Der stumme Schrei der Fische

Tiere soll man nicht quälen. Doch woran merkt man, ob sie leiden? Eine Annäherung an ein schwieriges Thema

Von Jörg Albrecht

Ein einziges Mal in meinem Leben habe ich einen Fisch gefangen. Es war in Norwegen, ich saß mit einer geliehenen Angel am Fjord, und da war es passiert: Ein Barsch hatte sich festgebissen, kaum größer als der Blinker, an dem er hing. Ihn vom Haken zu lösen gelang mir nicht, also habe ich ihn erschlagen. Mit der Kante meines Schuhs, was anderes hatte ich nicht dabei.

Im selben Urlaub habe ich ein Eichhörnchen überfahren. Im Rückspiegel sah ich noch, dass sich sein buschiger Schwanz wie irre drehte. Das war ein Unfall. Das andere war vorsätzlicher Mord.

Kann man das so sagen? Fische werden von Hochseetrawlern in Schleppnetzen gefangen, tonnenweise an Bord gehievt, viele von ihnen ersticken. Unter Deck läuft ein Fließband, an dem sie der Reihe nach aufgeschlitzt werden, von Betäubung ist keine Rede. In Aquakultur werden Lachse wie Schweine gemästet, aber weniger rücksichtsvoll geschlachtet; man legt sie auf Eis, damit sie weniger zappeln. Man kann das Töten von Fischen auch als Sport betreiben: Fünf Millionen Deutsche ziehen in ihrer Freizeit Karpfen, Brassen, Forellen an Land, kein Gesetz verbietet das. Die Fische selbst geben keinen Laut, sie quieken nicht wie Ferkel beim Kastrieren. Ihr Gesichtsausdruck sagt uns ohnehin nichts.

Angler und Fischereifachleute sind sich einig: Fische kennen keinen Schmerz. Sie merken es kaum, wenn sich ein spitzer Gegenstand in ihren Schlund bohrt, und wenn doch, dann haben sie es drei Sekunden später vergessen. Wenn Fische an der Angel kämpfen, dann aus bloßem Instinkt, nicht anders als der Köder, der sich am Haken windet. Fische sind Kaltblüter, stehengeblieben auf einer niederen Entwicklungsstufe. Wo kein Bewusstsein ist, da gibt es keine Folter. Denn Folter wäre es, wenn man einen Menschen, einen Affen, eine Katze oder einen Hund am Gaumen aufspießen und wie beim "water boarding" unter Wasser ziehen würde, wo er qualvoll ersticken müsste.

"No brain, no pain." Nehmen wir an, das stimmt. Wo liegt dann die Grenze des Zumutbaren? Über das Schicksal von Amöben machen wir uns keine Gedanken, auch nicht über das Wohlergehen simpler Mehrzeller wie den Schwämmen. Aber als der Schauspieler Til Schweiger einmal eine Qualle im Mixer zerhäckselte, kam das schlecht bei seinen Fans an.

Quallen besitzen zwar rudimentäre Sinneszellen und ein diffuses neuronales Netz. Aber Leidensfähigkeit attestieren wir den Nesseltieren normalerweise nicht. Plattwürmer verfügen bereits über Nervenstränge und empfindliche Sinnesorgane, doch niemand bekommt Gewissensbisse, wenn er einen Bandwurm vergiftet. Anders sieht das schon bei den Mollusken aus; wer schneidet gern eine Schnecke entzwei, selbst wenn sie noch so viel am Salat nagt? Eine Mücke dagegen zerquetschen wir ohne Reue, obwohl sie zum Stamm der Arthropoden gehört, die erstaunliche Leistungen vollbringen.

Hummer beispielsweise, vom Unterstamm der Krebstiere, wachsen ein Leben lang, wobei sie ihren Panzer immer wieder erneuern. Vor der Küste Yorkshires hat man Exemplare gefangen, deren Alter auf siebzig Jahre geschätzt wurde. Mit ihren Sinneshärchen spüren sie taktile Reize ebenso gut, als wenn sie eine dünne Haut besäßen. Sie registrieren Unterschiede in der Wassertemperatur von einem oder zwei Grad Celsius und richten danach ihre Wanderungen am Meeresgrund aus. Man könnte Hummer als sensibel betrachten. Wenn da nicht die Sache mit dem Kochtopf wäre.

Der Schriftsteller David Foster Wallace wurde einmal von der Redaktion eines Feinschmeckermagazins beauftragt, seine Eindrücke von einem Hummerfestival zu schildern, das alljährlich an der Küste von Maine stattfindet. Dort landen an einem einzigen Wochenende an die 25 000 Pfund frisch gefangener Lobster im größten Hummerkochtopf der Welt. Wallace begann, sich Gedanken zu machen. Ist es in Ordnung, so fragte er die Leser, ein mit Sinnen ausgestattetes Wesen lebendig zu kochen, nur um bestimmte kulinarische Vorlieben zu befriedigen? Ist die Frage überhaupt angebracht? Und was heißt in diesem Zusammenhang "in Ordnung"?

Volkes Meinung lieferte der Taxifahrer: "Dem Hummer fehlt einfach ein Gehirn, wie wir es haben." Womit er nicht ganz falsch lag: Hummer besitzen kein zentralisiertes Denkorgan, sondern eine Art neuronale Strickleiter, die sich zu mehreren Nervenknoten, den Ganglien, bündelt. Das ist ein gemeinsames Merkmal aller Gliederfüßer, zu denen neben den Krebsen so unterschiedliche Organismen wie Insekten, Spinnen und Skorpione zählen. Gemeinsam stellen sie rund achtzig Prozent aller heute existierenden Tierarten. Keine von ihnen wäre nach dieser Definition imstande, Qualen zu empfinden. Als Beweis dient Zoologen alter Schule unter anderen die Gottesanbeterin, die ihren Partner lebendig verschlingt, während der noch seelenruhig weiter kopuliert.

Allerdings ist es nicht so, dass der Hummer es nicht merkt, wenn er in kochendes Wasser getaucht wird. So apathisch er nach langem Transport auch sein mag - in diesem Moment erwacht er zu ungeahntem Leben. Ein ungeübter Koch hat Schwierigkeiten, ihn überhaupt in den Kochtopf zu bekommen. In der Praxis verhindert nur ein schwerer Deckel, dass er wieder herausklettert. Erfahrungsgemäß dauert es eine halbe Minute, bis das Kratzen und Rumoren aufhört. Eine vermeintlich humanere Methode besteht darin, dem Hummer ein scharfes Messer zwischen die Stielaugen zu rammen; aus biologischer Sicht ist das wenig hilfreich, denn er besitzt ja nicht nur ein Ganglion, sondern insgesamt fünf davon.

In Deutschland ist zur Tötung eines Hummers nur die Kochmethode erlaubt, und zwar mit dem Kopf voran. Profiköche in aller Welt schneiden ihn vorher in Stücke und garen nur Scheren und Schwanz. Französische Hausfrauen schwören, dass ein Hummer saftiger bleibt, wenn man ihn mit kaltem Wasser aufsetzt und langsam zum Sieden bringt. Dass er sich dann friedlicher verhält, wie der Frosch, der angeblich erst zu spät bemerkt, wie man ihm einheizt, ist auch nur eine Legende. Tröstlich immerhin zu wissen: Das schrille Pfeifen, das beim Hummerkochen manchmal aus dem Kochtopf dringt, ist nicht sein Todesschrei, wie Hummerfreunde glauben, sondern rührt von dem Salzwasser her, das in seiner Karkasse eingelagert ist und in kleinen Dampfexplosionen austritt.

David Foster Wallace war zunehmend irritiert, als er über diese Dinge nachdachte. Hummer besitzen zwar kein Gehirn, aber immerhin Nozizeptoren. Das sind freie Nervenendigungen, die dafür sorgen, dass ein Organismus spürt, wenn sein Gewebe mechanisch, thermisch, chemisch oder sonstwie geschädigt wird (daher auch der Name, der sich vom lateinischen Verb "nocere", schaden, ableitet). Nozizeptoren sind im Tierreich weit verbreitet. Auch beim Menschen finden sie sich überall, außer im Gehirn und in der Leber, was zum Teil erklärt, warum diese Organe keinen Schmerzreiz senden.

Wird ein Nozizeptor erregt, setzt das Botenstoffe frei, die das Signal weiterleiten. Dabei handelt es sich zunächst nur um einen Reflex, der beim Menschen über das Rückenmark ans Stammhirn vermittelt wird und beispielsweise dazu führt, dass wir die Hand blitzartig zurückziehen, wenn wir eine glühende Herdplatte anfassen.

So ähnlich, heißt es, funktioniert das bei den allermeisten Tieren. Aber können wir uns da sicher sein?

Am ganzen Leib verbrüht zu werden wäre für Menschen unerträglich. Der Schock würde eine Notreaktion auslösen. Körpereigene Morphine blockieren bei extremen Verletzungen die Weiterleitung des Schmerzreizes ans Gehirn. Hummer besitzen diesen Schutzmechanismus nicht.

Daraus könnte man theoretisch ableiten, dass sie unsagbar leiden. Wahrscheinlicher - und im Sinne einer höheren Gerechtigkeit auch zu hoffen - ist, dass sie den Schmerz zwar registrieren, aber damit keine Emotionen verbinden.

Die unbewusste "Nozizeption" eines Schmerzes unterscheidet man auf herkömmliche Weise von der "Perzeption", also der gezielten Wahrnehmung. Beim Menschen spielt sich letzteres im Neocortex ab, dem - entwicklungsgeschichtlich gesehen - jüngsten Teil der Großhirnrinde. Aber anatomisch exakt lässt sich das Erleben von Schmerz nicht einkreisen. Es sind, wie immer bei der Verarbeitung von Sinnesreizen, auch andere Hirnregionen beteiligt. Hirnforscher sprechen heute von einer "Schmerzmatrix", die sich individuell ausbildet. Das würde immerhin erklären, warum manche Menschen bei gleichem Input starke Schmerzen empfinden, andere nur schwache und manche gar keine.

Der Mensch ist ein Wirbeltier, der Hummer ein Arthropode. Anatomisch liegen Welten dazwischen. Beide Organismengruppen sind unabhängig voneinander vor rund fünfhundert Millionen Jahren im Kambrium entstanden. Der Bauplan der Gliederfüßer ist von unserem so verschieden, dass sie genauso gut von einem anderen Planeten stammen könnten. In der Science-Fiction-Komödie "Men in Black" gelangt aus den Tiefen des Universums eine besonders bösartige Riesenkakerlake zur Erde. Der Regisseur wird gewusst haben, warum er eine Schabe nahm und keinen Frosch.

Für die Rechte von Kakerlaken geht niemand auf die Straße. Man kann an ihnen Tierversuche durchführen, ohne dass die Ethikkommission vor der Tür steht. Eine Übung für angehende Physiologen besteht darin, das Insekt mit Stecknadeln zu fixieren. Kopf und Beine werden abgetrennt, sämtliche Eingeweide entfernt, mit Ausnahme des Herzens, das zu guter Letzt mit Salzlösung, Nikotin und anderen Substanzen traktiert wird, bis es aufhört zu schlagen. Viel bleibt danach von der Kakerlake nicht übrig. Aber das, was übrig bleibt, versucht anschließend, ähnlich wie der Hummer im Kochtopf, hektisch davonzukrabbeln. Der isolierte Kopf der Schabe reagiert noch am nächsten Tag auf äußere Reize.

"Kakerlaken sind einfach nicht wie wir", sagt die amerikanische Entomologin May Berenbaum, die an der University of Illinois in Urbana-Champaign jahrelang einen Kurs zum Thema "Insects and People" veranstaltet hat. Dasselbe kann man von Hummern behaupten. Und von Moostierchen, Kratzwürmern, Bauchhärlingen oder allen sonstigen Tierstämmen, die ohne einen Stützapparat im Rücken und einen zentralen Nervenstrang auskommen. Das sind 96 Prozent aller heute lebenden Arten. Nur vier Prozent gehören zum Unterstamm der Wirbeltiere. Von denen sind wiederum die Hälfte Fische.

Unsere "schuppigen Freunde", wie sie von Anglern gern genannt werden, sind ziemlich enge Verwandte. Empfinden sie vielleicht nicht doch so ähnlich wie wir?

Fische leben im Wasser. Sie nehmen die Welt auf andere Weise wahr. Aber sie nehmen sie außerordentlich präzise wahr. Der australische Verhaltensforscher Culum Brown hat in einem Aufsatz zusammengefasst, zu welchen kognitiven Leistungen Fische imstande sind. Die meisten von denen, die im Flachwasser leben, sehen farbig. Der Goldfisch zum Beispiel unterscheidet Violett von Blau, Grün und Orange. Von Guppies, Buntbarschen und Stichlingen weiß man, dass sie ultraviolette Strahlung erkennen. Riffbarsche und andere Spezies orientieren sich außerdem an polarisiertem Licht. Fische sind generell weitsichtig, ihre Sehschärfe ist nicht schlechter als die des Menschen.

Auch chemosensorisch sind sie uns nicht unterlegen. Geschmacksknospen tragen Fische nicht nur im Mund, sondern darüber hinaus auf den Lippen, den Barteln oder den Flossen, manchmal sind sie über den gesamten Körper verteilt. Welse, die am Boden gründeln, können ihre Nahrung aus fünf Metern Entfernung schmecken. Der Geruchssinn von Haien ist so hoch entwickelt, dass sie bestimmte Substanzen noch in milliardenfacher Verdünnung wahrnehmen. Aale und Lachse prägen sich den Geruch ihrer Heimatgewässers ein und finden über große Entfernungen und Jahre später zurück. Der Geschmack dient auch zur Verständigung untereinander: Zwei Drittel aller Süßwasserfische sind imstande, Alarmstoffe freizusetzen, mit denen sie sich gegenseitig vor Gefahren warnen.

Fische sind, anders als das Sprichwort sagt, keineswegs stumm. Fische erzeugen Töne, indem sie mit den Zähnen knirschen. Oder indem sie verschluckte Luft durch die Analöffnung ausstoßen. Die Schwimmblase dient als Resonanzraum. Taucher wissen, dass es unter Wasser nur so klickt und grunzt und knurrt. Die Fische selbst nehmen die Geräusche über das Innenohr, hauptsächlich aber durch ihr empfindliches Seitenlinienorgan wahr. Dabei handelt es sich um Poren, die mit Haarsinneszellen bestückt sind und feinste Strömungen und Schwingungen erfassen. Manche Fische setzen ihr Seitenlinienorgan auch ein, um sich an elektrischen oder geomagnetischen Feldern zu orientieren.

Fische besitzen demnach ein ganzes Repertoire an Sinnen, die nicht weniger oder sogar mehr Informationen liefern, als Landwirbeltieren zur Verfügung stehen. So stellt sich bloß noch die Frage: Was fangen sie damit an?

Ihr gleichgültiger Blick verrät nichts. Doch jüngere Untersuchungen haben gezeigt, dass sie sehr wohl differenzieren, was sie sehen. Elritzen betrachten mit dem linken Auge vorzugsweise Individuen, die ihnen vertraut sind, während sie das rechte Auge auf mögliche Feinde richten. Regenbogenfische entscheiden sich auf ähnliche Weise für die Position, die sie im Schwarm einnehmen. Emotionen spielen in ihrem Leben offenbar eine Rolle.

Uns ist das ziemlich egal. Davon erzählt das bekannte Lied von der Forelle: In froher Eile zieht sie vorbei, der Fischer sieht es mit kaltem Blut. Angler erzählen viel und gern von der Raffinesse, die nötig sei, einen Fisch an den Haken zu locken. Doch wenn er angebissen hat, gestehen sie ihm höchstens noch die Gefühle eines Regenwurms zu. Würde er Schmerzen im Maul spüren, würde er nicht so energisch an der Leine ziehen, sagen sie; ein wütender Bulle, den man am Nasenring packt, würde schließlich auch im Handumdrehen zahm. Mit dem Fischgedächtnis sei es ebenfalls nicht weit her, was man allein schon daran sehen könne, dass die Beute, die ein Angler vorschriftsgemäß zurücksetzen muss, wenn sie noch nicht das vorgeschriebene Maß erreicht hat, am nächsten Tag sofort wieder da sei.

Untersuchungen haben freilich gezeigt, dass Hechte, die häufiger als einmal am Haken hingen, mindestens ein Jahr lang einen großen Bogen um die Stelle machten, an der es sie erwischt hatte. Es gibt andere Beispiele. Regenbogenfischen kann man beibringen, durch das Loch in einem Netz zu schlüpfen, mit dem man sie fangen will. Daran erinnern sie sich auch zwölf Monate später noch - bemerkenswert für ein Lebewesen, das gerade mal zwei Jahre alt wird.

Man braucht nicht einmal wissenschaftliche Expertise, um an ein Langzeitgedächtnis von Fischen zu glauben. Jeder Aquarianer weiß, dass er seine Lieblinge auf klassische Weise konditionieren kann, wenn er jedes Mal an die Scheibe klopft, bevor er das Futter serviert. Im Experiment hat man Zahnkarpfen und Hechtlinge dazu gebracht, sich ganz von selbst um eine bestimmte Uhrzeit morgens an der einen und abends an der anderen Seite des Aquariums zu versammeln. Das zu lernen dauerte nur zwei Wochen. Laborratten brauchen bei ähnlichen Versuchen länger.

Hartgesottene Behavioristen würden darin freilich immer noch nicht mehr als einen Pawlowschen Reflex sehen. Als Lackmustest für höhere Intelligenz unter Wirbeltieren gilt mittlerweile soziales Lernen. Auch hier hat sich viel getan in der Fischforschung. Wenn man Lachsen, die in Fischfarmen gehalten werden, eine neue Sorte Futter vorsetzt, nehmen sie das häufig nicht an. In Gemeinschaft mit Lachsen, die das schon kennen, fressen sie es willig. Guppies, die trainiert werden, bestimmte Wege zu einem Futterplatz zu schwimmen, übertragen dieses Verhalten auf untrainierte Exemplare. Guppies können ohne Schwierigkeiten bis zu fünfzehn befreundete Artgenossen erkennen. Siamesische Kampffische, die sich ausgeprägte Hierarchiekämpfe liefern, erkennen ihre soziale Stellung daneben auch durch bloße Beobachtung.

Putzerfische haben das soziale Verhalten im Fischreich auf die Spitze getrieben. Sie bedienen eine Reihe von Kunden, die vorbeikommen, um sich von ihnen die Schuppen reinigen zu lassen. Dabei putzen sie erst einmal die, die auf der Durchreise sind, weil die lokale Klientel ja ohnehin geduldig wartet. Gelegentlich betrügen die Putzerfische, indem sie ihrer Kundschaft ganze Hautstücke herauszwicken und verschlingen. Das gestatten sie sich aber nur bei Fremdlingen und niemals bei Fischen, die potentielle Fressfeinde sind.

Als ultimativer Beweis für Intelligenz im Tierreich gilt der Gebrauch von Werkzeugen. Selbst da sind Fische ganz vorn mit dabei. Mindestens neuntausend Arten bauen Nester aus Luftblasen, Schleim oder anderem Material. Ein Karpfenfisch, der in nordamerikanischen Seen lebt, sammelt zu diesem Zweck an die dreihundert möglichst ähnliche Kieselsteine und türmt sie zu einem Hügel auf, unter dem er Schutz findet. Kieferfische, auch Brunnenbauer genannt, leben in Höhlen, deren Wände sie mit Steinen, Korallenstückchen oder Muschelschalen pflastern, die wie Puzzlesteine aneinanderpassen müssen. Lippfische benutzen Steine, um die Schalen von Seeigeln zu knacken. Manche Buntbarsche heften ihre Brutnester an Blätter, die sie bei Gefahr mit dem Maul forttragen.

Rein anatomisch sind Fische bei alledem im Nachteil gegenüber Wirbeltieren, die Beine, Arme und Finger besitzen. Umso erstaunlicher ist das Geschick, das manche von ihnen entwickeln. Schützenfische beherrschen perfekt die Methode, Insekten mit einem Wasserstrahl abzuschießen. Forscher der Universität Bayreuth haben die Technik jetzt genauer studiert. Die Fische müssen dazu ein ähnliches Timing entwickeln wie ein Mensch, der einen präzisen Wurf plant. Nicht wenige Anthropologen glauben, dass es gerade die Erfindung der Wurftechnik war, die zu einer enormen Weiterentwicklung des menschlichen Gehirns geführt hat.

Der anthropozentrische Blick des Menschen führt leicht in die Irre, obwohl ihm seit Darwin immer wieder versichert wurde, dass er nicht die Krone der Schöpfung sei. Er stammt zwar nicht in direkter Linie vom Affen ab. Doch dass ein Fisch zu seinen Vorfahren zählt, ist unbestritten.

Man kann daraus nur nicht den Schluss ziehen, dass die Fische seitdem auf der Leiter der Evolution steckengeblieben sind. Sie haben sich zu Haien und Rochen, zu Fleisch- und Strahlenflossern und allen möglichen Spezialisten weiterentwickelt. Parallel dazu fand der Aufstieg der Säugetiere statt. Doch selbst den allermeisten Säugetieren verweigern wir instinktiv ein Bewusstsein. Und damit auch die wahre Leidensfähigkeit.

Setzt man für das Vorhandensein echter Qual tatsächlich einen hochentwickelten Neocortex voraus, könnten wir bewusstes Leiden allenfalls noch den Menschenaffen zubilligen. Und nicht einmal die können wir befragen. So dass wir am Ende allein mit unserem Schmerz bleiben.

Die normative Rechtsprechung sieht das inzwischen anders. Anfang des 19. Jahrhunderts wurde in Großbritannien ein "Cruelty to Cattle Act" verabschiedet, der unnötige Grausamkeit gegenüber Kühen und Schafen unter Strafe stellte. Seitdem ist der gesetzliche Tierschutz in aller Welt nach und nach auf andere Arten ausgedehnt worden. In Deutschland ist es heute verboten, einem Wirbeltier "vermeidbare" Schäden zuzufügen. Auch Kopffüßer wie der Tintenfisch, die eine grundsätzlich andere Art von Intelligenz zeigen, dürfen nicht ohne weiteres im Dienste der Wissenschaft geopfert werden.

Der Schriftsteller David Foster Wallace kam am Ende seiner Betrachtung über den Hummer sowie nach Abwägung aller neurophysiologischen Pro- und Kontra- Argumente zu der Überzeugung, es sei am besten, auf das eigene Gewissen zu hören. Ihm reichte die Beobachtung, dass ein Hummer klare Präferenzen zeigt, indem er helles Licht scheut und als Einzelgänger nicht auf engem Raum mit seinen Artgenossen zusammengesperrt werden möchte.

Reicht das? Kann man dem Hummer ein authentisches "Hummer-Interesse" unterstellen? Der Australier Peter Singer, der zu den Kronzeugen der Tierrechtsbewegung gehört, hat dazu eindeutig unterschieden: Ein Stein, der durch die Gegend gekickt wird, leidet nicht, weil er keine Interessen besitzt. Eine Maus schon.

Wirft man eine Maus in einen Behälter, der mit Wasser gefüllt ist, wird sie versuchen, sich schwimmend zu retten. Wiederholt man den Versuch vierundzwanzig Stunden später, wird sie weniger Enthusiasmus an den Tag legen, weil sie gelernt hat, dass es aussichtslos ist. Der "Forced Swimming Test" ist Standard bei der Erprobung von Antidepressiva. Aber kann man wirklich sagen, dass die Maus depressiv geworden ist? Wie können wir wissen, was in ihrem Kopf vor sich geht?

Hier wird es endgültig philosophisch. Der Amerikaner Thomas Nagel hat vor vierzig Jahren einen vielzitierten Aufsatz veröffentlicht, unter dem Titel "Wie fühlt es sich an, eine Fledermaus zu sein?". Auf welche Weise sich Fledermäuse orientieren, ist bestens erforscht. Des Nachts jagen sie ihre Beute per Ultraschall, tagsüber hängen sie kopfüber im Schlaf. Wir können die neuromotorischen Besonderheiten der Fledermaus in allen Details erklären. Doch wie sie die Welt erlebt, ist für uns nicht nachvollziehbar. Thomas Nagel hat daraus gefolgert, subjektive Empfindungen (in der Philosophie "Qualia" genannt) könnten gar nicht objektiv erfasst werden, auch nicht mit den fortgeschrittensten Methoden der Naturwissenschaften.

Für den Schmerz trifft das weitgehend zu. Er wird immer nur subjektiv empfunden. Objektiv messen lassen sich höchstens Erregungspotentiale an den Synapsen. Wenn ein menschlicher Patient seine Schmerzen schildern soll, dann kann er sie zum Beispiel als quälend, marternd, lähmend, schrecklich oder unerträglich beschreiben. Auf einer numerischen Skala kann er sie von eins bis zehn einordnen. Für Kinder wurde eigens eine Smiley-Skala entwickelt, die lächelnde, neutrale und weinende Gesichter zeigt. Aber das sind eben nur indirekte Methoden, den emotionalen Schmerz zu erkunden.

Im Umgang mit Tieren sind wir mangels sprachlicher Verständigung auf unser Mitgefühl angewiesen. Aber Empathie stößt an Grenzen. Der Friedensnobelpreisträger Albert Schweitzer war berühmt dafür, mit jeder Kreatur zu leiden. Aber auch er kam nicht an der Tatsache vorbei, dass er zum Verfolger der Maus wurde, die in seinem Haus wohnt, "zum Mörder des Insekts, das darin nisten will, zum Massenmörder der Bakterien, die mein Leben gefährden".

In Deutschlands Schlachthöfen dürfen Tiere nur unter Betäubung getötet werden. Muslime sehen das traditionell anders. Aber auch der Koran schreibt vor, dem Tier so viel Leid wie möglich zu ersparen. Das Lamm soll arglos sein, der Schlachter sein Messer verbergen. Er soll es beruhigen, in den Arm nehmen, ihm zu trinken geben - um ihm dann mit einem einzigen Schnitt blitzschnell die Kehle durchzutrennen. Ein Kompromiss, der hierzulande gefunden wurde, sieht vor, ihm vorsorglich einen Stromstoß zu verpassen.

In einem Urlaub auf Santorin erlebte ich mal, wie der Nachbar ein Maultier mit Steinplatten belud, eine nach der anderen, bis dem Tier die Hinterbeine einknickten. Ich sah den Mann vorwurfsvoll an. "Die sind stark, diese Mulis", sagte er und spannte seinen Bizeps: "Stark sind die!" Das Maultier rappelte sich auf und blickte ergeben. Jedenfalls sah es für mich so aus.

Schreien Hummer stumm? Empfinden Fische tödliche Qualen? Wie groß ist das Elend der Schlachthöfe?

Wahrscheinlich sind das Fragen, auf die es prinzipiell keine Antwort gibt. Weil wir nun mal nicht wissen können, wie es ist, ein Hummer, ein Fisch oder ein Lamm zu sein. Aber gerade das sind Fragen, über die sich das Nachdenken lohnt.