Verdammte Grube

Wasser dringt in die Asse ein. Dabei galt der Salzstock lange Zeit als bombensicher. Ein fundamentaler Irrtum.

Von Jörg Albrecht

Einmal im Jahr lädt der Wittmarer Heimat- und Verkehrsverein zum Aufräumen ein. Vor Ostern traf man sich wieder mal zum traditionellen „Asseputz“. Der Landkreis stellte drei Container auf, um den Müll fortzuschaffen, den die Besucher im Naherholungsgebiet östlich von Wolfenbüttel hinterlassen hatten. Zum Abschluss der Aktion gab es eine kleine Stärkung.

Tief unten in der Asse plagten die Experten da schon ganz andere Müllprobleme. Hier lagern 47.000 Kubikmeter schwach- und mittelradioaktive Abfälle. Messwerte zeigten, dass auf der 658-Meter-Sohle des mehr als hundert Jahre alten Salzbergwerks etwas aus den Fugen geraten ist. Die Bundesgesellschaft für Endlagerung (BGE), zuständig für die Anlage, schickte Ende Januar 2024 ein Warnschreiben an die Aufsichts- und Genehmigungsbehörden. Betroffen sei der Abbau Nummer 3, die Achillesferse der Grube.

Schon seit Ende der Achtzigerjahre dringt an dieser Stelle Salzlauge in den Schacht. 12.000 Liter sind es pro Tag. Ungefähr so viel, wie in fünfzig Badewannen passen. Die Menge war über die Jahre hinweg nahezu konstant geblieben, auch die chemische Zusammensetzung änderte sich kaum. Man brachte eine Deponiefolie ein, in der sich der größte Teil der Flüssigkeit sammelte. Von Zeit zu Zeit wurde sie abgesaugt.

Das ging lange gut. Zunächst wurde die Brühe mit Restbeständen von losem Salz gemischt und zur Stabilisierung in die Kammern an der Südf lanke des alten Bergwerks gebracht. Doch loses Salz wurde rasch knapp auf der Asse. Noch mehr Hohlräume zu schaffen verbot sich von selbst. Das Gebirge war durch den jahrzehntelangen Abbau von Stein- und Kalisalzen so durchlöchert wie ein Schweizer Käse. Das Material für den Versatz musste neu beschafft werden.

Von 1995 an wurden insgesamt zwei MillionenTonnenRückstandssalzvonder Halde des ehemaligen Kalibergwerks Ronnenberg bei Hannover herangekarrt. Kosten: rund zweihundert Millionen Mark. Geld spielte zu diesem Zeitpunkt offenbar keine große Rolle.

Zehn Jahre später erreicht die Technik ihre Grenzen. Die meisten Abbaue waren zwar verfüllt, aber nicht vollständig. Das eingebrachte Material war zu porös. Es konnte den Gebirgsdruck auf die Schweben und Pfeiler der einsturzgefährdeten Kammern erst reduzieren, wenn es weiter zusammensackte. Doch wie sich die zusätzliche Last im Grubengebäude verteilen würde, ließ sich trotz komplizierter Berechnungen nicht vorhersagen. Seismische Messungen zeigten, dass es immer instabiler wurde. Langzeitprognosen wagte kaum noch jemand.

Vor diesem Hintergrund entwickelte die Gesellschaft für Strahlen- und Umweltforschung (GSF), damals noch Betreiberin der Anlage, ein Konzept zur Schließung der Asse. Das Einfachste schien, sie gezielt zu fluten. Ohne lange zu zögern, ging man an die Arbeit. In den sogenannten Tiefenaufschluss zwischen der 925- und der 750-Meter-Sohle wurde eine gesättigte Magnesiumchloridlauge eingeleitet. Dieses „Schutzfluid“ sollte im Ernstfall den Zutritt anderer Lösungen erschweren. Strömungsbarrieren aus Salzbeton wurden errichtet, um kritische Bereiche des Bergwerks abzuschotten. Das sei ein „unabdingbarer technischer Vorgang“, hieß es 2004 auf einer Informationsveranstaltung im Dorfgemeinschaftshaus von Remlingen. Nach zehn Jahren könne man voraussichtlich den Deckel draufmachen und das Gelände begrünen.

Als diese Pläne bekannt wurden und obendrein herauskam, dass sich vor den Kammern mit dem Atommüll ein radioaktiver Sumpf mit stark erhöhten Cäsium-137- Werten gebildet hatte, brach ein Sturm der Entrüstung los. Bundesumweltminister Sigmar Gabriel reiste mit großen Worten und ebenso großem Gefolge an. Der Gesellschaft für Strahlenforschung, die sich zwischenzeitlich in Forschungszentrum für Gesundheit und Umwelt umbenannt hatte, wurde die Lizenz entzogen.

Zeit verstrich, die Lauge sickerte weiter. Im Bergwerk war kein Platz mehr. Man musste sie loswerden. Denn es gab noch zwei andere Bereiche, die unbedingt vor dem Aufweichen geschützt werden müssen: die 750-Meter-Sohle, wo die größte Menge der radioaktiven Abfälle lagerte. Und der Kern aus Kalisalzen, auf den sich die Schachtanlage stützt.

In der Asse kommt Kalisalz in Form von Carnallit vor, ein stark wasserhaltiges Gemisch von Kaliumchlorid und Magnesiumchlorid, das bereits im Kontakt mit feuchter Luft zerfließt. Käme es mit der gesättigten Steinsalzlauge in Kontakt, die im Süden in das Bergwerk eindringt, würde es sich auflösen. Mit fatalen Folgen.

Das freilich wurde in der Blütezeit des angeblichen Versuchsendlagers gern ausgeklammert. Seit Millionen von Jahren sei der Salzstock der Asse knochentrocken, hieß es. Der radioaktive Abfall sei dort für alle Zeiten sicher. Das Deckgebirge aus Buntsandstein, Muschelkalk und Keuper würde eine perfekte Barriere bilden. Ein Kontakt zur Biosphäre oder zum Grundwasser sei so gut wie ausgeschlossen.

Der Glaube verfestigte sich zum Dogma. Salzformationen seien das allerbeste Endlagergestein überhaupt. Denn Salz habe die Eigenschaft, sich unter Druck plastisch zu verformen und Hohlräume ganz von allein zu schließen. Die Abfallfässer würden so noch fester eingeschlossen, Strahlung könnte nirgendwo mehr nach außen dringen. Ein ernst zu nehmender Störfall sei folglich rein hypothetischer Natur und mit „an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit“ auszuschließen.

Nichts davon hat gestimmt

Jeder Bergbauingenieur hätte wissen müssen, dass ein unverritzter Salzstock nicht verglichen werden kann mit einem Bergwerk, in dem sechzig Jahre lang herumgebohrt wurde. Auf der Grundfläche eines Fußballfeldes war so ein Hohlraum von mehr als drei Millionen Kubikmetern entstanden. Der Kölner Dom hätte neunmal hineingepasst Konzertsaalgroße Abbaukammern stapelten sich über 13 Etagen auf eine Höhe von mehr als vierhundert Metern. Dass dies kein Bau für die Ewigkeit war, lag auf der Hand.

Ein Blick in die Geschichte des Kalibergbaus hätte ebenfalls genügt, um die Schachtanlage Asse ein für alle Mal aus dem Kreis der Kandidaten für ein Atommüllendlager auszuschließen. 1851 war in Staßfurt in Sachsen-Anhalt zum ersten mal ein solches Vorkommen entdeckt worden. Als sich herausstellte, dass die ursprünglich unerwünschten „Bittersalze“ ein wertvoller Dünger waren, wurde ein Bergwerk aufgefahren. Doch bei der Gewinnung kämpften die Bergleute von Anfang an mit Laugenzuflüssen. Schon zur Jahrhundertwende mussten sie aufgeben. Die Grube soff ab. Der Berg fing qn, sich zu senken. Das Rathaus, die Schule, die Johanneskirche und weitere achthundert Häuser bekamen Risse, und mussten abgerissen. werden

Das schreckte andere Salzsucher nicht ab. Im Deutschen Reich wurde Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts eine Kaligrube nach der anderen eingeweiht. Und eine nach der anderen ereilte ein ähnliches Schicksal. 1906 traf es die Anlage Asse I Die benachbarte Bohrung Asse III lief voll, noch ehe die Förderung begonnen hatte. Nicht weit davon entfernt soffen der Kalischacht „Sascha“ bei Hedwigsburg und das Kalibergwerk „Hercynia“ bei Vienenburg ab. Knapp ein Drittel der 250 norddeutschen Salzbergwerke fanden so ein nasses Begräbnis.

In fast allen Fällen waren bergmännische Fehler die Ursache. Meist wurde in Unkenntnis der geologischen Verhältnisse, aber häufig auch mit vollem Risiko dicht bis an die wasserführende Schichten des Deckgebirges abgebaut. Auf Asse II geschah das gegen Ende der Salzgewinnung in den obersten südlichen Geschossen. Dadurch lockerte sich das Gestein. Die anstehende Salzlauge bahnte sich irgendwann zwischen fünf- bis sechshundert Metern Tiefe ihren Weg. Der genaue Zutrittsort ließ sich nicht lokalisieren.

Allein aus diesem Grund hätte niemals Atommüll in die Asse eingelagert werden dürfen. Denn Salzwasser und Atommüll vertragen sich nicht.

Inzwischen stellt sichdie Frage, ob der Zufluss auf Dauer beherrschbar bleibt. Bislang wird die Lösung von der Auffangstelle in ein Speicherbecken geleitet, überprüft und nach radiologischer Freigabe über Tage gepumpt. Einmal im Monat rollen Tanklaster an, um die Brühe zu entsorgen.

Ein paar Jahre lang wurde sie verwen- det, um das stillgelegte Salzbergwerk „Mariaglück“ im Landkreis Celle zu f luten. Aber dort und an anderen Stand- orten gab es Proteste. Die Anwohner ließen sich nicht davon überzeugen, dass die Lauge aus der Asse unbedenk- lich sei. Seitdem wird sie nach Auskunft der BGE an einen „zertifizierten Fach- betrieb aus der chemischen Industrie“ abgeführt. Über dessen Namen und den Verwendungszweck sei Stillschweigen vereinbart worden.

Solange sich Zuf luss und Entsorgung die Waage halten, gilt der Laugenzutritt in der Grube offiziell als „technisch beherrschbar“. Aber niemand kann garantieren, dass das so bleibt. Die Fachleute sind dennoch zuversichtlich, dass sie alle Flüssigkeit von der 658- bis zur 725- Meter-Sohle zu fassen bekommen. Sie wachen darüber wie Ärzte am Bett eines schwer kranken Patienten. Ist der Zustand stabil? Oder muss man sich Sorgen machen? Jede Gegenmaßnahme, jeder Eingriff will sorgfältig bedacht sein, denn das könnte die Gefahrenlage noch verschärfen.

Im Frühjahr 2024 gehen weitere Warnmeldungen von der Asse an das Landesamt für Bergbau, Energie und Geologie und das Bundesamt für die Sicherheit in der nuklearen Entsorgung. Die täglich aufgefangene Lösungsmenge auf der 658-Meter-Sohle geht stetig zurück. Warum, könne man derzeit nicht sagen. Im schlimmsten Fall würde das bedeuten, dass sich die Lauge andere Wege sucht, die sich nicht mehr kontrollieren lassen. Auf einen Schlag könnte die Zuflussrate dann steigen, bis hin zum gefürchteten Absaufen des Endlagers.

Experten der Abteilungen Bergwerksbetrieb, Notfallplanung, Geoinformation und Geowissenschaften prüfen verschiedene Optionen, um Kammer 3 zu sanieren. Sie ist kaum noch zugänglich. Über der Folie liegen Kies und Schotter, die nur vorsichtig entfernt werden können. Gesteinsbrocken könnten sich lösen – ein Risiko für die Bergleute und für die Auffangstelle selbst. Ein Zugang von unten wird geprüft, auch das ist technisch kompliziert.

Ehe eine entsprechende Genehmigung ins Auge gefasst werden könne, würde mindestens ein Jahr ins Land gehen, lässt das niedersächsische Umweltministerium verlauten. Wachsende Bedenken gibt es gleichwohl. Denn ein Großteil der Lösung tritt mittlerweile weiter unten auf der 725- Meter-Ebene aus.

Dichte und chemische Zusammensetzung haben sich verändert. Möglicherweise hat das Salzwasser Kontakt mit dem Carnallit aus dem Kaliflöz Staßfurt aufgenommen. Die BGE will nun prüfen, wie es dort aussieht. Ende Mai fuhr zum vorerst letzten Mal ein Trupp Journalisten in das Bergwerk ein. Der „Spiegel“ war sich anschließend sicher: „Die Asse säuft ab“. Das stimmt wohl. Unklar aber ist, ob es bis dahin zehn Jahre dauern wird. Oder kürzer oder länger. Das hängt davon ab, wie viel man in den Betrieb investiert.

Wer an einem normalen Werktag die Asse besucht, findet frühmorgens schon keinen Parkplatz mehr. Die BGE, gleichzeitig für die Endlagerstandorte Salzgit- ter-Konrad und Morsleben zuständig, beschäftigt inzwischen mehr als zweitausend Mitarbeiter. Ständig werden neue gesucht. Ein größeres Parkhaus ist geplant.

Und nicht nur das. Nach Paragraph 57 b des Atomgesetzes, auch „Lex Asse“ genannt, muss das gesamte radioaktive Inventar in Zukunft wieder aus dem einsturzgefährdeten Grubengebäude herausgeholt werden. Dazu muss unter anderem ein neuer Schacht abgeteuft werden, die im Salz eingepökelten und vermutlich verrotteten Fässer müssten unter strengen Sicherheitsmaßnahmen geborgen und neu verpackt werden, was die Abfallmenge vervielfachen würde. Über Tage müsste ein monumentales Zwischenlager gebaut werden. Wohin der ganze Kram am Ende kommt, steht in den Sternen.

Bis 2033 reicht der aktuelle Fahrplan allein für die Vorbereitung. Wenn alles perfekt läuft, soll die Rückholaktion 2050 abgeschlossen sein.

Bis dahin kann noch viel Lauge f ließen. Und der Heimatverein noch oft die Asse putzen.

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