nach schätzungsweise zwei Kilometern erreichte er den Paß. Von weitem schon erkannte er das gutbürgerliche Ausflugslokal. Ein Schild wies den Weg: „Hier gutbürgerliche Küche“. Das Lokal war geschlossen. Hinter den erleuchteten Scheiben tanzten Leute. Es war eine Konfirmationsgesellschaft, alle in ihren gutbürgerliche dunkelblauen Konfirmationsanzügen. Gerlach sah an sich herunter. Er hatte einen dunkelgrauen Anzug an, schwarze Schuhe, weißes Hemd und aus unerfindlichen Gründen eine weiße Krawatte. Etwas overdressed für diese Gegend, zweifellos. Vielleicht konnte er hier eine Limonade bekommen. Er ging hinein. Eine mürrische Bedienung auf Birkenholzsandalen kam ihm entgegen. „Sie wünschen?“ Gerlach spähte in den Gastraum. Dort ging es hoch her. „Eine Limo?“

„Tut mir leid. Geschlossene Gesellschaft.“<para160>

Ganze Platten mit grünen Erbsen wurden vorbeigetragen. Na, dann nicht, dacht Gerlach, und steuerte wieder zum Ausgang. Der Abstieg war weniger beschwerlich. Erst auf seinem Hemd, dann auf seiner dunkelgrauen Hose fand er Spuren eines moosgrünen Grases. Verdammte Scheiße, fluchte er vor sich hin. Er bürstete mit dem Ärmel, und der grüne Staub schien sich zu lösen. Die drei aus dem Wald kamen ihm entgegen und hatten sich umgezogen. Sie trugen alle eine fröhliche blaue Kluft. Fahrende Gesellen. „Wo gibts hier denn was zu essen?“ wollte Gerlach wissen.

Der Anführer musterte ihn. „Zu essen gibt es da, wo die Lastwagen halten“, sagte er, „an der Autobahntankstelle Seesen, zum Beispiel.“

du Arschloch, dachte Gerlach, und wachte auf. Eine gelbe Wintersonne schien in ein fremdes Zimmer. Sein Kopf schmerzte, und seine Kehle brannte wie ein Hochofen.<para160>

<Kapitel XXV>

Gerlach richtete sich auf. Das war gar nicht so einfach. Er sah sich um. Viele Grünpflanzen. Keine Susanne. Ein Zettel lag neben der Matratze am Boden: „Bin zur Uni. Ruf mal an. Bis dann.“ Sie war kein Freund langer Sätze. Wie spät es war, konnte Gerlach nur ahnen. Auf jeden Fall zu spät. Er stieg in seine Hosen und band sich mühsam die Schuhe zu. Die Knöpfe am Hemd waren auch noch dran. Er hätte jetzt viel für eine Zahnbürste gegeben.

Draußen auf dem langen Flur fand er ein Telephon. Er hatte genau zwei Nummern im Kopf. Die eine gehörte der Zeitansage. „Beim nächsten Ton ist es zehn Uhr, dreiunddreißig Minuten und zwanzig Sekunden, tüt“ sagte sie. Gerlach wählte die andere Nummer. Es war seine eigene Bürodurchwahl. Wenn die Kempinski nicht wieder ihren unleidlichen Tag hatte, mußte sie eigentlich drangehen. Da war sie schon.

„Wo stecken Sie denn?“ wollte sie unnötigerweise wissen.

„Mir ist schlecht“, sagte Gerlach, und das war nicht gelogen. „Ich kann heute nicht kommen. Sagen Sie dem Chef, die Geschichte ist am Montag fertig.“

„Welche Geschichte?“

„Diese Achtundsechziger da, dieses Ding vom Reibold.“

„Hat das so lange Zeit?“

Was mischt die sich da wieder rein, ärgerte er sich.

„Bis Montag.“

„Gute Besserung“, sagte sie zickig und hängte auf.<para160>

Gerlach hatte keine Lust, irgendeinem Paul oder einer Bärbel zu begegnen. Er schloß die Wohnungstür leise hinter sich zu und stieg an den Fahrrädern vorbei die Treppe hinunter. Draußen herrschte strahlender Sonnenschein. Auf dem Ring tobte der übliche Verkehr. Er fand die nächste Straßenbahnhaltestelle und ließ sich nach Hause karren. Niemand nahm Notiz von ihm. Er kam sich vor, als hätte er die Nacht unter einer Brücke verbracht, mit einer Zweiliterbombe Valpolicella aus dem Pennymarkt unter dem Arm. Was die im Machtnix unter Landwein verstanden, das war eindeutig gefärbter Methylalkohol. Davon wurde man blind.

Die Vermietersfrau hatte beschlossen, den Frühlingsputz vorzuverlegen, denn als Gerlach seine Wohnung aufschloß, hörte er unten munteres Staubsaugerbrummen. Sie hatte die Betten ins Fenster gehängt. Anschließend würden die Badezimmermatten drankommen.

Gerlach ließ die Badewanne voll Wasser laufen. Er fand eine halbleere Flasche mit Eukalyptus-Badeschaum und schüttete sie dazu. Es roch wie eine Versammlung von Koalabären. Dann lag er in der Wanne und trank ein großes Glas Wasser, in dem er zwei Aspirin aufgelöst hatte. Zwei Triumphe hatte die Pharmazie gefeiert: Die Entdeckung des Penicillins und die Synthese der Acetylsalicylsäure. Bläschen aus Eukalyptusschaum platzten. Gerlach schloß die Augen. Es klang wie kleine Wellen, die über Kieselsteine rollten. Ein tiefblauer Himmel, weißgetünchte Häuser, Männer am Hafen, Fischgeruch. Das heiße Wasser ließ ihm das Blut in den Kopf steigen, was das Pochen bösartig verschlimmerte. Er stand auf und ließ erst lauwarmes, dann kaltes Wasser aus der Dusche über sich laufen. Der Schaum verschwand, und als das Wasser durch das Abflußrohr gurgelte, legten sich auch die Kopfschmerzen.<para160>

Was für ein Schwachsinn, dachte er. Nichts besseres zu tun als miesen Rotwein zu trinken und durch die Betten zu hüpfen. Na ja. Genaugenommen war es nur ein Bett gewesen. Er stopfte seine Sachen in die Waschmaschine und kochte sich in der Küche einen Tee. Milch war auch noch da. Rührei auf Toast, das war es.<para160>

Eine Stunde später wagte er es, in den Spiegel zu sehen. Hatte ihm Harry nicht zu einem Bart geraten? Er würde die Stoppeln einfach stehen lassen. Zum Ausgleich zog er ein weißes Hemd an, saubere Jeans und ein Tweedjackett und fummelte lange mit einer Krawatte herum. Für ein Businesslunch im Waldorf-Astoria hätte es nicht gereicht, aber nach Stadtbrücke sah es auch nicht mehr aus.<para160>

Gerlach hatte durch die Garage einen eigenen Zugang zum Garten. Er stellte einen Stuhl nach draußen, lehnte sich mit dem Rücken gegen die braungestrichene Tür und sah in die Sonne. Selbst im tiefsten Winter konnte man so über Mittag im Freien sitzen. Er schloß die Augen. Ringsherum werkelten die grünen Witwen in ihren Haushalten. Er hörte ein Radio spielen, ein Kleinkind brabbelte vor sich hin, die Vermieterin klapperte mit ihren Töpfen. Anständige Familienväter gingen ihrer Arbeit nach, und Gerlach hatte frei. Sich einen Tag aus der Firma zu stehlen, das war das kleine Glück des Angestellten. Er sah eine nackte Susanne vor sich und mußte einräumen, daß das ein erfreulicher Anblick war. Er versuchte, sich Laurien vorzustellen. Es gelang ihm nicht. Was für ein Kuddelmuddel, in das er da geraten war.<para160>

Um acht wollte sie mit dem Zug kommen. Und dann? Gerlach spürte die schwache Wärme der Wintersonne auf seinem Gesicht und schlief ein.<para160>

Als er die Augen wieder aufschlug, war die Sonne ein Stück weitergewandert und es wurde schon wieder kühl. Sein Nacken war steif, aber die Kopfschmerzen waren fort und er fühlte sich nicht so schlecht, wie er vermutlich aussah. Gerlach stellte den Stuhl zurück in die Garage und ging wieder hinauf.<para160>

Den Rest des Nachmittags versuchte er, Ordnung auf seinem Schreibtisch zu schaffen. Dann schaltete er die elektrische Schreibmaschine ein. Sie surrte und fiepte. Er spannte das erste Blatt ein und tippte herunter, was er bislang über den Eschenbacher-Fall herausbekommen hatte. Es war nicht wenig, aber es war gleichzeitig nichts. Der Chef hatte recht: Keine Beweise, keine Geschichte. Verkojen hatte gestanden, und damit aus. Bald würde kein Mensch mehr über die Sache reden. Die Zeitung würde weiter erscheinen, und die Redaktion würde sich mit dem neuen Verleger arrangieren, wie sich noch jede Redaktion mit ihrem Verleger abgefunden hatte. Irgendwem gehörte der Laden eben.

Als es dunkel wurde, schaltete er die Schreibtischlampe an. Er schrieb, bis er zehn Blatt zusammen hatte, eine handliche Länge, stilistisch etwas trocken und journalistisch gesehen ohne jeden Wert. Er heftete die Unterlagen aus dem Archiv dazu, packte alles in einen Ordner und stellte ihn ganz unten ins Regal. Der Fall war <para160>erledigt.

Er spürte, wie sein Magen knurrte. Wo konnte man in dieser Stadt essen gehen? Es gab ein Mövenpick-Restaurant, fünf Italiener, einen Anatolier und jede Menge dubiose Gaststätten. Und natürlich Carlo. Immer wieder Carlo. Gerlach sah nach der Uhr. Es war kurz nach sieben. Zeit, das Taxi zu bestellen.

Viertel vor acht stand er auf dem Bahnsteig. Den gemütlichen alten Bahnhof hatte man nach dem Krieg abgerissen. Er konnte sich noch erinnern, wie das damals gewesen war: Eine schöne alte Bahnhofshalle, und vor dem Bahnhof lag das anrüchige Viertel um die Bruchstraße. Die Bruchstraße gab es noch, auch wenn das Geschäft inzwischen sehr flau geworden war. Hauptsächlich gingen dort die Schweinebauern vom Lande hin. Den Bahnhof hatten sie an die Peripherie gesetzt, und so sah er auch aus: Kalt, leer, zugig. Zwei Intercitys rollten hier am Tag ein, morgens früh und abends. Es sah nicht so aus, als wenn sich daran viel ändern würde.<para160>

Der Himmel war klar, und auf dem Bahnsteig pfiff der Wind. Es roch nach Schnee. Eine leere Bierdose kollerte an Gerlach vorbei. Dann kam ein schmutziger Güterzug durch. Dann schepperte aus dem Lautsprecher eine Durchsage. Der Schnellzug aus Leipzig hatte voraussichtlich zwanzig Minuten Verspätung. Bei den maroden Reichsbahnzügen wußte man nie, wann sie ankamen.<para160>

Gerlach schlug den Mantelkragen hoch. Es gab nichts, was er hätte unternehmen können. Keine Macht der Welt würde ihn in die Bahnhofsgaststätte bringen, wo übelgelaunte Bedienungen ausgelaugte Bockwürstchen servierten und trostlose Gestalten am Daddelautomaten hingen. Das ganze Elend dieser Welt versammelte sich nachts auf diesem Bahnhof.<para160>

Gerlach dachte an die alte Frau auf dem Paß über El Paso und an den alten Mann draußen am Atlantik und an die alte Krähe in den Wallanlagen. Drei waren übrig geblieben, und bald würden sie in den Himmel fahren oder in die Hölle oder einfach nur in einen Eichensarg und dann war das Jahrhundert endgültig vorbei. Zwei Kriege. Eine halbe und eine ganze Revolution. Jetzt redeten sie wieder vom Vaterland. Das Vaterland bestand aus Städten wie dieser und Bahnhöfen wie diesem und Schweinebauern nicht zu knapp. Armleuchter gab es überall, und jede Menge Schißhasen. Leute wie Vogelsang, und Leute wie den Senator. Leute wie Henry und Leute wie Ralf. Leute wie Susanne, und Leute wie Laurien. Was er selbst für eine Rolle spielte, war Gerlach von Jahr zu Jahr unklarer. Er drückte sich in eine Ecke hinter dem Verschlag des Bahnsteigbeamten, zündete eine Zigarette an, schnippte die Kippe später mit Daumen und Zeigefinger in hohem Bogen auf die Gleise und kam sich schmutzig vor.<para160>

Der Zug rollte mit etwas weniger als einer halben Stunde Verspätung ein. Gerlach merkte, wie nervös er war. Der Flughafen von El Paso und dieser Bahnsteig - dazwischen lagen Welten. Die Bremsen kreischten ohrenbetäubend, die grünweißen Wagen der Reichsbahn kamen knirschend zum Stehen und verbreiteten einen Geruch nach Wagenschmiere und rollendem Plumpsklo. Gerlach sah den Zug entlang. Ein einsamer Knabe steckte den Kopf aus dem Fenster und hielt die Hand zum Victoryzeichen empor. Kein Mensch beachtete ihn. Junge Männer mit Sporttaschen stiegen aus, auf der Wochenendheimfahrt von irgendwoher. Eine Familie von Übersiedlern mit großen Pappkartons und vollen Koffern blockierte minutenlang den halben Bahnsteig. Und dann entdeckte Gerlach sie. Perfekt im Reisetrench und mit kleinem Handgepäck. Unübersehbar frisiert. Etwas müde um die Augen, wie er bemerkte, als sie sich näherkamen. Sie stellte den Koffer hin, und Gerlach überlegte eine Augenblick lang, ob er ihr vielleicht die Hand schütteln sollte. Amerikaner taten das nicht, fiel ihm ein. Also bitte, Küßchen links und Küßchen rechts. War weniger schwierig, als es aussah. Sie roch nach kaltem Rauch und Geoffrey Beene.<para160>

„Da siehst du, hier bin ich“, sagte sie.<para160>

Gerlach nickte. „Ich hätte nicht gedacht, daß du wirklich kommst.“

„Bist du enttäuscht?“

„Um Gottes Willen“, sagte er, „nur verwirrt. Hast du schon ein Hotel?“

Sie hatte eines. Natürlich war es das Mövenpick.<para160>

Gerlach schnappte sich ihren Koffer, und sie gingen die schmutzige Passage unter den Bahnsteigen hindurch zum Ausgang. Draußen lag der öde Bahnhofsvorplatz. Wo hier eine <para160> Stadt sein sollte, war in der Dunkelheit kaum zu erkennen.<para160>

Sie blieb stehen und sah sich um.<para160>

„Es ist noch nicht so lange her“, sagte Gerlach, „Da grunzten hier die Wildschweine unter den Eichen.“

Sie sah ihn skeptisch an. „Wie lange?“

„Vierhundert Jahre“, sagte er, „vielleicht.“

„Vor vierhundert Jahren gab es bei uns noch Büffelherden.“

Sie mußten den Taxifahrer beinahe wachrütteln. Er hatte wohl nicht mehr damit gerechnet, vor morgen früh eine Fahrt zu bekommen. Auf dem Weg in die Innenstadt blickte sie aus dem Fenster. Viel gab es da nicht zu sehen. Erst als sie vor dem Hotel vorfuhren, wurde sie wieder gesprächiger. Hier gab es Straßenlampen, Autos, und hellerleuchtete Passagen voller Cartier-Feuerzeuge und Tiffanylampen.<para160>

„Weißt du, mir kommt es so vor, als wenn ich aus Sibirien wieder nach Hause komme“, sagte sie. „Lach nicht. In Leipzig sieht es furchtbar aus. Und wenn man hier ankommt, dann denkt man, man ist immer noch drüben.“

„Drüben sagen wir jetzt nicht mehr“, korrigierte sie Gerlach. „Das ist alles einig Vaterland.“

In der Hotelhalle war sie endgültig wieder in ihrem Element. Portiers und Empfangsdamen, Musik und Menschen wie überall auf der Welt. Gerlach konnte sie verstehen. Wenn man wie sie nach Tagen irgendwo ankam, dann war man froh, wenn es ein Ort war, wo Kreditkarten akzeptiert und Betten gemacht wurden.<para160>

„Ist alles in Ordnung?“ wollte er wissen.

Der Portier verschwand mit ihrem Koffer. „Ich bin schrecklich müde und ich sehe schrecklich aus“, sagte sie.

„Siehst du nicht“, widersprach Gerlach, wie es sich gehörte.

„Wollen wir uns in einer Stunde treffen?“

Gerlach überlegte. In einer Stunde war es zehn Uhr, und dann würden sie hier langsam anfangen, die Bürgersteige hochzuklappen. Gegenüber vom Hotel lag der Altstadtkeller. Er war seit Jahren nicht mehr dagewesen.<para160>

„In einer Stunde im Altstadtkeller. Grad über die Straße. Der Portier zeigt dir den Weg“, sagte er.

„Bis gleich“, sagte sie, drehte sich um und verschwand im Lift. In der Tür hob sie die Hand und winkte ihm zu.

Gerlach ging durch die Drehtür hinaus und stieg die Treppen zum Altstadtkeller hinunter. Es war ein wunderschönes Gewölbe, das die Zeit und den ganzen Chichi erstaunlicherweise überdauert hatte. Dafür hatte sich das Publikum verändert. Gerlach stolperte praktisch in eine Gruppe von Japanern hinein, die riesengroße Tücher um den Hals gebunden hatten und lärmten. Es sah aus wie der Betriebsausflug von Hitachi Deutschland.<para160>

„Sorry“, sagte er zu dem Herrn, den er für den Anführer hielt. Der schwenkte eine Art Humpen und strahlte über das ganze Gesicht. „Mumme“, rief er. Gerlach verstand kein Wort.<para160>

Er hielt eine schwer arbeitende Bedienung auf, die in ein graues Gewand aus härenem Rupfen gekleidet war. „Haben Sie noch einen Platz frei?“ fragt er.<para160>

„Moment“, sagte sie gehetzt und war verschwunden. Gerlach folgte ihr in den Nebenraum, wo eine elektronische Kasse unaufhörlich Bestellungen registrierte. Der Laden schien gut zu laufen.<para160>

Ein braun gekleidete Geschäftsführer kam auf ihn zu. „Haben Sie noch einen Platz für zwei?“ fragte Gerlach, und schob ihm einen Schein zwischen die Finger.

„Ja, dort hinten.“

„Dann ist ja guti“, sagte Gerlach.

<Kapitel XXVI>

Gerlach setzte sich in die Nische und studierte die Karte. Es gab Ritterschmaus und ähnliche Spezialitäten. Dafür war das Weinangebot diskutabel. Er bestellte sich einen Riesling. Nie wieder Alkohol. Bis auf diesen hier noch.<para160>

Eine halbe Stunde später kam sie zur Tür herein. Sie sah sich um. Hitachi Deutschland hob wieder den Humpen und prostete ihr zu. Gerlach winkte.<para160>

Sie hatte ihren Reiseaufzug gegen Jeans und ein Männerhemd getauscht. Frisur und Makeup stimmten wieder. Sie setzte sich ihm gegenüber.

„Zinfandel haben sie hier nicht“, sagte Gerlach, „aber der Riesling ist okay.“

„Dann nehme ich ihn auch.“ Es dauerte eine ganze Weile, bis sie die Bedienung im härenen Gewand zu fassen bekamen. Gerlach wußte nicht, was er sagen sollte, und steckte sich eine Zigarette an. Wahrscheinlich rauchte die halbe Menschheit einfach nur aus Verlegenheit, und weil sie nicht wußte, wohin mit den zwei Händen.

„Wie war es in Leipzig?“ wollte er wissen.

Sie schien zu überlegen. „Ihr Deutschen seid sehr fleißig.“

„Es hält sich in Grenzen“, sagte er. „Ich für meinen Teil ...“

„Warst du dabei, als die Berliner Mauer fiel?“

„Nein“, sagte Gerlach.

„Wo warst du an dem Tag?“

Gerlach ließ seinen Mittelfinger um den Glasrand wandern. Immer rundherum. „Zu Hause“, sagte er, „vor dem Fernseher. Ich bin eigentlich ein sehr häuslicher Typ.“

Der Riesling kam. Sie nahm einen winzigen Schluck. Möglicherweise vermußte sie die Eiswürfel. „Das verstehe ich nicht“, sagte sie, „Das muß doch aufregend gewesen sein, das alles. Ich wäre hingefahren.“

Gerlach drückte seine Zigarette aus. „Ich kannte mal einen Typ“, sagte er, „Katsche Schwarzenbeck hieß er. Kam aus Hohegeiß.“

„Hohegeiß?“

„Ja. Winziger Ort. Im Oberharz. Das ist ein kleines Mittelgebirge. Nicht zu vergleichen mit den Rocky Mountains, überhaupt nicht. Katsche war der erste Hippie im Oberharz, damals. Gammler hießen sie bei uns. Alles, was lange Haare hatte, war ein Gammler. Katsche gammelte meistens an den Haltestellen der Oberharzer Verkehrsbetriebe rum. Er war der Schrecken der Wanderfreunde. Katsche erzählte immer, daß es überhaupt kein Problem sei, nach drüben zu kommen. Wir glaubten ihm das nicht. Alle diese Tretminen und Todeszäune und Selbstschußanlagen, du verstehst?“

Laurien nickte: „The German Wall. Der Eiserne Vorhang.“

„Genau“, sagte Gerlach. „Katsche behauptete nun, daß er, immer wenn er Lust dazu hätte, einfach rüberginge. Ein bißchen gefährlich wäre es, das schon, aber es gebe genügend Wege. Naja, sagten wir dann, Katsche ist eben Oberharzer. Die Oberharzer haben alle einen Knall.“

Gerlach machte eine Pause. „Und?“ fragte sie. „Was weiter?“

„Ich ging weg. Katsche blieb. In den siebziger Jahren wurde er in ein paar kleine Rauschgiftgeschichten verwickelt. Später machte er einen Autohandel auf. Verkaufte riesige Amischlitten. Chevrolets, Buicks, diese Kisten. Die Wagen gingen manchmal ziemlich dunkle Wege. Katsche ergab sich dem Suff und setzte Fett wie Jahresringe an. Sah immer mehr aus wie das Michelinmännchen. Und dann kam die Berliner Mauer. Katsche hörte das, und nahm sich sofort ein Taxi. Das Gute für Katsche war, daß ihn jeder Taxifahrer kannte. Er fuhr also umsonst an die Grenze. Natürlich war er betrunken. An der Grenze wußten sie nicht recht, wie das alles weitergehen sollte. Katsche hatte einen Parka an und drei Flaschen Pastis dabei.“

„Pastis?“

„Ja, du kennst das vielleicht. Grün. Schmeckt nach Lakritz. Wenn du Wasser dazugießt, wird es trübe.“

„Hört sich nicht gut an.“

„Egal. Katsche hatte also drei Flaschen Pastis dabei. Zwei in den Manteltaschen seines Parkas, eine in der Hand. So ist er dann durch die Ecker gewatet. Ein Kamerateam hat ihn dabei gefilmt. Die Bilder gingen um die Welt: Wie Katsche Schwarzenbeck sturzbetrunken den Osten erobert. Müßtest du eigentlich gesehen haben. NB? hatte die Rechte. Später stellte sich dann heraus, daß er tatsächlich die ganzen Jahre im Ostharz ein- und ausgegangen war. Alle Grenzer kannten ihn. Mit Katsches Hilfe hatten sie die Bahnhofsgaststätte der Harzquerbahn am Leben erhalten. Harte Währung hätte er reingepumpt, prahlte Katsche, harte Währung, und das zwanzig Jahre lang. Heute hat Katsche in der Bahnhofsgaststätte freies Saufen auf Lebenszeit. Ich will dir was sagen: Männer wie Katsche sind es, die Geschichte machen. Ich nicht. Ich bring'so etwas nicht zustande.“

Laurien berührte seine Hand mit den Fingerspitzen. Es war ein tröstliches Gefühl.<para160>

„Und wie war es nun in Leipzig?“<para160>

Sie zog ihre Hand wieder zurück. „Osteuropa ist ein riesengroßer Markt“, sagte sie. „Wir können gute Geschäfte machen.“

„Wer ist wir?“

„Ich vertrete eine Gruppe von Firmen, die Software entwickeln. Im Osten gibt es hervorragende Programmierer, aber keine Computer. Im Westen ist es umgekehrt. Da ist für die Zukunft noch viel drin.“

„Ja“, sagte Gerlach, „Das sagen alle.“ Er hob sein Glas.

„Hast du mir nicht von einem Siegmar Verkojen erzählt?“

Gerlach setzte sein Glas wieder ab. „Wie kommst du jetzt auf den?“

„Ein paar meiner Geschäftspartner in Leipzig kannten ihn gut. Jetzt hat er hier eine alte Dame ermordet, oder wie war das?“

„Langsam“, sagte Gerlach, „ganz langsam. Woher kannten deine Freunde Verkojen?“

Die Frage ging einfach unter. Hitachi Deutschland hatte den Gipfel der Fröhlichkeit erreicht und jetzt stimmte man das Firmenlied an. Das Gewölbe hallte von japanischen Stimmen wieder. Kerzen flackerten, die Bedienung ließ ein Tablett fallen.„Hier kann man ja sein eigenes Wort nicht verstehen“, rief Gerlach über den Tisch.

„Wie bitte?“<para160>

„Es ist laut!“ schrie er.

„Das finde ich auch“, schrie sie zurück. Das machte den Lärm nicht besser. Sie beugte sich zu ihm herüber und rief ihm ins Ohr: „Warum gehen wir nicht ins Hotel?“

„Gute Idee“, gab er von sich. Sie ließen den Riesling stehen. Gerlach legte einen Schein auf den Tisch und bugsierte sie zum Ausgang.<para160>

Draußen fror sie. Gerlach legte den Arm um ihre Schultern. „Ich bin müde“, sagte sie. Gerlach küßte sie. Sie ließ sich den Schlüssel geben, und unter den frechen Blicken des Nachtportiers verschwanden sie beide im Lift.

Das Zimmer lag ruhig zum Innenhof, und es hätte jedes Hotelzimmer zwischen hier und Acapulco sein können. Ein neutraler Platz. Unpersönlich wie eine Flughafenlounge. Der richtige Ort für Konspirationen und heimliche Liebesgeschichten. Oder eher für unheimliche: Auf den Sideboard neben dem Fernseher lag unübersehbar eine Packung Pariser.<para160>

Laurien hatte sich in einen Sessel gesetzt und die Schuhe ausgezogen. „Ich könnte uns etwas kommen lassen“, sagte sie.

„Was trinkt man eigentlich bei Euch in Texas?“ wollte er wissen.

„Bourbon und Champagner“, sagte sie. „Hast du nie Dallas gesehen?“

„Ich mag keinen Bourbon“, sagte Gerlach.<para160>

Als der Zimmerkellner die Flasche samt Eiskübel anschleppte, kam sich Gerlach einen Augenblick lang vor wie in einem Werbefilm. Fehlte nur noch das verschwörerische Augenzwinkern. Doch der Junge wollte nur eine Unterschrift und zog wieder ab.<para160>

„Auf den Osthandel“, sagte Gerlach.

„Auf die Zukunft“, sagte sie, „alles wird gut.“

Alles ist gut, dachte Gerlach. Kein Problem. Es kommt, wie es kommt. Dann wußte nicht, wo er sich hinsetzen sollte. Sie stand auf und legte ihm die Arme um den Hals. „Laß uns schlafen“, sagte sie ohne Umschweife. Sie küßten sich. Gerlach knöpfte an ihrem Männerhemd. Das wurde langsam zur Gewohnheit.<para160>

Eine ganze Weile später lagen sie nebeneinander im Bett. Gerlach rauchte. Er konnte es nicht lassen. Ihr Kopf lag auf seinem Arm, und ihr linkes Bein ganz entspannt quer über seiner Hüfte. Es war ein bemerkenswert langes, braunes, durchtrainiertes Bein. Gymnastik, Schwimmen, Radfahren - davon bekam man solche Beine. Er zog mit dem Fingernagel eine lange Linie vom Oberschenkel zu ihrem Fuß. Sie krümmte sich.

Dann setzte sie sich auf. „Gib mir bitte auch eine Zigarette.“

„Du rauchst?“

„Manchmal. Nur hin und wieder.“

Er gab ihr Feuer. Sie pustete den Rauch in die Gegend. „Kennst du eigentlich die Cocom-Liste?“ fragte sie.<para160>Gerlach massierte seinen linken Arm. Er war etwas taub. „Was ist damit?“

„Sie gilt offiziell noch“, sagte sie, „obwohl sich keiner mehr daran hält.“

„Sie wird von Euch Amis diktiert, so weit ich weiß“, sagte Gerlach.

„Die Cocom-Liste wird von siebzehn souveränen westlichen Staaten unterzeichnet. Jede Woche einmal trifft sich in Paris das Coordination Comitee for East West Trade Policy und legt fest, was strategisch wichtige Güter sind.“

„Hast du mit dem Verein irgendetwas zu tun?“

„Dein Siegmar Verkojen hatte mit ihm was zu tun. Genaugenommen hatte er was damit zu tun, die Cocom-Liste zu unterlaufen.“

„War er etwa ein Agent?“

„Nein. Ein Laufbursche. Ein Zwischenhändler. Er hat in den siebziger Jahren, als die Mauer noch dicht war, so ziemlich alles hin- und hertransportiert, was offiziell nicht zu kaufen war.“

„Was denn zum Beispiel?“

„Pläne für geräuscharme Schiffsdieselmotoren. Bestimmte Computerprogramme. Vakuumpumpen. Chemikalien. Hightech aus dem Westen in den Osten. Und auf dem Rückweg hat er alles mitgenommen, was drüben billig zu haben war: Alte Autos, Schmuck, Porzellan, Antiquitäten.“

„Siegmar Verkojen“, stellte Gerlach fest. „Waffen auch?“

„Keine Kriegswaffen, soweit wir wissen. Aber Jagdwaffen. Alte und neue Jagdwaffen.“

Das machte einen gewissen Sinn. Die Parteiführung der SEƒ war bis zuletzt ganz versessen auf die Jagd gewesen. Wie Feudalherren.<para160>

Gerlach drehte seinen Kopf in Lauriens Richtung. Einen Schönheitschirurgen würde sie auch in Zukunft nicht nötig haben.<para160>

„Und du?“ wollte er wissen.

„Wieso und ich?“

„Bist du auch in Verkojens Geschäft?“

„Nein, ich sagte doch schon: Ich bin auf Software spezialisiert.“ Ihre Stimme klang beleidigt. Sie angelte nach der Champagnerflasche.<para160>

„Entschuldigung“, sagte Gerlach, „ich meine, nicht daß es irgendetwas ändern würde.“

Sie hielt ihm das Glas hin. Er trank einen Schluck.

Daß sie mit ihm hier über geräuscharme Schiffsdiesel redete, war irgendwie absurd. Er schloß die Augen und versuchte, mit dem rechten Zeigefinger die Kontur ihrer linken Brust nachzuzeichnen. Sie ließ es sich gefallen. Gerlach rollte ein Stück nach links. Sie drückte die Zigarette aus.<para160>

Kein Massageöl, keine Räucherkerzen, nur Sex auf die altmodische Art und Weise, wie ihn die Menschheit seit hunderttausend Jahren trieb. Es hatte einiges für sich.<para160>

Von Jagdwaffen und Vakuumpumpen war eine Zeitlang keine Rede mehr. Dann war alles wieder wie vorher, nur daß diesmal Gerlach links und Laurien rechts zu liegen kam. Seine Schläfrigkeit kämpfte mit seiner Neugierde, und die Schläfrigkeit gewann. Laurien stand auf, um ins Badezimmer zu gehen. Für eine Spionin war sie perfekt geschaffen. Als sie zurück ins Bett kam, war Gerlach schon eingeschlafen.

<Kapitel XXVII>

Klopfen an der Tür weckte ihn. Gerlach schlug die Augen auf. Das Bett neben ihm war leer. Den Geräuschen nach zu urteilen war Laurien schon wieder im Bad.

„Zimmerservice“, hörte er von draußen.<para160>

„Einen Moment“, rief Gerlach. Er sah sich um. Da war kein Bademantel. Auf einem Sessel lag ein Männerhemd, an das er sich gut erinnern konnte. Notgedrungen wickelte er es sich um den Bauch.

Der Kellner machte ein indifferentes Gesicht, als er den Wagen ins Zimmer schob. „Würden Sie hier bitte unterschreiben?“ fragte er.

„Selbstverständlich“, sagte Gerlach, „haben Sie eine Zeitung?“

„Kommt sofort.“

Tatsächlich hing nach zwei Minuten die Samstagausgabe der Zeitung an der Tür, dick wie ein Brikett und häßlich wie immer. Gerlach hörte es im Badezimmer rauschen. Er goß sich einen Kaffee ein und schlug den Lokalteil auf. Von der toten Grete Eschenbacher war schon keine Rede mehr. Den größten Teil nahm ein Artikel über den Stadtwerke-Skandal ein. Der Fall hatte sich im Herbst ereignet. Vierzig Aufsichtsratsmitgliedern waren mit dem Sonderzug nach München gefahren. Ungewöhnlich daran war nur die Tatsache, daß auf dem dreitägigen Programm ein einziger Programmpunkt stand: Der Besuch des Oktoberfestes. 4? 000 Mark hatte die Sauftour gekostet, und die Zeitung spuckte Gift und Galle. Gerlach fand die Angelegenheit vollkommen normal. Er hätte sich eher gewundert, wenn der Aufsichtsrat zu reinen Dienstbesprechungen an die Isar gefahren wäre.

Laurien kam mit nassen Haaren und im weißen Bademantel aus dem Badezimmer. Ihre Sonnenbräune kam bei Tageslicht besser zur Geltung. Gerlach tippte auf seine Hüften. „Ich habe mir das mal ausgeliehen.“

„Drinnen ist noch ein Bademantel. Ich hatte ein Doppelzimmer bestellt“, sagte sie.

Sehr vernünftig, dachte er. Vom Badezimmer eines Hotels aus betrachtet konnte man die Welt gelassen sehen. Es gab sogar eine eingeschweißte Zahnbürste. Gerlach studierte im Spiegel sein Gesicht. An und für sich sah er aus wie ein Penner: Bartstoppeln, gerötete Augen, Tränensäcke. Doch mit einer Kreditkarte in der Tasche und dem Zimmerservice im Hintergrund konnte er auch als hochwichtiger Geschäftsreisender durchgehen. Die Unterschiede waren minimal.<para160>

Er duschte lange und versuchte dabei, mit dem Wasserstrahl seinen Nacken zu massieren. Dann drehte er das Wasser auf eiskalt. Schon japste er. Er mußte unbedingt mal zu einem Kardiologen. Er mußte unbedingt seine Schuhe vom Schuster abholen. Er mußte endlich etwas aus seinem Leben machen. Gut die Hälfte hatte er schon hinter sich. Trübe Gedanken für einen Samstagvormittag. Alles ist gut, murmelte Gerlach unter der Dusche.

Laurien hatte Teller und Tassen auf einem kleinen Tisch verteilt. „Nicht schlecht“, bemerkte Gerlach, als sie sich im Bademantel gegenüber saßen. „Wie geht's?“

„Danke, gut“, meinte sie, und biß in ein Marmeladenhörnchen. Gerlach köpfte ein Ei.

„Ich habe übrigens noch etwas herausbekommen“, sagte sie.

Gerlach strich sich Butter auf sein Brötchen. Es war noch warm.

„Siegmar Verkojen war im Auftrag einer westdeutschen Familie tätig.“

Gerlach streute Salz auf das Ei und griff zum Löffel.<para160>

„Verkojen war als Chauffeur und Geschäftsführer für Charlotte und ... Wolff tätig. Seit 1972.“

Gerlach fiel der Löffel aus der Hand. Eidotter tropfte auf den Hotelbademantel. „Ach du Scheiße“, sagte er.<para160>

Laurien betrachtete ihn lächelnd. Sie hielt immer noch das Hörnchen in der Hand. Der Bademantel ließ ein Stück von ihr sehen. „Irritiert dich mein Anblick?“

„Äh, nein, überhaupt nicht, du siehst sehr gut aus.“

Gerlach tupfte mit einer Serviette das Ei aus dem Frotteestoff. Der gelbe Fleck wurde größer.<para160>

„Ich dachte, das würde dich interessieren“, sagte sie.

„Tja“, sagte Gerlach, „Das ist wirklich ein dickes Ei.“

„Er hat viele Geschäfte für Sie erledigt. Geldtransporte, Botengänge und so weiter. Er war ihr Faktotum.“

„Du meinst, er war so eine Art Vertrauter?“

„Ja, das meine ich.“

„Wie lange bleibst du in der Stadt?“

„Ich muß morgen vormittag zurück.“

„Dann haben wir noch jede Menge Zeit. Was hältst du davon, wenn wir zusammen einkaufen gehen?“Laurien krümelte den Rest ihres Hörnchens zusammen. „Versteh’ mich nicht falsch, ich fand das letzte Nacht sehr schön, aber ich würde heute abend gern hier im Hotel bleiben.“

Gerlach trank seinen Kaffee aus. „Das verstehe ich vollkommen“, sagte er. „Laß uns die Geschäfte ansehen.“

„Gibt es hier viel zu sehen?“ fragte sie.

„Es ist alles vorhanden.“

Die gleiche Wintersonne wie am Vortag schien auf Autos und Passanten, als sie das Hotel verließen. Die Menschen schienen glücklich, und das Geld saß locker. Riesengroße Pakete wurden durch die Einkaufspassagen geschleppt. Weihnachten stand vor der Tür, aber so, wie das Wetter sich gab, hätten auch die Primeln sprießen können. Auf den Winter war auch kein Verlaß mehr. Wenn das wirklich schon die Klimakatastrophe war, dann würden hier in ein paar Jahren Palmen wachsen. Gerlach bezweifelte, daß die Stadt dadurch gewinnen würde.<para160>

„Ich brauche eine Sonnenbrille“, sagte er zu Laurien, „und etwas Parmaschinken.“

Sie hakte sich bei ihm ein: „Ich könnte ein Paar Schuhe gebrauchen.“

„Na dann.“

Das erste Schuhgeschäft am Platze war nicht zu übersehen: Ein schmiedeeiserner Erker ragte gefährlich in die Käufermassen hinein und zwang sie zu einem kleinen Umweg. Die Schaufenster waren bis zur Erde gezogen und gaben den Blick frei auf Damenschuhe in abenteuerlichen Farben und auf kleine, handgeschriebene Preisschildchen. Laurien musterte sie voller Interesse. „Ziemlich teuer“, sagte sie.

„Das sind Deutsche Mark, keine Dollar“, beruhigte sie Gerlach. „Du mußt einfach alles durch zwei teilen.“

Sie stutzte. „Ziemlich billig, scheint mir.“

Die Ladeninhaberin würdigte sie keines Blickes, als sie eintraten. Sie war in ein lebhaftes Gespräch mit ihrer besten Freundin verwickelt. Eine Flasche Schaumwein war zur Hälfte geleert, und entsprechend angeregt war die Unterhaltung.<para160>

Gerlach nahm eine zierliche Sandale in die Hand. Sie wog höchstens fünfzig Gramm. Laurien blickte skeptisch. Mit Frauenschuhen kannte Gerlach sich einfach nicht aus. Sie waren alle so unpraktisch. Daß man damit überhaupt laufen konnte. Bestimmte Dinge waren für Männer einfach leichter zu regeln.<para160>

Nach einer halben Stunde hatte sie sich für ein Paar feuerroter Sandaletten mit mäßig spitzen Stöckelabsätzen entschieden. Gnädig nahm die Inhaberin die American Express Karte entgegen. Gegen Geld hatte sie nichts. Nur gegen die Kundschaft.

Draußen war die Kauflust noch etwas entschiedener geworden. Es ging auf Mittag zu. Gerlach steuerte quer über die Straße in ein Brillengeschäft hinein. Er hatte klare Vorstellungen. „Eine Ray Ban-Sonnenbrille“, sagte er zu dem Verkäufer, der aussah wie ein besorgter Mediziner, „mit möglichst dunklen Gläsern.“„Das klassische Modell?“<para160>

„Gibt es denn mehr als eines?“

„Oh, sicher, wir haben hier eines mit Hornfassung, und dann natürlich die Pilotenform, und hier eine Neuentwicklung.“

„Danke“, sagte Gerlach, „Das muß ich mir noch mal durch den Kopf gehen lassen.“

„Männer können sich einfach nicht entscheiden“, behauptete Laurien, als sie den Laden wieder verließen.

Beim Schlachter gab es lange Schlangen vor dem Tresen. Es wurde hart verhandelt um Salami und Filetspitzen. Neben Gerlach war eine angehende Mutter an der Reihe, schätzungsweise im achten Monat, den spitzen Bauch in eine bordeauxrote Latzhose gekleidet. Die Füße steckten in klobigen Gesundheitsschuhen. Sie sah so aus, als käme sie geradewegs vom Schwangerenyogakursus. Unfroh musterte sie die Auslage. „Wie werden Ihre Schweine denn gehalten?“ wollte sie vom Schlachtermeister wissen. Der Schlachter hielt sein Messer in die Höhe. „Die werden vor allem festgehalten“, sagte er stolz. Sein Geselle sah herüber und gluckste. „Genau“, gab er seinen Senf dazu, „und dann kriegen sie eins vor die Rübe.“

Gerlach fiel vor Lachen fast zur Seite und trat Laurien dabei auf den Fuß. Zum Glück hatte sie ihre neuen Schuhe nicht an. Die junge Mutter blickte irritiert. Davon war in ihrem Kursus für gesunde Ernährung nicht die Rede gewesen.<para160>

Als Gerlach an der Reihe war, verkniff er sich die Frage nach der Herkunft des Parmaschinkens. Er kaufte zwei Lagen und ein Stück Kalbsleberwurst dazu. Die Kreditkarte war nicht nötig.

„Was machen wir jetzt?“ fragte er Laurien. Sie hatte die Sache mit den Schweinen nicht ganz verstanden. Gerlach versuchte, es ihr zu erklären. „Ich esse schon lange kein Schweinefleisch mehr“, sagte sie, „Schweinefleisch macht agressiv.“ Und Hühnerfleisch macht dumm, dachte Gerlach bei sich.

„Wir könnten zum Beispiel einen Kaffee trinken“, schlug er vor, „oder einen Aperitif.“

Sie war einverstanden.<para160>

Am Rande des Stadtparks, gleich neben der Fußgängerzone, erhob sich da, wo früher das Schloß gestanden hatte, fünf Stockwerke hoch ein Warenhaus, dessen Außenhaut ein wabenförmiges, angeblich von einem berühmten Architekten entworfenes Rautenmuster zierte. Wo man auch ging und stand - der Anblick des Kolosses ließ sich nicht vermeiden. Klein und schüchtern duckte sich davor eine Glaspyramide. Ein öffentlicher Lesesaal hatte es werden sollen, doch bei Regen tropfte es durch die Dachkonstruktion, und das Lesebedürfnis war allgemein eher unterentwickelt. Also hatte man den Pavillon an einen italienischen Pächter vermietet, der ein Cafe daraus gemacht hatte. Es tropfte zwar immer noch durch die Decke, aber daran konnte man sich gewöhnen.<para160>

Gerlach bestellt sich einen Capuccino. Wenigstens taten sie hier keine Sahne aus der Spraydose obendrauf. Laurien wollte unbedingt einen Punt-e-Mes. Er wunderte sich, woher sie das Zeug kannte. „Ich bin oft in Italien“, sagte sie.<para160>„Du kommst überhaupt viel herum“, stellte er fest. „Hat Verkojen eigentlich für das Amt für Außenhandel gearbeitet?“

Sie tunkte die Eiswürfel in den dunkelbraunen Magenbitter. „Soweit ich meine Partner verstanden habe, hat er für jeden gearbeitet, der ihn bezahlt hat. In erster Linie für deine Wolffs.“

„Das sind nicht meine Wolffs.“

„Ist doch egal. du interessierst dich jedenfalls für sie, oder etwa nicht?“

„Doch“, räumte Gerlach ein.

„Deine Wolffs und meine Geschäftsfreunde sind in der Vergangenheit einige Male aneinandergeraten. Es war, wie soll man sagen, eine Interessenkollision. Sie haben ein paar Geschäfte gemacht, die eine andere Gruppe von Käufern und Verkäufern auch gern gemacht hätte.“

„Darf man wissen, um welche Art von Geschäften es sich gehandelt hat?“

Laurien sah ihn nicht an. Sie war damit beschäftigt, die Espressomaschine zu studieren. „Ich glaube, es wäre besser für dich, wenn du es nicht wüßtest. Es sind sehr diskrete Geschäfte. Die Wirtschaftsbeziehungen zum Osten sind sehr empfindlich. Ein voreiliges Wort, und so eine Sache ist schnell geplatzt. du verstehst?“

Gerlach beobachtete, wie der Zucker langsam durch den Milchschaum einbrach. Er trank einen Schluck und verbrühte sich prompt die Lippen. Der Cappuccino war gut, keine Frage, aber auf der Piazza in Siena war er noch besser. Das war auch keine Frage.

Laurien war immer noch in dem Anblick der Espressomaschine vertieft. Es war eine sehr schöne Espressomaschine, die laut fauchte und Dampf ausstieß.<para160>

„Ich soll dir einen schönen Gruß von meinen Partnern in Leipzig und von meinen Freunden drüben in Dallas bestellen“, sagte sie zur Maschine hin.<para160>

„Vielen Dank“, erwiderte Gerlach, obwohl er nicht genau wußte, ob er sich tatsächlich angesprochen fühlen sollte.

„Sie würden dir gern ein Angebot machen.“

„Das finde ich sehr gut“, sagte Gerlach zu seinem Cappucino.

„Sie schlagen dir vor, daß du die ganze Angelegenheit vergißt.“

„Welche Angelegenheit?“

Gerlach schüttelte sie am Arm. Sie riß ihren Blick von der Kaffeemaschine los. „Du weißt ganz genau, welche Angelegenheit. Wir möchten nicht, daß du irgendwelchen Staub aufwirbelst. Meine Partner und meine Freunde würden sich gern selbst um die Wolffs kümmern, um sich mit ihnen, sagen wir mal, zu arrangieren.“

„Wer oder was hindert sie daran?“

„Dabei wäre ein öffentlicher Skandal wenig hilfreich. Es ist so schon schwierig genug, mit dem Eschenbachermord und allem.“

„Was hat der Mord damit zu tun?“

„Du stellst dich absichtlich dumm, oder?“

Gerlach hob zwei Finger in die Höhe: „Niemals.“

„Wir hätten gern das Material, das du gesammelt hast.“„Sonst noch etwas?“

„Ja. deine schriftliche Versicherung, daß du das, was du weißt, nicht herumerzählst und schon gar nicht in irgendeiner Zeitung veröffentlichst. Wir kümmern uns schon um den Fall.“

Gerlach hielt den Finger in seinen Capuccino. Er war lauwarm geworden. „Und warum sollte ich das tun?“

„Weil wir bereit sind, dir eine gewisse Summe dafür zu bezahlen.“

Gerlach nahm einen großen Schluck. Milchkaffee mit Zucker. Früher hätte er so etwas verabscheut. „Wieviel?“

„Eine Million Mark“, sagte sie leise.<para160>

Gerlach sah durch die Scheiben des Pavillons nach draußen. Die Sonne schien, als sei das ganz selbstverständlich. Paare und Passanten schlenderten vorbei. Der Kellner kam an den Tisch und fragte, ob er noch etwas bringen solle. Gerlach schüttelte den Kopf. Dieses Jahr war bald zu Ende. Es gab so viele Dinge, die er nicht mehr lernen würde. Die Technik der Kaltnadelradierung, zum Beispiel. Oder wie man klassische Gitarre spielte. Oder wie man, ohne zu stottern, vor eine laufende Fernsehkamera trat. Na ja, das war vielleicht nicht ganz so wichtig. Er hätte auch gern gewußt, wie das ging, einen mathematischen Beweis zu führen. Alles Dinge, mit denen man früh anfangen mußte, um sie zu beherrschen.

Die Espressomaschine stieß wieder ein erneutes Fauchen aus.

„Dollar“, sagte er.

Laurien sagte nichts. Das Fauchen hörte auf. Durch die Stille hörte man Verkehrslärm. „Einzuzahlen bei einer Züricher Bank“, sagte er.

Laurien griff in ihre Handtasche. Sie zog ein Scheckformular und einen Kugelschreiber hervor. Natürlich war es ein Parker. In Gerlachs rechtem Innenohr knackte es. Die verdammten Nebenhöhlen. Ihre Unterschrift war sachlich und ohne überflüssige Schnörkel. Sie reichte ihm den Scheck, und ihr Gesichtsausdruck war ebenfalls sehr sachlich. Gerlach betrachtete das Stück Papier. „Ist der etwa gedeckt?“ fragte er.

„Davon kannst du ausgehen“, sagte sie. „Wir sind ziemlich liquide.“

„Dann bin ich ja beruhigt.“ Er schob ihn in die Brusttasche seines Jackets. „Du erlaubst, daß ich bezahle?“

Sie nickte. Viel hatten sie sich nicht mehr mitzuteilen.

<Kapitel XXVIII>

Vor dem Pavillon wollte er Laurien die Hand schütteln.<para160>

„Keinen Kuß?“ fragte sie.<para160>

Er zog sie an sich. Küßchen links, Küßchen rechts. Der sozialistische Bruderkuß. War ziemlich aus der Mode gekommen. Erich Honecker und Michail Gorbatschow hatten ihn zum letzten Mal getauscht, wenn Gerlach sich recht erinnerte. Was dann gekommen war, wußte man.<para160>

„Wenn du mal nach Dallas kommen solltest ...“ sagte sie.<para160>

„Ist klar“, sagte er, „Dann melde ich mich. Wo soll ich die Sachen denn hinschicken?“

„Ein Bote vom Hotel kann sie heute nachmittag abholen.“

„Ich werde zu Hause sein“, sagte Gerlach. „Nice to meet you.“

„Same to you“, sagte sie, und reihte sich in den abebbenden Käuferstrom ein. Gerlach legte den Kopf in den Nacken und schloß die Augen. Die Sonne stand immer noch am Himmel, aber sie verlor schon wieder an Wärme. Es war Dezember. Er ging zur Straßenbahnhaltestelle und musterte auf der Fahrt nach Hause die Fahrgäste. Fast jeder hatte eine Tüte unter dem Arm. Fast jeder sah zufrieden aus. So mußten sich die Jäger und Sammler gefühlt haben, wenn sie von ihren Beutezügen nach Hause kamen.<para160>

Die Katze hatte sich in den letzten Sonnenstrahlen auf dem Vordach zusammengeringelt. Die Steine speicherten die Wärme. Träge hob sie den Kopf, als Gerlach durch das Zimmer kam.<para160>

„Es gibt Parmaschinken“, sagte er, „und Kalbsleberwurst.“

Beim Wort Kalbsleberwurst spitzte sie die Ohren. Vielleicht hatte sie auch eine junge Maus pfeifen gehört. Gerlach angelte ihr einen Streifen Schinken aus dem Papier. Sie beschnüffelte ihn interessiert, als sei sie ein Hund, um ihn sich dann ein, zweimal um die Ohren zu schlagen. Der Schinken wehrte sich nur schwach.<para160>

Gerlach holte den Ordner hervor. Er nahm die Unterlagen über den Eschenbacher-Mord heraus und steckte sie in einen braunen, gefütterten Umschlag. Dann betrachtete er sein Bücherregal. Warum einer Bücher aufhob, das war doch ziemlich widersinnig. Diejenigen Bücher, die man mehr als einmal las, konnte man an zwei Fingern abzählen. Aber es machte sich natürlich gut, so eine Bücherwand. Hatte etwas beruhigendes. Geradezu etwas gemütliches. Gerlach griff nach einem völlig verstaubten Exemplar und schlug es aufs Geratewohl auf. „Mit einem Lagerschuppen verglichen“, las er, „war die Wohnung des Großvaters Chovanec, die gleichzeitig sein Lagerraum war, ungewöhnlich trostlos.“ Hatte er das jemals gelesen? Wenn ja, war es durch die ungewöhnlich weiten, ungewöhnlich flexiblen Maschen seines Gedächtnisses gerutscht und hatte keinerlei Spuren hinterlassen. „Ein kleines, verrußtes Petroleumlämpchen gegenüber dem Bett erhellte bescheiden Tag für Tag drei Häufchen Hundekot.“ Der Autor hatte den Bogen raus, keine Frage. „Ein Häufchen war fester grießiger Kot, in weißgelblicher Farbe, das zweite war dunkler und das dritte noch dunkler.“ Gerlach betrachtete den Buchrücken. Hasek. Na dann. „Es gibt Augenblicke im menschlichen Leben, in denen auch ein Ochse weint.“ Hasek war der Größte.<para160>

Gerlach hatte kaum ein halbes Dutzend Erzählungen geschafft, da klingelte es an der Tür. Er ging hinunter. Ein halbwüchsiger Hoteldiener stand vor der Tür. „Einen Augenblick“, sagte Gerlach. Er holte das Päckchen und gab dem Fahrer fünf Mark Trinkgeld mit auf den Weg. Dann verkroch er sich mit dem Buch in den Fenstersessel. Nach einer Weile stand er auf und fand den zollfreien Whisky. Der Rest des Tages war gelaufen.<para160>

Spät in der Nacht - Gerlach war längst eingeschlafen - klingelte das Telephon. Die Katze sprang vom Bett. Gerlach drehte sich um und schlief weiter. Irgendwann klingelte es noch einmal. Dann gab die Außenwelt endgültig Ruhe.<para160>

Am Sonntag passierte überhaupt nichts, außer daß es leise, aber stetig regnete. Gerlach beschloß, im Bett zu bleiben. Er stellte sich eine Kanne Tee auf den Fußboden und stapelte ein paar russische Autoren daneben. Gegen zwei Uhr klingelte das Telephon. Er ignorierte es. „Von wunderbarer Macht ist mir vorbestimmt“, las er, „noch lange Hand in Hand mit meinem seltsamen Helden zu wandeln und das ganze ungeheure, brausende Leben zu betrachten - zu betrachten durch aller Welt sichtbares Lachen und durch unsichtbare, von ihr nicht gekannte Tränen!“ Ja, das war Literatur. Das ungeheure, brausende Leben konnte ihn gern haben.<para160>

Gegen vier Uhr nachmittags, als es schon wieder dunkel wurde, war Gerlachs Rücken steif wie ein Brett, und sein Magen brummte. Der Aschenbecher auf dem Nachttisch quoll über, und die Katze hatte sich - angewidert zwar, aber der Not gehorchend - über den nassen Birnbaum hinunter in den Garten begeben. Sie kannte eine Menge trockener Plätze. Ihren Pelz hatte sie dabei.<para160>

Gerlach klappte das Buch zu. Ihm war wirr im Kopf. Das Lindeneck machte Sonntags später auf. Zeit genug, sich zu präparieren. So konnte er unmöglich unter Menschen gehen. Er kratzte sich am Kinn. Die Bartstoppeln waren hart und gemein. Vielleicht konnte er eine dunkle Sonnenbrille aufsetzen und die Ärmel seines Jackets umschlagen. Dann würde er als Don Johnson-Verschnitt durchgehen. Nein, das war keine gute Idee.<para160>

Kurz nach sechs stand er, äußerlich wieder hergestellt, am Tresen. Nichts war passiert. Fritz polierte die Gläser. Der Regen hielt an. Henry kam zur Tür herein. Sein Mantel war aufgeweicht.

„Bier?“ fragte Fritz.

„Tee mit Rum“, sagte Henry. „Von dem dunklen Myers, bitte.“<para160>

„Warst du wieder beim Adventssingen in der Martinikirche?“ wollte Gerlach wissen.<para160>

Henry knurrte.

„War's so schön wie im letzten Jahr?“ hakte Gerlach nach.

„Arschloch“, sagte Henry.<para160>

Der Tee dampfte und roch aufdringlich nach Rum. Gerlach hielt sich an einem unschuldigen Mineralwasser fest.<para160>

Henry machte ein Gesicht, als würde ihm jeden Moment übel.<para160>

„Was gibt's neues bei der Zeitung?“

Henry holte tief Luft. „Es ist unglaublich. Diese Firma, die härtet ab für's Leben, glaub’ mir, wer das aushält, hält alles aus. Diese Diesigkeit. Diese Wurstigkeit. Dumpf und dumm am Rande der Weltgeschichte herumhocken und darauf auch noch stolz sein. Geistige Verstopfung, die gilt hier noch als Vorzug.“<para160>

Sein Gesicht war rot angelaufen. Gerlach hatte ein schlechtes Gewissen. An einem Tag wie diesem stichelte man nicht herum.<para160>

„Komm“, sagte er, „so schlimm ist es doch auch wieder nicht.“

Henry beruhigte sich nur schwer. Er pumpte wie ein Maikäfer. „Zuscheißen“, rief er, „zuscheißen, das Ganze, unten Gülle und oben schwefelhaltige Braunkohle drauf, unter Steckrüben begraben, einen Zaun drumherumziehen, am besten eine hohe Mauer, damit endlich Frieden ist. Es gibt nur einen, einen einzigen Grund, warum Gott, der Gerechte diese Gegend hier nicht mit seinem Jüngsten Gericht überzieht ...“

„Da bin ich aber gespannt“, warf Gerlach ein.

Henry stieß die Luft wieder von sich. Er blickte sich um. Da war nur der Billardtisch. Fritz drehte an den Knöpfen der Musikanlage. Die ersten Stammgäste schlichen durch die Tür auf ihre Stammplätze. Henry drehte seinen Kopf zu Gerlach zurück. „Ich hab ihn vergessen“, sagte er voller Resignation.<para160>

Gerlach goß Henry den Rest eines Mineralwassers ins Teeglas. „Mach’ dir nichts daraus“, sagte er, „wir alle versuchen, die Welt zu verstehen. Was ist denn so Schreckliches passiert?“<para160>

Henry hatte sich wieder abgeregt. Seine Gesichtsfarbe wechselte ins Bleiche zurück. „Ich habe da was gehört“, sagte er. „Über den Verkojen. du wirst es nicht glauben.“

„Mal sehen“, sagte Gerlach, „ich bin ein leichtgläubiger Mensch.“

„Der Verkojen soll irgendwie mit der Eschenbacher in Verbindung gestanden haben.“

Gerlach überlegte, ob er sich eine Salzgurke bestellen sollte. „Das ist aber vornehm ausgedrückt. Schließlich hat er sie doch auf dem Gewissen.“

Henry war beleidigt. „So doch nicht. Er soll für sie dunkle Geschäfte abgewickelt haben. Offiziell als Chauffeur. Inoffiziell als Strohmann.“

„Vielleicht als Faktotum?“ erkundigte sich Gerlach.

„Als eine Art Vertrauter, heißt es.“ Henry stieß seine Teetasse von sich.

„Und was soll er für sie getan haben?“

„Angeblich hatte er die Finger im Diamantenhandel. Angeblich hat er im Ostblock eingekauft. Angeblich, angeblich.“

Gerlach wiegte den Kopf. „Man hält es nicht für möglich.“

„Und weißt du, was das schärfste ist?“

„Nein“, sagte Gerlach, „was ist denn das schärfste?“

„Daß Verkojen angeblich auch für unseren neuen Verleger tätig war.“

„Und wer ist das nun wieder?“

„Ein Senator Wolff. Seiner Familie gehört die Druckerei.“

Gerlach gab sich eine Ruck. „Fritz“, sagte er, „bring mir bitte eine Salzgurke und ein Bier.“

„Es ist alles sehr undurchsichtig“, klagte Henry, „für mich bitte dasselbe.“

„Du sagst es.“ Die Salzgurke kam und lag auf einem Papptellerchen. Gerlach biß hinein. Es spritzte.<para160>

„Du bist doch sonst immer so schlau“, stachelte Henry, „wie paßt denn das alles zusammen?“

Gerlach wischte mit einem Taschentuch die Gurkenspritzer vom Hemd. „Ich habe eine kleine, private Theorie. Verkojen hat bereits gestanden, daß er sie getötet hat. Vor Gericht wird er gar nichts mehr gestehen, außer, wie er heißt. Nach der Rechtssprechung riskiert er eine Verurteilung wegen Mord. Dann bekommt er lebenslang und ist nach zwölf Jahren wieder draußen. Er kann auch wegen Körperverletzung mit Todesfolge drankommen. Dann ist er nach sieben Jahren wieder draußen. Es wird eine Menge aufgeregter Beweisanträge geben. Das Gericht wird seine Hände in Unschuld waschen. Und am Ende wird viel Gras über die Geschichte wachsen. Gratuliere zu Deinem neuen Verleger. Es geht nichts über eine freie Heimatpresse.“

Henry starrte mißtrauisch aus seinen Seehundsaugen. „Wie meinst du das?“

„So, wie ich es sage. Was ist eigentlich aus der Frau von neulich geworden?“

Das Bier kam und war wie immer schlecht gezapft. Henry trank einen Schluck. Der Schaum blieb ihm im Schnauzbart hängen. „Sie will mit mir über Weihnachten nach Kuba.“

„Nach Kuba?“ staunte Gerlach.

„Nach Kuba. Ganz allein mit mir.“„Hast du etwa Angst?“

„Nein. Es ist nur so: Ich binde mich doch so ungern, und vielleicht faßt sie das alles falsch auf, und dann will ich ihr auch keine falschen Hoffnungen machen und so.“

„Henry, du bist ein Schißhase.“

„Schißhasen gibt es überall.“

„Wie wahr“, sagte Gerlach. „Aber immer noch besser als die Armleuchter.“

„Dabei fällt mir etwas ein“, sagte Henry, und zog ein schmales Heftchen aus der Manteltasche, „kennst du dieses Buch hier?“

Gerlach sah, daß es schwarz eingebunden war.

„Paß auf: Nichts liest sich so gut wie ein herrischer Tagesbefehl vom Führer ... Das ist hart, was?“

„Bist du bescheuert?“ wollte Gerlach wissen.

„Das ist Literatur, Mann. Große Literatur. Genial. Hier: Aus dem Weltraum werde ich durch Ströme kosmischer Strahlen bombardiert, Teilchen von hoher Energie, die ich in Kaskaden auf mich herunterkommen sehe, dringen in mich und vereinigen sich in mir mit den Atomen meines Körpers zu einem kosmischen Tanz usw.“

Gerlach trank einen Schluck Bier. „Ja. Ich verstehe. Die sind schon eine große Plage, die kosmischen Teilchen. Wo hast du das denn her?“

„Hat mir die Frau geschenkt. Die von neulich.“

„Und jetzt will sie mit dir nach Kuba?“

„Genau.“

Gerlach legte Henry eine Hand auf die Schulter. „Weißt du was, Alter? Laß es sein.“

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